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"Den riesenhaften Kuchen handgerecht zerlegen"

Geschichte. Am 16. Juli 1941 fand die große Kriegszielkonferenz der Naziführung zur Beherrschung und Ausbeutung der Sowjetunion statt

Von Martin Seckendorf *

Der deutsche faschistische Imperialismus fiel am 22. Juni 1941 ohne Kriegserklärung und angesichts eines seit 1939 bestehenden Nichtangriffsvertrages wortbrüchig über die Sowjetunion her. Damit war der entscheidende Kampf für den Ausgang des Zweiten Weltkrieges eröffnet. An der riesigen Front zwischen Eismeer und Schwarzem Meer entbrannten in den Folgejahren die größten und blutigsten Schlachten des Krieges, entschied sich das Schicksal vieler Völker.

Die Naziführung maß dem Krieg in der Sowjetunion ebenfalls diese Bedeutung bei. Hitler betonte am 3. Februar 1941 in einem Gespräch mit der Generalität, wenn der Überfall beginne, werde »die Welt den Atem anhalten«. Die in Berlin erscheinende Zeitschrift für Politik bewertete im Dezember 1941 rückblickend den Entschluß zum Überfall auf die Sowjetunion als die »Zentralentscheidung« des gesamten Krieges.

Imperialistischer Eroberungskrieg

Mit dem Überfall begannen die deutschen Faschisten einen gewaltigen Raub- und Eroberungskrieg. Auf dem Boden der unterworfenen Sowjetunion wollte man bis zum Ural und Mittelasien ein riesiges »Ostimperium« errichten. Diese deutsche Kolonie sollte Lebensmittel, Rohstoffe und billige Arbeitskräfte liefern; alle Fertigwarenindustrie, die deutschen Konzernen hätte Konkurrenz machen können, war zu vernichten. Die volkswirtschaftliche Grundstruktur des agrarisch geprägten vorrevolutionären Rußland der Jahre 1900/1902 wollte man wiederherstellen.

Im internen Kreis wurde immer wieder der Raubcharakter des geplanten Krieges betont. Der zu erobernde »russische Riesenraum«, äußerte Hitler am 9. Januar 1941 vor der Wehrmachtsführung, berge »unermeßliche Reichtümer«.

Große Teile der unterworfenen UdSSR waren für »die Ansiedlung einer mengenmäßig bedeutenden deutschen Bevölkerung« vorgesehen, wie der designierte Reichsminister für die zu besetzenden sowjetischen Gebiete, Alfred Rosenberg, am 2. April 1941 schrieb. Das Gebiet sollte politisch und »rassisch« gesäubert und bevölkerungspolitisch und wirtschaftlich neu »geordnet« werden. Ausgangspunkt der »Neuordnung« sollte eine drastische Dezimierung der Bevölkerung sein, um »unnütze Esser« zu beseitigen, damit mehr Lebensmittel nach Deutschland gebracht werden konnten, und um »menschenverdünnte Zonen« für die »germanische« Besiedlung zu erhalten (siehe jW-Thema vom 20.4.2011).

Die deutsche Führung rechnete damit, daß diese Kriegsziele auch nach einem Sieg über die Rote Armee zwangsläufig zu Unruhen führen würden. Man nahm an, daß die sowjetischen Kommunisten den Widerstand gegen die Okkupanten initiieren und organisieren würden. Im Februar 1941 sagte Hitler zu Göring, zur Befriedung des besetzten Gebietes und zur Gewährleistung einer maximalen Ausnutzung müsse man den Kommunismus durch Beseitigung aller politischen Führer »ausrotten«. Reichspropagandaminister Joseph Goebbels notierte daraufhin in seinem Tagebuch: »Wogegen wir unser ganzes Leben gekämpft haben, das vernichten wir jetzt.«

