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Niederlage des Intellekts

Gläubigkeit wie im Mittelalter

Die neuen Kriege im Irak, in Afghanistan oder anderswo sind vom Aufstieg und den furchtbaren Chancen der Naturwissenschaften nicht zu trennen, sagt Horst-Eberhard Richter in einem Artikel, der im Juli 2004 in der kritischen Wochenzeitung "Freitag" erschien und den wir im Folgenden dokumentieren.


Von Horst-Eberhard Richter

Durch die naturwissenschaftlich-technische Revolution hat sich der Mensch gewaltige Machtmittel angeeignet, was Sigmund Freud dazu anregte, ihn nunmehr einen "Prothesengott" zu nennen. Aber ist dabei seine Menschlichkeit mitgewachsen oder eher beschädigt worden? Er kann auf die offizielle Abschaffung der Sklaverei verweisen. Aber wie steht es um die Domestizierung seiner Aggression?

Als Albert Einstein 1933 Sigmund Freud nach der Möglichkeit fragte, "die psychische Entwicklung der Menschen so zu beeinflussen, dass sie den Psychosen des Hasses und des Vernichtens gegenüber widerstandsfähiger" werde, wies der auf den Kulturprozess hin, dessen eines Merkmal die "Erstarkung des Intellektes" sei, "der das Triebleben zu beherrschen" beginne. Eine Einschränkung der Triebregungen, also auch der Aggression, sei deshalb zu erhoffen. Auch sei denkbar, "dass die berechtigte Angst vor den Wirkungen eines Zukunftskrieges dem Kriegführen in absehbarer Zeit ein Ende setzen wird".

Es folgen Hitlers Vernichtungskrieg und der Holocaust. Dabei zeigt sich, dass der Mensch inzwischen Massentötungen so perfekt organisieren kann, dass sie mit unheimlicher Geräuschlosigkeit und ohne Aufruhr vonstatten gehen können. Die Flächenbombardements von Städten im II. Weltkrieg, Hiroshima und Nagasaki sowie das atomare Weiterrüsten demonstrieren eine beunruhigende Abstumpfung gegenüber der Wirkung neuer Vernichtungsenergien. Und General Lee Butler, Ex-Oberkommandierender der US-Nuklearstreitkräfte, erklärt es eher mit himmlischer Gnade als mit menschlicher Vorsicht, dass der Menschheit ein atomarer Holocaust im Kalten Krieg gerade noch erspart worden sei.

Die Kette neuer Kriege, die unheimliche Komplizenschaft terroristischer Gewalt und militärischer Gegengewalt in Israel/Palästina und das Desaster im Irak sind Belege, die vorläufig der Erwartung Freuds von vor 70 Jahren widersprechen, dass ein "erstarkender Intellekt" auf dem Wege sei, die triebhafte Aggression vermehrt zu bändigen und im Bunde mit der Angst vor den Wirkungen moderner Kriege deren Ausbruch zu erschweren.

Der Tradition des Rationalismus der Aufklärung verhaftet, schenkte Freud zugunsten der Intellektualisierung den im Emotionalen wurzelnden Bindungskräften weniger Beachtung, die für Adam Smith, Hume, Rousseau und Schopenhauer die Grundlage von Humanität und sozialem Zusammenhalt bildeten. Der derzeit viel diskutierte amerikanische Philosoph Richard Rorty knüpft an diese Tradition ausdrücklich an und erklärt: "Der moralische Fortschritt ist davon abhängig, dass die Reichweite des Mitgefühls immer umfassender wird. Er ist nicht davon abhängig, dass man sich über die Empfindsamkeit erhebt und zur Vernunft vordringt." Es komme für den Menschen darauf an, für die Bedürfnisse einer immer größeren Vielfalt von anderen empfänglich zu werden. Das sei primär eine Aufgabe der Sensibilität und nicht der Rationalität.

