Erster Weltkrieg: Imperialistisch
Der vergessene Krieg im Osten
Von Kurt Pätzold *
Im letzten Jahrzehnt hat die Beschäftigung mit der Geschichte des Ersten
Weltkriegs einen von
vielen unerahnten Auftrieb erhalten. Der war nicht allein besonderen
Jahrestagen geschuldet, wenn
auch sie Anstoß für Forschungen, Publikationen und Ausstellungen in
mehreren einst am Kriege
beteiligten Staaten gaben.
Die deutsche Historiographie brachte diesem »verlorenen Krieg« lange
weniger Interesse entgegen
als etwa den Kriegen von 1813/1815 und 1870/71, als deutsche Heere
gesiegt hatten. Indessen
fehlte es schon in der Weimarer Republik weder an amtlichen Werken noch
an Romanen, die
einzelne Schlachten und Feldherren verherrlichten und die Legende vom
»im Felde unbesiegten«
Weltkriegskrieger verbreiteten. Erst 1931 wurde in Berlin ein zentraler
Gedenkort für die im Kriege
umgekommenen Soldaten errichtet, durch den Umbau der Neuen Wache durch
Heinrich Tessenow.
Der Plan, ein Nationaldenkmal zu schaffen, das an die Toten erinnerte,
war endgültig aufgegeben,
als der Faschismus an die Macht gelangte. Denn: Erinnerte man an den
Krieg, richteten sich
Gedanken auf Niederlage und Revolution.
In der DDR war zum Ersten Weltkrieg eine dreibändige Gesamtdarstellung
erschienen. In der
Bundesrepublik löste der Hamburger Historiker Fritz Fischer mit seinem
Buch »Griff nach der
Weltmacht« und der Frage nach der Kontinuität vom Ersten zum Zweiten
Weltkrieg eine erbittert
geführte Kontroverse aus, die sich besonders um die Frage nach Ursachen
und Zielen des Krieges
rankte. Vor zwei Jahren, anlässlich des 90. Wiederkehr des
Kriegsbeginns, fand im Deutschen
Historischen Museum in Berlin eine Ausstellung statt, die nicht nur dem
Ereignis, sondern auch –
einer neuen Tendenz folgend – der Art und Weise gewidmet war, in der
daran erinnert wurde. Zu
deren Begleitprogramm gehörte eine international besetzte Konferenz,
deren Beiträge nun
nachzulesen sind.
Das für Jahrzehnte zutreffende Wort vom »vergessenen Krieg« gilt noch
stärker für die »vergessene
Front«, die blutigen Schlachten in Osteuropa, von der Ostsee bis zum
Schwarzen Meer. Die hatten
viel weniger Aufmerksamkeit erregt als jene »im Westen«. Zum einen war
auf dem Territorium
Frankreichs die Niederlage Deutschlands herbeigeführt worden, was die
Blicke von Siegern und
Besiegten anzog, und zum anderen hatte der Nachfolgestaat des
Zarenreiches sich viel mehr der
Geschichte seiner Entstehung und des Bürgerkrieges zugewandt als deren
»Vorgeschichte«.
Besonderes Interesse können jene Passagen beanspruchen, die den Bogen
von 1914 zu 1939
schlagen – entsprechend der Stellung des Bandes, der eine neue Reihe
unter dem Titel »Zeitalter
der Weltkriege« eröffnet. Da ragt Hans-Erich Volkmanns Fazit heraus,
wonach die deutschen
Militärs, die als Offiziere am Ersten Weltkrieg teilgenommen und erlebt
hatten, dass dieser Gegner
von ihnen militärisch nicht besiegt werden konnte, aus dieser Erfahrung
nichts zu lernen
vermochten. Ein Vierteljahrhundert später kam es erneut und noch
verheerender zur
Unterschätzung von Raum und Gegner. Interessant sind die auch in
mehreren Aufsätzen
gegebenen Belege, wie der Gegner verteufelt und das eigene Volk
propagandistisch aufgeputsch
wurde (Barbaren, Mongolen, Hunnen, Kosaken, Asiaten, Halbasiaten,
Horde). Die sich hartnäckig
haltende Legende, die deutschen Militärbefehlshaber hätten sich um das
Leben der deutschen
Zivilisten gesorgt, widerlegt der Beitrag von Rüdiger Bergien, der
überzeugend den Zusammenhang
zwischen der Nichtachtung der Einwohner insbesondere Ostpreußens in den
Kriegsplänen von 1914
und jener Praxis der Jahre 1944/45, der die eigene Bevölkerung mehr als
Störfaktor denn als
schutzbedürftig galt, aufzeigt.
Schwierigkeiten macht mehreren Autoren die Benutzung der Kennzeichnung
»imperialistisch«, die
an einer Stelle als »marxistisch-leninistisch« abgetan wird. Und an
anderer Stelle ist die Deutung der
Kriegstoten als »Opfer imperialer Politik« als »bolschewistische
Perspektive« markiert. Womit die
Tendenz bedient wird, den Begriff »imperialistisch« aus dem
wissenschaftlichen Verkehr zu ziehen
und ihn ins Abseits der politischen Agitation zu verweisen.
Gerhard P. Groß (Hg.): Die vergessene Front. Der Osten 1914/15.
Ereignis, Wirkung, Nachwirkung. F. Schöningh Verlag, Paderborn 2006. 415
S., geb., 38
* Aus: Neues Deutschland, 31. August 2006
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