Angesichts der Ziele und besonders wegen des Gegners, des »jüdischen Bolschewismus«, wie die gängige Feind- und auch übergreifende Tötungsformel lautete, wies die deutsche Führung darauf hin, daß die kommende Aggression kein Feldzug wie die vorangegangenen werde. Zur Erreichung der Ziele und zur Sicherung der Beute müßten in großem Umfang völkerrechtswidrige Mittel angewandt werden. In der Richtlinie des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW) vom 13. März 1941 zum Überfall auf die Sowjetunion heißt es, der besondere Charakter des kommenden Krieges ergebe »sich aus dem endgültig auszutragenden Kampf zweier entgegengesetzter politischer Systeme« (siehe jW-Thema vom 12.3.2011). Darunter verstanden die Nazis einmal, daß ihnen mit der Sowjetunion ein neuartiger Feind gegenüber stand. Die UdSSR müsse vernichtet werden, weil sie als staatliche Basis der kommunistischen Weltbewegung und eines zum Kapitalismus alternativen Gesellschaftsmodells galt, das wegen seiner internationalen Ausstrahlung als latente Gefahr für alle imperialistischen Regime empfunden wurde. Zum anderen war man der Meinung, daß die Zerschlagung des sozialistischen Staates nur gelänge, wenn man auch alle menschlichen »Träger des Systems«, die als konsequente Gegner der nazistischen Eroberungs- und Versklavungspolitik gefürchtet wurden, physisch vernichtet. Zu den »system-« oder »staatsnahen« Menschen zählten alle Kommunisten, die Angestellten des sowjetischen Staates vom Minister bis zur Kindergärtnerin, Angehörige der Intelligenz und leitendes Wirtschaftspersonal sowie alle Juden. Das Judentum galt als biologische Grundlage des Bolschewismus. Jeder Jude sei potentieller »Träger der feindlichen Einstellung«. Die Sowjetfunktionäre galten als vom Judentum gefördert und ihrerseits die Juden begünstigend.

Die Eroberung der Sowjetunion war zwar der zentrale Punkt in den deutschen Kriegszielen, sie wurde aber unter gesamteuropäischen und globalstrategischen Aspekten gesehen. Erst die Vernichtung der UdSSR und die Verfügungsgewalt über deren Lebensmittel- und Rohstoffressourcen würden dem Nazireich die Herrschaft über den Kontinent garantieren und es »blockadesicher« machen. Nach einem Sieg im Osten wäre Deutschland in der Lage, den Kampf gegen »andere Weltreiche« erfolgreich zu führen. Auch Großbritannien, das bisher allen Drohungen und Lockungen widerstand und mit Unterstützung der USA weiterkämpfen wollte, müßte sich dann zwangsläufig dem deutschen Imperialismus unterwerfen. Schon vor dem Krieg hatte Hitler gegenüber dem Danziger Senatspräsidenten Hermann Rauschning erklärt, ein Sieg über die Sowjetunion würde »die Pforte zur dauernden Herrschaft über die Welt aufstoßen«.

Blitzkriegsdoktrin

Für den seit Ende Juni 1940 vorbereiteten Überfall auf die Sowjetunion hatte Deutschland die größte Streitmacht der Weltgeschichte aufgeboten. Die Wehrmacht setzte mehr als drei Millionen Soldaten, 600000 Kraftfahrzeuge, etwa 3600 Panzer und 620000 Pferde ein. Außerdem standen 3900 Flugzeuge zur Verfügung. Als spezielle »Blitzkriegswaffe« galten die 19 der 20 vorhandenen Panzerdivisionen und alle 14 motorisierten Divisionen. Die Panzerdivisionen waren zu erheblichen Teilen mit den modernen Modellen »Panzer 38« sowie III und IV ausgestattet. Dem erstmaligen Einsatz großer Panzerverbände als eigenständiger Waffe wurde der unerwartet rasche Sieg der Wehrmacht im Juni 1940 über Frankreich zugeschrieben (siehe jW-Thema von 7.6.2010). Diese »Wunderwaffe« sollte auch die schnelle Kriegsentscheidung gegen die Rote Armee erzwingen. Ihre Aufgabe war es, die sowjetischen Linien zu durchbrechen, zu weiträumigen Zangenbewegungen anzusetzen und die sowjetische Armee, deren Hauptbestandteile man westlich der Dwina-Dnjepr-Linie vermutete, in riesigen Kesseln einzuschließen und zu vernichten (siehe jW-Thema, 18.12.2010).