Die "Erstarkung des Intellekts" sollte also nicht um den Preis des Verlustes von Empfindsamkeit und zugunsten des Machtinteresses erfolgen, das in Wahrheit für die naturwissenschaftlich-technische Revolution eine wesentliche Antriebskraft bildet. Der Ehrgeiz der Physiker hat nicht zufällig zum Bau der Atombombe und deren steter Modernisierung geführt. Schon Francis Bacon hatte zum Anbeginn der neuzeitlichen Naturwissenschaft als deren Ziel die grenzenlose Herrschaft des Menschen genannt. Ein Fortschritt der Erkenntnis bis zu dessen Selbstvergöttlichung hatte Descartes vorgeschwebt. In puncto Allmacht hat dieser Fortschritt dem Menschen nunmehr die furchtbare Chance vermittelt, seine Herrschaft als grenzenlose atomare Zerstörung der Natur und des eigenen Geschlechtes auszuüben.

Das ist zustande gekommen, weil sich die westliche Menschheit dem geheimen Machtwillen der Naturwissenschaft wie einer neuen Religion unterworfen hat. Die gläubige Ergebenheit des Mittelalters ist also nicht - wie oft behauptet - einer aufgeklärten Mündigkeit gewichen, sie hat vielmehr in einer mit der Naturwissenschaft eng verbundenen Ersatzreligion neuen Halt gesucht und gefunden. Das hat der Computer-Wissenschaftler Joseph Weizenbaum so prägnant wie kein anderer beschrieben: "Ich meine wirklich, dass die Naturwissenschaft, in den westlichen Ländern jedenfalls, heute alle Merkmale einer organisierten Religion hat. Da gibt es Novizen, das sind die Studenten an den Universitäten. Da gibt es Priester, das sind die jungen Professoren. Dann gibt es Monsignores, das sind die älteren. Es gibt Bischöfe und Kardinäle, und es gibt Kathedralen. Meine eigene Universität, das Massachusetts Institute of Technology (MIT), ist eine Kathedrale in der Naturwissenschaft. Es gibt sogar Päpste, und auch - das ist sehr wichtig - Häretiker. Die Häretiker werden bestraft, genau so wie die Häretiker einer alten Religion. Sie werden ausgestoßen. Und wenn man schließlich als Häretiker anerkannt ist, dann wird auch behauptet: Der war doch nie ein richtiger Wissenschaftler! Das alles gibt es. Und dann gibt es die große Masse der Gläubigen. In diesem Sinn besteht überhaupt kein Unterschied zwischen Naturwissenschaftsglauben und dem Glauben an die Lehre des katholischen Kirche im Mittelalter."

Von der Masse ihrer Gläubigen bestärkt, sind Naturwissenschaftler und Ingenieure nun unentwegt dabei, alles Machbare auch zu machen beziehungsweise machen zu lassen. Max Born, Freund Einsteins und wie dieser Physik-Nobelpreisträger, erklärt unumwunden: "Die politischen und militärischen Schrecken sowie der vollständige Zusammenbruch der Ethik, deren Zeuge ich während meines Lebens geworden bin, sind kein Symptom einer vorübergehenden sozialen Schwäche, sondern notwendige Folge des naturwissenschaftlichen Aufstiegs - der an sich eine der größten intellektuellen Leistungen der Menschheit ist."

Born unterstellt der Mehrheit der Naturwissenschaftler eine eher naive Begeisterung für ihre Tätigkeit bei gleichzeitiger Schwäche, deren Folgen für die Menschheit einzuschätzen. Bemerkenswert ist die Reaktion der Massen auf die Bombardierung Hiroshimas mit 200.000 Toten. Es ist ein Schock, aber weil Bilder von den Verwüstungen und den Verstümmelungen der Menschen sofort wieder verschwinden und die rasch folgende Kapitulation der Japaner gefeiert werden kann, wird der Schrecken bald verdrängt. Wer sein anhaltendes Entsetzen nicht unterdrücken kann, vielmehr aus innerem Druck heraus sogar öffentlich mitteilen muss, wie der Philosoph Günther Anders, findet in Europa einiges Gehör, in Amerika fast nur heftige Ablehnung. Noch nach 50 Jahren wird eine geplante Ausstellung zur Erinnerung an Hiroshima in Washington verboten - aus Angst, die Bilder des Grauens könnten den nationalen Stolz auf ein vermeintliches Heldenstück verletzen.

