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Die Masse Mensch

Groß-Edition geht zu Ende: Deutsches Reich und Zweiter Weltkrieg

Von Kurt Pätzold *

Nun sei der letzte große weiße Fleck in der deutschen Militärgeschichtsschreibung zum Zweiten Weltkrieg getilgt worden, hieß es bei der Buchvorstellung im Potsdamer Militärgeschichtlichen Forschungsamt. Präsentiert wurde der achte Band von »Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg«, der voluminöseste in der auf zehn Bände berechneten Reihe. Die nun an ihr Ziel gelangte Historikergruppe war inzwischen von den Verfassern des 9. Bandes (zwei Teilbände, 2004 bzw. 2005) überholt worden. Auch die Arbeiten am abschließenden Band sind weit gediehen.

Weißer Fleck – das meinte die Geschichte des Krieges an der deutsch-sowjetischen Front 1943/1944, also die Zeitspanne vom Ende der Schlacht bei Stalingrad bis zum Erreichen ostpreußischen Territoriums durch Verbände der Sowjetarmee. Das Wissen vom Geschehen in diesen dramatischen mehr als anderthalb Jahren sei von sich in den Vordergrund drängenden Ereignissen wie die Landung in der Normandie am 6. Juni 1944 und die darauf folgende Aktion der Verschwörer des 20. Juli überdeckt worden, sagte der Chef des Amtes in seiner Einführung. Eingehender wollte sich zu den Gründen und Motiven der bislang verengten Sicht auch Stig Förster, Professor an der Universität Bern, der die Präsentation des Bandes übernommen hatte, nicht äußern. Eingeräumt wurde hingegen beiläufig, dass diese Bemerkung sich auf die »westliche« Geschichtsschreibung beziehe. Das DDR-Unternehmen »Deutschland im Zweiten Weltkrieg« blieb dennoch unerwähnt. In dessen Bänden 3 bis 6 (erschienen 1979 bis 1985) wurden, im Wechsel mit den Entwicklungen an anderen Fronten des Krieges, sehr wohl die Schlachten von Kursk bis an die Reichsgrenze dargestellt.

Zwei Vorteile besitzen die »Nachfolger« des ostdeutschen Unternehmens: Sie haben Zugang zu einer größeren Quellenmasse und ihre Texte werden nicht von sowjetischen Militärhistorikern mitgelesen. Die Sonderstellung des vorgestellten Bandes bestehe, wie betont wurde, auch in dessen operationsgeschichtlichem Blick. Diese Hervorhebung führte zur Frage, welchen Platz diese Betrachtungsweise in der modernen Militärgeschichtshistoriographie beanspruchen könne und ob man mit ihr nicht in frühere, als überwunden geltende Kriegsgeschichtsschreibung zurückfalle, wie sie etwa nach dem Ersten Weltkrieg im Deutschen Reich – der Erhellung von Ursachen, Zusammenhängen und Zielen ausweichend – vorgelegt worden sei. Nein, Zusammenhänge würden hergestellt, behauptete Förster. Indessen war in seinem Vortrag weder von der deutschen Besatzungspolitik in der Phase der Niederlagen und Rückzüge die Rede – das Wort von der »verbrannten Erde« kam nicht vor – noch vom Platz des Geschehens an der deutsch-sowjetischen Front im Gesamtverlauf des Krieges.

Gefragt wurde hingegen (eine die Autoren besonders beschäftigende Frage), warum es nach der Stalingrader Schlacht noch so lange gedauert habe, bis der faschistische Gegner sich schließlich geschlagen geben musste. Verkürzt lautete die Antwort: Dies hätte seine Ursache in den Besonderheiten des sowjetischen Systems gehabt, das Schöpfertum und Eigeninitiative nicht zuließ. Da schaute sie wieder durch, die Schimäre aus der Frühzeit des ideologischen Kalten Krieges von der »Masse Mensch«, der die deutsche Wehrmacht bei aller Intelligenz und allem kriegerischen Können schließlich unterlegen gewesen sei.

Der Band zeichne sich auch dadurch aus, dass er Legenden zerstöre, ohne die wohl keine Kriegsgeschichte auskommt. Ein gewisses Gewicht kommt dem – im Kern nicht neuen – Nachweis zu, dass die These, die sowjetische Führung habe die Kämpfer des Warschauer Aufstands im Stich gelassen und sie der deutschen Übermacht ausgeliefert, durch den Verlauf der Kriegshandlungen ostwärts von Warschau widerlegt werde.

Keine Darstellung des Zweiten Weltkrieges kommt ohne den deutschen Oberbefehlshaber aus, der auch hier wieder einmal als operativer Dilettant apostrophiert wurde. Was hat sich Hitler nach Stalingrad noch erhofft, wann hat er den Krieg als verloren angesehen? Dieser Zeitpunkt wird im Band früh angesetzt und mit der Behauptung verbunden, es wäre dem »Führer« einzig noch um die »Choreographie des Untergangs« und seinen heroischen Abschied von der Weltgeschichte gegangen. Diese Behauptung besitzt wenig Aussicht, zu bestehen. Es waren nicht nur Gedankenspiele, die nach Stalingrad im »Führer«-Hauptquartier angestellt worden sind. Mörderische Befehle ergingen in der Hoffnung, der Niederlage doch noch zu entgehen. Verweigert wurde bis zum Schluss, sich auf das Unausweichliche, die bedingungslose Kapitulation einzustellen.

Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg. Bd. 8: Die Ostfront 1943/1944. Hg. im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes von Karl-Heinz Frieser. DVA, München. 1319 S., 49,80 EUR.

* Aus: Neues Deutschland, 30. Juli 2007


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