Den deutschen Verbänden folgten starke finnische, slowakische, ungarische und rumänische Militärkontingente im Umfang von mehr als 600000 Soldaten.

Die Hauptkräfte der Wehrmacht waren in drei strategische Großverbände, Heeresgruppen genannt, gegliedert. Die Heeresgruppe Nord sollte von Ostpreußen aus über die baltischen Sowjetrepubliken gegen Leningrad vorgehen. Der stärkste Verband, die Heeresgruppe Mitte, hatte den Auftrag, in Richtung Minsk-Smolensk mit dem Endziel Moskau anzugreifen. Gegen die Ukraine mit den Etappenzielen Kiew und Rostow am Don, dem Tor zu den kaukasischen Ölgebieten, wurde die Heeresgruppe Süd angesetzt.

Der wuchtige Angriff der Wehrmacht am 22. Juni 1941 hatte die sowjetische Grenzsicherung und die Verbände der Roten Armee in den Westgebieten offenbar überrascht. Die sowjetischen Linien wurden auf der annähernd 2000 Kilometer langen Front rasch durchbrochen. Die Luftwaffe der Nazis zerstörte große Teile der sowjetischen Luftstreitkräfte in den Westgebieten schon am Boden und gewann die Luftherrschaft über das schnell nach Osten ausgedehnte Gefechtsfeld. Das Kriegstagebuch des OKW vermerkt für den 22. Juni, schon am ersten Tag »verstärkt sich der Eindruck, daß die Überraschung in allen Abschnitten gelungen ist«. In den folgenden Wochen gerieten in riesigen Kesselschlachten viele Hunderttausende Rotarmisten in deutsche Gefangenschaft. Die Wehrmacht erbeutete große Mengen an Waffen und Gerät.

Wegen des punktuell heroischen Widerstands sowjetischer Einheiten waren die deutschen Verluste bedeutend höher als in allen bisherigen Feldzügen, sie lagen aber noch im veranschlagten Bereich. Während des Großkampfes im Westen zwischen dem 10. Mai und 20. Juni 1940 hatte die Wehrmacht insgesamt 26455 Gefallene zu verzeichnen. Zwischen dem 22. Juni und 31. Juli 1941 fielen in der Sowjetunion 46553 deutsche Soldaten. Der sowjetische Widerstand versteifte sich unerwartet, die Verlustzahlen stiegen mit schwerwiegenden Folgen für die weitere Kriegführung der Wehrmacht. Im August lag die Zahl der deutschen Gefallenen bei über 41000. Schon am 23. Juni meldete das OKW: »Der Gegner beginnt, an vielen Stellen hartnäckigen und erbitterten Widerstand – oft unter Einsatz von Panzern – zu leisten.«

Selbst der für den weitgehend von ihm geplanten »Ostfeldzug« optimistische Generalstabschef des Heeres, Franz Halder, zeigte sich nach einer Notiz vom 24. Juni in seinem Kriegstagebuch von der »Zähigkeit einzelner russischer Verbände« überrascht. Trotzdem gewann der deutsche Angriff zunächst rasch Raum in der Tiefe. Am 28. Juni wurde die belorussische Hauptstadt Minsk erobert, am 29. Juni drang die Wehrmacht in die Hauptstadt der lettischen Sowjetrepublik Riga ein, am 12. Juli standen Vorausabteilungen der Wehrmacht vor der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Bis Mitte Juli gelang die Forcierung der Dwina und des Dnjepr, die Rote Armee mußte die für die Angriffsrichtung Moskau bedeutsamen Städte Witebsk und Smolensk aufgeben. Insgesamt waren die Faschisten binnen drei Wochen über 500 Kilometer tief auf sowjetisches Territorium vorgedrungen.