Es gibt Anzeichen, dass neben Hiroshima auch die weiterhin gehorteten über 36.000 atomaren Sprengköpfe sowie die kaum unterbrochene Kette von Kriegen eine im wesentlichen unverarbeitete Beunruhigung in den Menschen hinterlassen haben, die nur vorübergehend von den Triumphen des Versöhnungswillens am Ende des Kalten Krieges und bei der Überwindung der Apartheid in Südafrika überdeckt wurde. Das rasche Vergessen dieser Erfolge und die panische Kreuzzugsmentalität nach dem 11. September deuten auf eine untergründige, von Ängsten, Selbstzweifeln und Hass dominierte Stimmung hin. Der Irak-Krieg wurde eher als Ablenkung von der Unfähigkeit vom Zaun gebrochen, die großen sozialen, wirtschaftlichen, gesundheitlichen und ökologischen Weltprobleme erfolgreich zu bekämpfen. Es sollte wenigstens eine kriegerische Gemeinschaftlichkeit gegen das Böse hergestellt werden, wenn man schon an eine friedliche und konstruktive Solidarisierung nicht mehr glaubte.

Nun aber haben das Debakel im Irak und die zunehmende komplizenhafte Verkettung von kriegerischer und terroristischer Gewalt nach dem 11. September die Missstimmung noch verstärkt. In der Mehrzahl der westlichen Länder, von den USA angefangen, fehlt es an Selbstheilungskräften und ermutigenden Visionen. Die nunmehr aufgedeckten Folter-Verbrechen der US-Soldaten im Irak sind nicht nur Entgleisungen von unkontrollierten Einzelnen oder Grüppchen. Sie lassen sich eher als unbewusste Rache der Soldaten für ihre eigene missbräuchliche Instrumentalisierung in einem von Beginn an verlogenen und völkerrechtswidrigen Krieg deuten. Die Soldaten mussten im Kampf unschuldige Menschen auf der Suche nach Waffen töten, die gar nicht da waren, und sie sollten Vergeltung für den 11. September üben, mit dem nicht einmal der Diktator Saddam etwas zu tun hatte. Den Frust, den sie nun auf die primitivste Weise abreagierten, haben letztlich Höhere zu verantworten, die aber für diese Verantwortung nicht einstehen. Laut BBC-News vom 15. Juni hatte die US-Generalin Karpinski eine Losung bekannt gemacht, die lautete: "Sie (die Gefangenen - d. Red.) sind wie Hunde, und wenn man ihnen nur einen Moment erlaubt zu glauben, dass sie keine Hunde sind, hat man schon die Kontrolle verloren."

Das passt zu den bekannt gewordenen Fotos und Zeugenaussagen: US-Soldaten, die auf nackt am Boden kriechenden Gefangenen reiten, die mit einem Halsband angeleint sind und wie Hunde bellen müssen. Andere müssen ihr Essen aus der Toilette schöpfen oder stundenlang, die Köpfe in Säcke gehüllt, in schmerzhaften Stellungen verharren. Fotos zeigen elektrisch verkabelte Gefangene, aus denen offenbar mit Stromschlägen Geständnisse herausgepresst werden sollen. Erzwungene pornographische Handlungen sollen ihnen den letzten Rest von Würde nehmen. Der Wille der Menschen soll gebrochen werden.

