Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Steinbach erklärt den Krieg

BdV-Chefin relativiert Deutschlands Kriegsschuld und zieht sich aus CDU-Spitze zurück

Die Vertriebenen-Präsidentin Erika Steinbach hat in der CDU/CSU-Fraktionsklausur einen Eklat ausgelöst. Zuerst hätten 1939 die Polen mobilisiert, äußerte sie dort. Auf die einsetzende Kritik reagierte Steinbach mit der Ankündigung ihres Rückzugs aus dem CDU-Parteivorstand.

Erika Steinbach hat ihren Rückzug aus dem CDU-Parteivorstand angekündigt, noch während die Fraktionsspitze sich am Donnerstag (9. Sep.) in Berlin hinter der Chefin des Bundes der Vertriebenen (BdV) versammelte. Bei der Fraktionsklausur hatte Steinbach zuvor Kulturstaatsminister Bernd Neumann (CDU) angegriffen. Sie warf ihm vor, sich nicht hinter die beiden Vertriebenenfunktionäre gestellt zu haben, die der BdV als Stellvertreter in den Rat der Stiftung »Flucht, Vertreibung, Versöhnung« entsandt hat. Die beiden Vertreter, Hartmut Saenger und Arnold Tölg, stehen wegen revisionistischer Äußerungen in der Kritik. Der Zentralrat der Juden in Deutschland lässt seine Mitarbeit in der Stiftung vorerst ruhen.

In der Fraktionsklausur hatte Steinbach die beiden Funktionäre in Schutz genommen und gesagt: »Und ich kann es auch leider nicht ändern, dass Polen bereits im März 1939 mobil gemacht hat«, wie sie der Zeitung »Die Welt« bestätigte. Der Vorsitzende der Unionsfraktion, Volker Kauder (CDU), sprach Steinbach dennoch sein Vertrauen aus. Sie habe später klargestellt, dass sie die Schuld Deutschlands am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs nicht relativieren wolle. Kauder berichtete, er habe in der Klausursitzung die Äußerung Steinbachs sofort zurückgewiesen und deutlich gemacht, dass Polen keine Schuld am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs treffe. Bundeskanzlerin Angela Merkel habe klar gemacht, dass sie die Meinung Kauders teile.

Nach der Klarstellung durch Steinbach sah Kauder keine Notwendigkeit, »an dem Thema weiterzuarbeiten«. Auch der Stiftungsrat müsse nicht anders besetzt werden. Zudem ging der Fraktionsvorsitzende davon aus, dass Steinbach bei den Neuwahlen des Fraktionsvorstands Ende September als menschenrechtspolitische Sprecherin wiedergewählt werde. Die Fraktionsführung verständigte sich jedoch darauf, Steinbach für die nächste Woche im Bundestag von der Rednerliste zu nehmen. Der Vorsitzende der CSU-Landesgruppe, Hans-Peter Friedrich, stellte sich ebenfalls hinter Steinbach.

Steinbach selbst reagierte verärgert auf die Debatte. Sie habe im CDU-Vorstand nur noch eine Alibifunktion, sagte sie der »Welt«. »Ich stehe dort für das Konservative, aber ich stehe immer mehr allein.« Die CDU sei nicht auf einem guten Weg. Mit Anpassung ziehe man keine Wähler an.

Außenminister Westerwelle bezeichnete Steinbachs »zweideutige Äußerungen, die die schwere Verantwortung Deutschlands am Ausbruch des Zweiten Weltkrieges in Frage stellen«, als nicht akzeptabel. Der polnische Botschafter in Deutschland, Marek Prawda, zeigte sich eher gelassen. »Ich hoffe, dass wir uns davon nicht beirren lassen«, sagte Prawda dem Berliner »Tagesspiegel«. Der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion, Thomas Oppermann, forderte die CDU auf, sich von Steinbach zu distanzieren. Der Parlamentarische Geschäftsführer der Grünen, Volker Beck, befürwortete einen Parteiausschluss der Vertriebenen-Chefin. Die innenpolitische Sprecherin der Linksfraktion, Ulla Jelpke, nannte die revanchistischen Äußerungen eine unerträgliche Belastung des deutsch-polnischen Verhältnisses und eine weitere Brüskierung des Zentralrats der Juden.

* Aus: Neues Deutschland, 10. September 2010


Fass ist voll

Von Uwe Kalbe **

Erika Steinbach hat es übertrieben. Nun ist das Fass voll. Doch bis auf den letzten Tropfen, der es zum Überlaufen brachte, bleibt es auch voll. Niemand macht rückgängig, was die Vertriebenenchefin politisch bewirkt hat, nichts mehr bringt die Stiftung ins Wanken, die das Produkt genau jenes geschichtlichen Herangehens ist, das Steinbach jetzt nur ein wenig unverblümter geäußert hat als sonst. Selbstsicherheit resultiert aus Anerkennung. Niemand in der CDU-Spitze macht ihr die »Verdienste« um die »Opfergruppe der deutschen Heimatvertriebenen, Flüchtlinge und Aussiedler« streitig, für die sie im letzten Jahr mit dem Bayerischen Verdienstorden geehrt wurde. Und wenn sie nicht selbst ihren Rückzug aus der CDU-Spitze angekündigt hätte, dürfte sie wohl bis zum Sanktnimmerleinstag drin bleiben.