Eine besondere Tragik in dieser für die Sowjetunion insgesamt existentiell bedrohlichen Entwicklung bestand darin, daß der infolge des deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrags vom August 1939 errungene bedeutende territoriale Vorteil schon nach wenigen Kampftagen verspielt worden war. Damals hatte die Sowjetunion ihre Staatsgrenze bis zu 300 Kilometer nach Westen verschieben können, und die drei baltischen Staaten waren im Sommer 1940 Sowjetrepubliken geworden. Die Sowjetunion habe keine vermehrte Sicherheit aus dem Umstand gewonnen, schrieb Dietrich Eichholtz in dieser Zeitung (Thema vom 22.6.2011), »daß es seine Westgrenze seit 1939 in ihrer ganzen Ausdehnung vom Donaudelta bis Petsamo (Peenga) überall erheblich hatte vorschieben können«. Das neue Gebiet hätte als befestigtes Glacis gegen einen deutschen Angriff auf das Kernland der UdSSR intensiv genutzt werden müssen.

Siegestaumel

Die deutsche Führung geriet angesichts der Kriegslage in eine kaum glaubliche Siegeseuphorie. Man kam schon nach wenigen Kampftagen zu der Meinung, die Rote Armee sei im wesentlichen zerschlagen, die Sowjetunion stehe unmittelbar vor dem Zusammenbruch, und der Krieg sei im Grunde militärisch gewonnen. Wegen der schweren Verluste westlich von Dwina und Dnjepr sei die Rote Armee nicht mehr in der Lage, eine zusammenhängende Verteidigungslinie vor Moskau aufzubauen. Halder notierte am 3. Juli in seinem Kriegstagebuch, daß der mit der »Weisung Nr. 21 Fall Barbarossa« am 18. Dezember 1940 erteilte Auftrag an die Wehrmacht, »die Masse des russischen Heeres vorwärts Düna und Dnjepr zu zerschlagen, erfüllt« sei. »Es ist wohl nicht zuviel gesagt«, fügte er selbstgefällig hinzu, »wenn ich behaupte, daß der Feldzug gegen Rußland innerhalb 14 Tagen gewonnen wurde«. Am 4. Juli meinte Hitler vor den Spitzen des OKW, die Sowjetunion habe »praktisch (…) diesen Krieg schon verloren.« Die sowjetische »Panzer- und Luftwaffe« sei »gleich zu Anfang zerschlagen« worden. Diese Verluste könne die UdSSR »nicht mehr ersetzen«. Reichaußenminister Joachim von Ribbentrop ging in einem Telegramm an die deutsche Botschaft in Tokio schon auf die politischen Folgen des nahen Sieges ein. Man könne der japanischen Regierung mitteilen, telegraphierte er am 28. Juni 1941, dem sechsten Tag der deutschen Aggression, »die Zerschlagung der russischen Macht« sei »in verhältnismäßig kurzer Zeit zu erwarten«. Damit wären »alle Voraussetzungen gegeben«, um die »Neuordnung des europäischen Raumes« durchzuführen. »Im Besitz der russischen Ölquellen und Getreidefelder« sowie mit der durch den Sieg über die Sowjetunion hergestellten »unmittelbaren Landverbindung nach Ostasien«, so Ribbentrop, wäre jede Blockade gegen das nazistisch beherrschte Europa »völlig gegenstandslos«.

Angesichts des vermeintlich nahen Sieges schien es der deutschen Führung erforderlich, die »Endziele« in der unterworfenen Sowjetunion verbindlich zu fixieren, die Grundlinien der deutschen Okkupationspolitik festzulegen und sich über taktische Maßnahmen zur Verschleierung der Ziele zu verständigen.

Diese Probleme wurden am 16. Juli 1941 auf einer fast fünfstündigen Beratung im »Führerhauptquartier« im ostpreußischen Rastenburg besprochen. Hitler hatte als Ziel der Konferenz genannt, es sei wichtig, »daß wir selbst wüßten, was wir wollten«. Ein US-amerikanischer Historiker meinte gar, die Konferenz sei eine Art Siegesfeier des internen Führungszirkels des Naziregimes gewesen.