So leben zum Teil die gleichen Foltermethoden wieder auf, die aus der Inquisition des 13. Jahrhunderts und aus den späteren Hexenprozessen überliefert sind. Wieder stehen die Folterer im Dienste einer Macht, die aus der Welt das Böse vertreiben will. Damals war davon die Rede, das Unkraut aus dem Garten des Herrn auszureißen. Diesmal ist die Ausmerzung des Terrorismus das Ziel. Aber so, wie seinerzeit viele Unschuldige auf der Folterbank gequält wurden, haben auch die meisten Gefangenen im Irak sich nichts zuschulden kommen lassen. Vor 800 Jahren gestand Papst Innozenz III. selbstkritisch ein, dass die Verderbnis im Volk in erster Linie vom Klerus ausgehe. Aber es fanden sich kaum Ankläger gegen Amtsbrüder. Und Papst Gregor IX. hielt die Hand über seinen Protegé Konrad von Marburg, der als Inquisitor bis zu seiner Ermordung Angst und Schrecken verbreitete, aber in den Augen seines hohen Gönners einen guten Job machte. Ein aktueller Parallelfall springt in die Augen.

Die Jagd auf das hexenhafte Böse währte fast 300 Jahre und forderte etwa 50.000 Menschenleben. Wie lange die neue Jagd auf das terroristische Böse anhalten wird, kann heute noch niemand sagen. Der amerikanische Präsident hat versprochen: "Unser Krieg gegen den Terror beginnt mit al-Qaida, aber er hört nicht auf, ehe nicht jede weltweit operierende Terrorgruppe entdeckt, ausgeschaltet und besiegt ist." Bisher hat der Krieg nach dem 11. September den Terrorismus nicht geschwächt, vielmehr gestärkt. Er hat - das ist das Bedrückende - die Abwehr des Terrors im Irak und in Guantánamo auf das Niveau der Unmenschlichkeit erniedrigt, von der man die Welt befreien wollte.

Die Inquisition, die Kreuzzüge des Mittelalters und die Hexenjagd waren Niederlagen und schwere Rückschläge für die westliche Kulturentwicklung. Aber sie wurden irgendwann überwunden. Nun aber hat der Intellekt eine Waffe geschmiedet, an die Menschen in ihrer neuen Gläubigkeit das Vertrauen delegiert haben, das ihnen für die eigene Versöhnungs- und Friedensfähigkeit abhanden zu kommen droht. Die Amerikaner huldigen ihrer Atommacht wie einem Gott, sagt der Bürgermeister von Hiroshima. Entsprechend hat das Pentagon eine neue offizielle Sicherheitsstrategie verkündet, wonach jedem ein Präventivschlag angedroht wird, der sich anschicken sollte, die nukleare Vormachtstellung der USA anzutasten. Das würde eine auf atomare Erpressung gegründete Weltherrschaft bedeuten - mit einem Klima von Angst, Hass, Rachewünschen, heimlichem Wettrüsten und vervielfältigtem Terrorismus, da es die vom Allmachtsglauben erfundene Unverwundbarkeit nicht gibt. Es wäre ein Rückfall in mittelalterliche Magie - mit dem Unterschied, dass aus der fiktiven Teufelsmacht die reale und konkrete apokalyptische Ausrottungswaffe geworden ist.

Aber es könnte vielleicht doch noch die vorerst unterdrückte Empfindsamkeit wach werden und die Hoffnung Einsteins in Erfüllung gehen, dass den Menschen die Wahrheit offenbar würde, im Schatten der Atombombe allesamt Geschwister zu sein. Wer weiß, ob nicht Israelis und Palästinenser am Ende doch begreifen, dass sie aufeinander angewiesen sind, um das furchtbare, gegenseitig erzeugte Leiden zu beenden. Und wer weiß, ob nicht irgendwann dort, wo der islamistische Terror herkommt, und dort, wo der kriegerische Gegenterror angeheizt wird, Kräfte die Oberhand gewinnen, die auf Annäherung, auf Zuhören und Sprechen bauen anstatt auf steinzeitliche sprachlose Gewalt.

Aus: Freitag 31, 23. Juli 2004


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