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"Ein Erzählwerk unwillkürlichster Großartigkeit" (Thomas Mann)

Neu "übersetzt" vom Deutschen ins Deutsche: Der "Simplizissimus" von Grimmelshausen


Bunt, wild, roh, amüsant

"Simplicissimus" neu übersetzt

Von Harald Loch *


Der Dreißigjährige Krieg hat das Schlachtfeld Deutschland so verheert, dass es von der allgemeinen europäischen Entwicklung für über hundert Jahre abgekoppelt war. Der »Simplicissimus« des Zeitgenossen und Kriegsteilnehmers Grimmelshausen ist 1669 erschienen und »verkaufte sich noch hundert Jahre lang besser als jedes andere bedeutende Buch«, schreibt Nicholas Boyle, Literaturhistoriker aus Cambridge. Im »Simplicissimus« hören wir »für viele Jahre zum letzten Mal die Stimme einer freien und wagemutigen Mittelschicht, die davon überzeugt ist, dass zwar unser letztliches Schicksal vielleicht nicht in unseren Händen liegt, aber auch nicht in denen eines anderen und dass es an uns liegt, daraus zu machen, was wir können.«

Die Literaturwissenschaft hat den im frühen Neuhochdeutsch verfassten Roman in diverse Schubläden gezwängt: Vom Bindeglied zwischen Parzival zu Wilhelm Meister bis zum Propheten des Dritten Reiches gehen die Versuche, dem ersten großen deutschen Roman Etiketten aufzunötigen.

Wer in seiner Schulzeit unter dem Zwang des Lehrplans den Blick für die Größe dieses Werkes nicht hatte gewinnen können, dem sollten die Sätze Thomas Manns helfen, der in seinem Vorwort zur schwedischen Übersetzung aus dem Jahre 1944 schrieb: »Es ist ein Literatur- und Lebens-Denkmal der seltensten Art, das in voller Frische fast drei Jahrhunderte überdauert hat und noch viele überdauern wird. Ein Erzählwerk unwillkürlichster Großartigkeit, bunt, wild roh, amüsant, verliebt und verlumpt, kochend von Leben, mit Tod und Teufel auf Du und Du, zerknirscht am Ende und gründlich müde in einer in Blut, Raub, Wollust sich vergeudenden Welt, aber unsterblich in der elenden Pracht seiner Sünden.«

Großen Anteil an dem wuchtigen Reiz des Romans hat natürlich seine uns heute nicht immer ganz einfach zu verstehende Sprache. Aber das verfälscht gewissermaßen den sprachlichen Rang des Textes, der natürlich seinerzeit in einer zeitgemäßen Sprache geschrieben wurde. Für den, der diese Sprachen beherrscht, könnten moderne englische und französische Übersetzungen des »Simplicissimus« sogar unmittelbarer wirken.

Die sprachliche Distanz zwischen dem 17. Jahrhundert und heute überwindet jetzt eine »Übersetzung« des Simplicissimus ins Deutsche auf eindrucksvolle Weise. Sie zieht den Schleier der Patina vor dem hellen Antlitz des Textes fort und ruft zur Neuentdeckung auf. Einer der angesehensten deutschen Übersetzer aus dem Englischen, Reinhard Kaiser, hat dem Simplicissimus damit wahrscheinlich den größten Gefallen in seiner von der schulischen Behandlung verschatteten Rezeptionsgeschichte getan: Wir haben einen der besten deutschen Romane wieder zur Verfügung.

Die deutsch-deutsche Übersetzung geht vom Originaltext aus, wie er in der vorzüglich kommentierten Ausgabe des Deutschen Klassiker Verlages auch als Taschenbuch erhältlich ist. Wer den Urtext und die Übersetzung parallel lesen mag, gewinnt noch einmal einen vertieften Eindruck in die Großartigkeit von Grimmelshausens Original und die Genialität seiner Übersetzung. Diesem Ereignis entspricht die Aufmachung: Zwei kostbare Bände der Anderen Bibliothek holen das Buch aus den philologischen Schubladen und bewahren es in einem schönen Schuber davor, wieder den Staub der Geschichte anzusetzen.

Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen: Der abenteuerliche Simplicissimus Deutsch. Aus der Sprache des 17. Jahrhunderts übersetzt und mit einer Einleitung versehen von Reinhard Kaiser. Eichborn. Die Andere Bibliothek. Zwei Bände im Schuber, 764 S., 69.