Teilnehmer dieser bedeutenden Besprechung waren neben Hitler dessen »Stellvertreter« Hermann Göring sowie Wilhelm Keitel, Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, Alfred Rosenberg, designierter Reichsminister für die besetzten Ostgebiete, und Hans Heinrich Lammers, Reichsminister und Chef der Reichskanzlei. Das Protokoll, dessen Überlieferung wir die Kenntnis über diese Konferenz verdanken, führte Martin Bormann, seit Mai 1941 Reichsminister und Leiter der Parteikanzlei – eine Vertrauensperson Hitlers.

Das Ostimperium

Als übergeordnete Linie für die Besatzungspolitik in der unterworfenen Sowjetunion gab Hitler einleitend vor, alle Behörden hätten davon auszugehen, daß die deutsche Herrschaft dort ewig währe. Allen müsse klar sein, »daß wir aus diesen Gebieten nie wieder rauskommen«. Deshalb wären die kurzfristigen besatzungspolitischen Maßnahmen so anzulegen, daß sie zugleich ein Schritt zur Erreichung der längerfristigen Ziele seien. Man dürfe »nichts für die endgültige Regelung (…) verbauen, sondern (müsse) diese unter der Hand vorbereiten«. Die Konferenz müsse Beschlüsse fassen, so Hitler, um »den riesenhaften Kuchen handgerecht zu zerlegen, damit wir ihn erstens beherrschen, zweitens verwalten und drittens ausbeuten können«. Die eroberten Gebiete seien »für uns lebenswichtig«. Aus dem Ostimperium »müssen wir einen Garten Eden machen«. Überseeische »Kolonien spielen dagegen ein ganz untergeordnete Rolle«. Göring, der für die ökonomische Ausbeutung der UdSSR auf staatlicher Seite entscheidende Funktionär, forderte, daß bei allen Fragen der Besatzungspolitik die »Erfassung« der Lebensmittel für den Abtransport nach Deutschland und für die Versorgung der Invasoren »aus dem Land« oberste Priorität haben muß. Hitler wies in diesem Zusammenhang darauf hin, daß die Ukraine für Nazideutschland »das wichtigste Gebiet für die nächsten drei Jahre« sei.

Die Konferenzteilnehmer bestätigten die Vorkriegsvorschläge Alfred Rosenbergs zur »handgerechten Zerlegung« der unterworfenen Sowjetunion. Die europäischen Gebiete der UdSSR sollten unter der Oberhoheit eines Reichsministers für die besetzten Ostgebiete vorläufig in vier Reichskommissariate, nämlich »Ostland«, bestehend aus Belorußland und den baltischen Sowjetrepubliken, »Ukraine«, »Kaukasus« und »Moskau« zergliedert werden.

Für einige Gebiete legte das Gremium Sonderregelungen fest. Das Gebiet Bialystok sollte sofort annektiert und Bestandteil Ostpreußens werden. Die Halbinsel Kola sei wegen der reichen Vorkommen an Nickelerz dem Reichskommissar für das okkupierte Norwegen, Josef Terboven, »zur Ausbeutung (zu) übergeben«. Eine ähnliche Regelung wurde für die kaukasischen Erdölgebiete getroffen, die als »deutsche Militärkolonie« aus der üblichen Besatzungsverwaltung herausgenommen werden sollten. Außerdem wurden die zur »Germanisierung« vorgesehenen Gebiete bestimmt. Im Protokoll heißt es: »Der Führer betont, das gesamte Baltenland müsse Reichsgebiet werden (…) Ebenso müsse die Krim mit einem erheblichen Hinterland (Gebiet nördlich der Krim) Reichsgebiet werden; das Hinterland müsse möglichst groß sein (…) Der Führer betont weiter, auch die Wolga-Kolonie (bis 1941 Wohnsitz der größten Gruppen von im 18. Jahrhundert nach Rußland ausgewanderten Deutschen – M.S.) müsse deutsches Reichsgebiet werden.« Weiterhin wurde festgelegt, Galizien in kurzer Zeit zu annektieren. Maßgeblich für diese Entscheidung waren die Erdölinteressen der Nazis. Galizien besaß bedeutende Ölvorkommen. Man brauchte es aber auch wegen der gemeinsamen Grenze mit Rumänien. Dem Verbündeten, der zugleich wichtigster Öllieferant der Deutschen war, trauten die Nazis nicht. Hitler meinte auf der Sitzung, es sei möglich, daß sich das zur Zeit gute Verhältnis zu Rumänien künftig verändern könne. »Darauf haben wir uns einzustellen, und danach haben wir unsere Grenzen einzurichten.« Eine gemeinsame Grenze war für einen schnellen Einfall in Rumänien von Vorteil.