Kann es Grund zur Hoffnung sein, dass Steinbach sich jetzt in der CDU-Führung isoliert sieht? Dass sie eine »Anpassung« ihrer Partei beklagt? Dass sie sich als einzig verbliebene Konservative betrachtet? Da diese Isolierung erst jetzt eintritt, muss man wohl annehmen, dass der giftige Streit mehr mit ihr als mit einem breiteren Stimmungswandel zu tun hat. Jemand, der die Hitlersche Kriegsbegründung auch nur in einem Zungenschlag übernimmt, der die Kriegslüge »Ab 5.45 Uhr wird zurückgeschossen« über das Geschichtsbild träufelt, auch wenn in vermeintlich unverdächtiger Verdünnung – der ist nicht zu halten. Nicht einmal für die CDU.

** Aus: Neues Deutschland, 10. September 2010 (Standpunkt)


Steinbach ohne Maske

Von Velten Schäfer ***

Wer in ostmitteleuropäischen Texten des 19. Jahrhunderts sucht, findet sicher Passagen über die »ethnisch reine« Nation. Das waren die Ideen der Zeit. Dennoch ist nichts so falsch wie die nun von Arnold Tölg vom Bund der Vertriebenen entmottete These, »die Tschechen« hätten nach 1945 eine seit 1848 geplante Säuberung durchgezogen. Solche Ideen werden nicht einfach Realität. Dass es in der Tschechoslowakei tatsächlich so gekommen ist, liegt an der Erfahrung des Henlein-Faschismus. Der hatte die Zwischenkriegs-Tschechoslowakei planvoll von innen zersetzt und einen multiethnischen Staat undenkbar gemacht.

Dabei könnte man es belassen, hätte nicht BdV-Chefin Erika Steinbach jenen Tölg – einen 1934 geborenen Hobby-Historiker mit Kaufmannsbildung – für die steuerfinanzierte Vertreibungsstiftung nominiert. Zum 60. Jubiläum der berühmten »Vertriebenen-Charta« zeigt sich Steinbach ohne Maske: Unwissenschaftlich, aber schrill will sie die Auseinandersetzung mit unseren Nachbarn. Kein Wunder, dass sich keine Persönlichkeit von wissenschaftlicher Reputation an ihren Tisch setzt.

Seriöse Historiker und Politiker haben zu Tölg das Nötige gesagt: Raus, aber schnell. Dieser Mindestforderung Nachdruck zu verleihen, wäre nun Aufgabe des Außenministers. Für eine künftige, andere Regierung aber stellt sich immer deutlicher die Frage, wie lange man einen Verband wie den BdV eigentlich noch millionenschwer alimentieren will.

*** Aus: Neues Deutschland, 10. September 2010 (Kommentar)


Verfolgte Unschuld des Tages: Erika Steinbach

Wer Haarsträubendes äußert und dafür Kritik erntet, sieht »die Demokratie« in Gefahr. Gestern war es Erika Steinbach, »Vertriebenenchefin« und CDU-Bundestagsabgeordnete. »Ich kann es doch nicht ändern, daß Polen mobil gemacht hat«, sagte sie am Donnerstag. Die deutsche Schuld für den Zweiten Weltkrieg werde mit dieser Äußerung keineswegs relativiert. Wenn man solche Wahrheiten nicht mehr offen aussprechen könne, »leben wir nicht mehr in einer Demokratie«.

Daß diese »Wahrheit« von Hartmut Saenger, einem ihrer Kollegen aus dem »Bund der Vertriebenen« (BdV), vor Tagen ganz klar mit einer Relativierungsabsicht ausgesprochen worden ist – warum sonst sollte er darauf hinweisen? –, weiß Steinbach selbstverständlich. Und auch, daß kein Historiker die polnische Mobilmachung sechs Monate vor dem Angriff Hitlerdeutschlands bestreiten würde – für die Polen angesichts der deutschen Besetzung Tschechiens im März 1939 allen Grund hatte.

Dennoch meinte sie, in einer Sitzung der Unionsfraktion am Mittwoch die Äußerungen von Saenger, der vom BdV als Stellvertreter in den Beirat der Stiftung »Flucht, Vertreibung, Versöhnung« entsandt worden war, verteidigen zu müssen. Die Unionsfraktionsführung plant deshalb, Steinbach vorerst nicht im Bundestag reden zu lassen. Diese erklärte am Donnerstag, sie werde nicht mehr für den CDU-Bundesvorstand kandidieren. Dort fühle sie sich als Konservative schon als nicht geachtete Minderheit. Dabei hat die Fraktion längst deutlich gemacht, wie ernst es ihr mit der Kritik an Steinbach und den BdV-Revanchisten wirklich ist. Fraktions­chef Volker Kauder erklärte, er sehe keine Notwendigkeit dafür, den Stiftungsrat doch noch anders zu besetzen. Er gehe zudem davon aus, daß Steinbach Ende September in ihrer Funktion als Vorsitzende der Menschenrechtsarbeitsgruppe der Fraktion bestätigt werde.
(jf)

**** Aus: junge Welt, 10. September 2010


Zurück zur Seite "Kriegsgeschichte"

Zur Deutschland-Seite

Zurück zur Homepage