Original: Der abenteuerliche Simplicissimus Teutsch. herausgegeben und kommentiert von Dieter Breuer. dtv. 1084 S., 18

* Aus: Neues Deutschland, 17. August 2009


"Kurz: ein Weltbuch"

Zu den Schwierigkeiten, Grimmelshausens "Simplicissimus" in heutiges Deutsch zu übertragen. Gespräch mit Reinhard Kaiser **

Reinhard Kaiser lebt als Übersetzer und Schriftsteller in Frankfurt/ Main. Ins Deutsche übertragen hat er Irene Dische, Susan Sontag, Isaiah Berlin, Richard Sennett, Michel Serres, Georges Duby, Nancy Mitford, Lee Strasberg und viele andere. Ausgezeichnet wurde Kaiser u. a. mit dem Heinrich-Maria-Ledig-Rowohlt-Übersetzerpreis, dem Deutschen Jugendliteraturpreis und dem Geschwister-Scholl-Preis.

Frage: Ich kenne Sie als äußerst belesenen Menschen, aber haben Sie den »Simplicissimus« jemals zuvor komplett gelesen?

Kaiser: Nein, zum ersten Mal habe ich ihn vor zweieinhalb Jahren wirklich gelesen, als dieses Projekt erste Formen annahm. Vorher hatte ich eine ziemlich reduzierte Vorstellung von diesem Buch, hielt es für eine große Schwankgeschichte, eine Eulenspiegelei, ehrenwert, aber altbacken und sehr lang. Umso größer war das Erstaunen über den Reichtum, die Vielfalt, die Eindringlichkeit, den Witz von Grimmelshausens großem Roman. Lang ist er ja wirklich - aber zugleich äußerst kurzweilig. Das Übersetzen war dann eine Lektüre, die mir die Augen öffnete und mich erfahren und begreifen ließ, daß es in diesem Buch keine einzige Seite gibt, die man ohne Verlust getrost überschlagen könnte - keine Seite, auf der einem nicht ein Licht aufgeht, auf der einen nicht die Verwunderung, das Vergnügen über eine Pointe oder der Schrecken packt.

Ich dachte immer, daß der Simplicissimus zu den berühmten, aber wenig gelesenen Büchern gehört, wie etwa auch »Der Mann ohne Eigenschaften«. Die Lektüre erfordert ja einiges an Dechiffrierkünsten, nicht wahr? Sie sprechen in diesem Zusammenhang von »falschen Freunden«.

Ja, das Buch, vor 340 Jahren zum ersten Mal erschienen, hat einiges an Patina angesetzt - man könnte auch sagen: eine Kruste, die heutige Leser in ihrer Mehrzahl nicht ohne weiteres mehr durchdringen. Die Sprache des 17. Jahrhunderts ist uns zwar weniger fern als das Mittelhochdeutsche des 13. Jahrhunderts - aber doch so fremd, daß jede Lektüre auf ein Übersetzen hinausläuft. Da gibt es nicht wenige Wörter, die uns heute unbekannt sind. Da gibt es etliche Wörter, deren Bedeutung sich deutlich oder auch nur auf eine unauffällige Weise verschoben hat. Letztere sind die »falschen Freunde«, Wörter, denen man nicht ohne weiteres anmerkt, daß sie etwas anderes bedeuten, als sie zu bedeuten scheinen. »Umstand« bedeutet im Original des »Simplicissimus« zum Beispiel »die Umstehenden« oder »Menschenauflauf«. Das Wort »Gegenteil« bezeichnet den »Gegner«, den »Feind«, die »Gegenseite«. Wo Grimmelshausen in unserem Sinne von Gegenteil spricht, verwendet er das Wort »Widerspiel«. Zur Patina, die der Text im Laufe der Jahrhunderte angesetzt hat, gehören aber auch unzählige kleinere Irritationen. Die Luft war damals noch maskulin: »der Lufft«, und das Reflexivpronomen »sich« kam erst langsam in Gebrauch - Der Einsiedler erwählt »ihm« die Wildnis zum Aufenthalt. Solche Dinge kann jeder Leser mit ein wenig Nachdenken selbst klären. Aber sie sind so zahlreich, daß sie bei heutigen Lesern und zumal denen, die lesen wollen, ohne auf Schritt und Tritt entziffern zu müssen, doch den Lesefluß und oft wohl auch die Leselust hemmen.

Sie übersetzen sonst vor allem aus dem Englischen und Französischen. Nun haben Sie zum ersten Mal aus dem Deutschen ins Deutsche übersetzt. Gibt es da Unterschiede?