Die Gebiete sollten hauptsächlich durch »Germanisierung des Bodens«, so der SS-Terminus, »eingedeutscht« werden. Das bedeutete, der größte Teil der Einwohner, in manchen Gebieten wie der Krim alle, hatten zu »verschwinden«. Danach sollten »germanische Siedler« das Land und das Eigentum der beseitigten Einwohner übernehmen.

Zur Belohnung für seine Mitwirkung beim Überfall auf die Sowjetunion wollte man Finnland an der Zerschlagung der UdSSR beteiligen. Es sollte gemäß dem Wunsch der Herrschenden in Helsinki Karelien, ohne Halbinsel Kola, und das Leningrader Gebiet erhalten. Im Protokoll heißt es, »der Führer will Leningrad dem Erdboden gleichmachen lassen, um es dann den Finnen zu geben«. Doch auch über diese Gebiete wollten die Deutschen eines Tages verfügen. Offensichtlich war die Unterwerfung Finnlands und die Eingliederung in den direkten deutschen Machtbereich geplant. Im Protokoll heißt es: »Mit aller Vorsicht muß die Angliederung Finnlands als Bundesstaat vorbereitet werden.«

Die Beratungsteilnehmer einigten sich über Grundlinien zur Sicherung der deutschen Herrschaft in der unterworfenen Sowjetunion. Sie meinten, permanenter Terror sei die einzig wirksame Methode, die Sowjetbürger zur Duldung der Okkupation und zur Arbeit für die Deutschen zu bewegen. Am besten geschehe dies dadurch, so das Protokoll, »daß man jeden, der nur schief schaue, totschieße.« Als »notwendige Maßnahmen« wurden »Erschießen, Aussiedeln etc.« angesprochen. Keitel schlug vor, in großem Umfang Geiseln zu nehmen und diese bei Widerstandshandlungen zu erschießen. Er fuhr fort, die Bevölkerung müsse wissen, daß jeder erschossen würde, der nicht funktioniere. Man könne, so Hitler, den Aufruf der Sowjetregierung zum Partisanenkampf nutzen, um »auszurotten, was sich gegen uns stellt«.

In den gewaltigen Schlachten des Herbstes 1941 vor Rostow, Leningrad und Moskau hatte die Rote Armee die Blitzkriegsdoktrin der deutschen Militärs und die Phantasien der in Deutschland Herrschenden von der Eroberung eines »riesigen Ostimperiums« zerstört. Die Siegesfeier vom 16. Juli 1941 war wohl doch voreilig angesetzt.

* Dr. Martin Seckendorf ist Historiker und Mitglied der Berliner Gesellschaft für Faschismus- und Weltkriegsforschung e.V.

Im September erscheint eine Broschüre mit Beiträgen aus der jungen Welt zum 70. Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion. Das Heft im Format DINA4 (80 S. mit Illustrationen) mit Beiträgen von Dietrich Eichholtz, Hannes Heer, Kurt Pätzold, Martin Seckendorf u.a. kostet 5,80 Euro. Vorbestellungen an ni@jungewelt.de

Aus: junge Welt, 16. Juli 2011



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