Es war in mancher Hinsicht schwieriger und zwar nicht so sehr deshalb, weil ich im Umgang mit dem Übersetzen von älterem Deutsch weniger Erfahrung hatte. Vielmehr zeigte sich, daß die Spielräume für die unzähligen Entscheidungen, die ein Übersetzer treffen muß, wenn er seine Arbeit tut, noch größer waren als beim Übersetzen aus anderen Sprachen - es war mehr zu überlegen, mehr abzuwägen. Als studierter Germanist weiß ich natürlich, daß auch die eigene Sprache, wenn man sie in die Vergangenheit zurückverfolgt, irgendwo zur Fremdsprache wird - beim Mittelhochdeutschen und mehr noch beim Althochdeutschen überwiegt das Fremde. Im Frühneuhochdeutschen des 15. und 16. Jahrhunderts und im Deutschen des 17. Jahrhunderts mischt sich das noch Vertraute mit dem schon Fremden auf eine Weise, die das Übersetzen und Ergründen von abgelegenen Wortbedeutungen oft zu einem Abenteuer voller Überraschungen machte.

Die komplizierte Editionsgeschichte des Romans und die Lebensgeschichte Grimmelshausens in der Tiefe zu erörtern, ginge über den Rahmen dieses Gesprächs hinaus. Mir scheint aber, die Lebendigkeit des Romans liegt zum gut Teil darin begründet, daß Grimmelshausen Autodidakt war.

Grimmelshausen, geboren wahrscheinlich 1622 im protestantischen Gelnhausen, hat dort einige Jahre lang die Lateinschule besucht, bis die Stadt von kaiserlichen Truppen 1634/35 geplündert und ein großer Teil ihrer Bewohner umgebracht wurde. Andere konnten sich in die nahegelegene, von schwedisch-hessischen Truppen gehaltene Festung Hanau retten, unter ihnen wohl auch der junge Grimmelshausen. Von dort geriet er dann in den Krieg, zuerst als Troßjunge, später als Dragoner, zuletzt als Regimentsschreiber. Eine Universität hat er nie besucht. Aber irgendwann muß er angefangen haben zu lesen, Bücher zu verschlingen - vielleicht schon während seiner Soldatenzeit, mit Sicherheit später, als »Schaffner«, das heißt als Burgverwalter im Dienst einer Adelsfamilie im badischen Oberkirch. Da lieh er sich Bücher aus Klöstern in der Nachbarschaft, aus der Bibliothek seines Dienstherren, da las und schrieb er - blieb aber literarisch Zeit seines Lebens ein Außenseiter: So wie ihn Günter Grass in »Das Treffen von Telgte« in und neben dem Kreis der damals tonangebenden Literaten dargestellt hat. Alle Werke Grimmelshausens sind in den letzten zehn Jahren seines Lebens erschienen. Er starb vor 333 Jahren, am 17. August 1676, als Bürgermeister von Renchen.

Stimmen Sie mir zu, daß jede Kategorisierung des Buches, etwa als picarischer Roman, einengend und verkürzend ist?

In der Germanistik hat man viel darüber gestritten, wie sich dieses Buch einordnen lasse. Ist es ein Schelmenroman, ein Kriegsroman, ein Entwicklungsroman, ein Bildungsroman, ein Bekehrungsroman? Der »Simplicissimus«, scheint mir, sprengt alle diese Kategorisierungen. Er ist alles das in einigen seiner Züge, aber er ist auch noch vieles mehr: ein Sittenbild seiner Zeit, eine Satire auf diese Zeit, ein komischer Roman, ein Roman über das Geld, ein Abenteuerbuch und in einigen seiner Teile ein fantastischer Reisebericht, eine erotische Groteske, eine Utopie, die erste Robinsonade der deutschen Literatur, 50 Jahre vor Defoes »Robinson Crusoe« - kurz: ein Weltbuch, das in seiner Material- und Gedankenfülle und mit der Vielfalt seiner Formen, Stilmittel und Perspektiven zu den ganz großen Werken der deutschen Literatur gehört. Mir scheint, der Rang dieses Buches ist im Laufe der Zeit von der eingangs erwähnten Patina zu einem nicht geringen Teil überkrustet oder, sagen wir, für einen großen Kreis potentieller Leser unerkennbar geworden. Ich würde mich freuen, wenn diese Übersetzung ihn wieder sichtbar und lesbar werden läßt.

Interview: Jürgen Lentes



Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen: Der abenteuerliche Simplicissimus. Die Andere Bibliothek im Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2009, 764 Seiten, 68 Euro * Aus dem Deutschen des 17. Jahrhunderts von Reinhard Kaiser

* Aus: junge Welt, 18. August 2009


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