Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Die verlogenen "Führer"

Vor 60 Jahren wurden die Urteile des Internationalen Militärtribunals vollstreckt

Von Kurt Pätzold und Manfred Weißbecker *

Vor sechs Jahrzehnten hatten zehn Männer die dreizehn Stufen zum Galgen hinaufzusteigen. An jenem 16. Oktober 1946 hätte Hermann Göring vorangehen müssen, doch der hatte sich wenige Stunden zuvor mittels Gift selbst umgebracht. Gegen den zwölften der zum Tode Verurteilten, Martin Bormann, war in Abwesenheit verhandelt worden, weil angenommen werden konnte, er würde sich verborgen halten. Sie alle besaßen einen besonderen Anteil am Aufkommen des Faschismus, an seinem Sieg über die Republik sowie daran, dass die Welt in den Zweiten Weltkrieg gestürzt und Millionen Menschen kaltblütig ermordet wurden.

Viele Fragen wurden von der Forschung bisher nur zu einem Teil und mitunter auch konträr beantwortet: Warum und wie wurden die erstrangigen Plätze in Staat und Gesellschaft gerade von diesen Personen besetzt? Wie waren sie an die Seite Adolf Hitlers geraten und was verband sie mit ihm? Auf welche Weise wirkten sie mit diesem »Führer« zusammen? Welche Rolle spielten Herkunft und Erziehung, Erfahrungen, Vorstellungen und Charaktereigenschaften für die Entscheidungen, die sie trafen? Was trieb ihr Handeln bis zu jenem beispiellosen Verbrechertum? Und schließlich: Mussten ihre Biografien so verlaufen und derart schimpflich enden?

Die meisten stammten aus gesicherten bürgerlichen Verhältnissen. Es standen ihnen andere Lebenswege offen. Mit zwei Ausnahmen – Wilhelm Keitel und Fritz Sauckel – kamen sie aus Familien des Besitz- oder Bildungsbürgertums. Der meisten Väter gehörten zur Beamtenschaft, waren Lehrer, Berufsoffiziere und einer in der Kolonialverwaltung tätig gewesen. Zwei arbeiteten als Rechtsanwälte und einer war ein erfolgreicher Kaufmann. Hatten Söhne, die in solchen Verhältnissen aufwuchsen, soziale Katastrophen zu fürchten? Acht besuchten Gymnasien bzw. eine Oberrealschule und sechs davon gelangten bis zum Abitur. Zwei weitere absolvierten Kadettenanstalten, einer erhielt seine Unterweisung auf einem Lehrerseminar. Während drei die Offizierslaufbahn einschlugen, immatrikulierten sich fünf an Universitäten. Von diesen brachten es wiederum vier bis zur Promotion und zum Doktor der Rechtswissenschaft. Nahezu jeder dieser späteren Führer besaß feste Grundlagen für den Aufbau einer soliden bürgerlichen Existenz. Niemand sah sich unter Zwang, eine Karriere an Hitlers Seite zu beginnen.

Das aber taten sie, zumeist lange vor 1933. Zu ihnen traten später Keitel und Alfred Jodl, Berufsoffiziere seit Kaiserzeit. Arthur Seyß-Inquart und Ernst Kaltenbrunner gelangten erst mit dem »Anschluss« Österreichs in den Vordergrund der imperialistischen Politik im Zeichen des Hakenkreuzes. In nahezu allen Fällen wurden die Lebensentschlüsse bald nach der Niederlage des Kaiserreichs getroffen. Viele zogen 1914 begeistert auf Schlachtfelder, was sich für die drei Berufssoldaten Göring, Keitel und Jodl von selbst verstand. Drei weitere waren als Reserve-Offiziere Kriegsteilnehmer. Bei »Gedienten« wie »Ungedienten« schlug der Mordspatriotismus in Hass gegen Revolution und Republik um. Sie glaubten, »Marxisten« und »Novemberverbrecher« und diese anstiftende Juden hätten ihr Lebensideal zerstört. Sie verachteten die Menge, den »Pöbel« und ersehnten Zustände, da diese Massen unter ihrer Führung kriegerisch Revanche nehmen würden. Nach 1933 begann für alle ein neuer Lebensabschnitt.

Ihre Karrieren führten sie an die Spitze der Staatspyramide. Neun bekleideten 1945 das Amt von Ministern oder Leitern oberster Reichsbehörden. Als Reichsminister fungierten Frick und Göring seit 1933, Frank seit 1934, Ribbentrop seit 1938, Seyß-Inquart seit 1939 und Rosenberg seit 1941. Keitel war ihnen als Chef des Oberkommandos der Wehrmacht gleichgestellt. Kaltenbrunner leitete das Reichssicherheitshauptamt, und Sauckel übte das Amt des Generalbevollmächtigen für den Arbeitseinsatz aus. Sie waren im wirklichen Sinne die »Mit«-Führer, obgleich sie in den Verhandlungen des Gerichtshofes immer wieder Hitler und Himmler für die nicht zu leugnenden Mordtaten verantwortlich machten. Sie wären Ge- und Verführte, Hintergangene, Getäuschte, Betrogene – mehr Opfer denn Täter gewesen.

Wortreich beriefen sie sich auf edel genannte nationale Ziele und Liebe zum Vaterlande. Beredt hoben sie auch soziale Motive hervor und die Not der Deutschen, die niemals größer gewesen sei, als im Augenblick dieses Prozesses. Keiner hätte den Krieg gewollt. Brutale Kriegführung sei durch die Gegenwehr der Feinde erzwungen worden. In allen Kriegen würden Verbrechen geschehen wie im jüngsten, begangen auch von Armeen der Sieger. Wie kläglich wirkte all das angesichts ihres Schuldkontos. Auf dem standen Millionen Tote: Ermordet in Vernichtungs- und Konzentrationslagern, umgebracht in »Heilanstalten«, erschossen als Partisanen und Widerstandskämpfer, gestorben an Fronten und im Hinterland, verhungert unter der Besatzungsherrschaft und umgekommen als Opfer von Seuchen. Wie weit musste man in der Geschichte Europas zurückdenken, um auch nur einige seiner Landstriche in einem ähnlichen Zustand sich vorzustellen? Bis zu den Napoleonischen Kriegen? Bis in die Jahrzehnte des Dreißigjährigen Krieges?

Der Nachkriegskontinent war angefüllt mit Obdachlosen, Waisen und Witwen, Krüppeln und Kranken, bis auf die unterste Stufe des Elends Herabgekommene. Weite Gebiete Europas waren Trümmerlandschaften. Was Generationen an Produktivkräften geschaffen hatten, war in Ruinen- und Schrotthaufen verwandelt. Und – nicht zu vergessen – die moralischen Schäden, die die europäischen Völker weithin genommen hatten, diejenigen der faschistischen Mächtekoalition am stärksten. Doch die Angeklagten wollten nichts gewusst haben.

Dies veranlasste den amerikanischen Ankläger zur Entgegnung:
»Wenn wir nur die Erzählungen der vorderen Reihe der Angeklagten zusammenstellen, so bekommen wir folgendes lächerliches Gesamtbild von Hitlers Regierung; sie setzte sich zusammen aus: Einem Mann Nummer 2, der nichts von den Ausschreitungen der von ihm selbst eingerichteten Gestapo wusste und nie etwas vermutete von dem Ausrottungsprogramm gegen die Juden, obwohl er der Unterzeichner von über 20 Erlassen war, die die Verfolgung dieser Rasse ins Werk setzten. Einem Mann Nummer 3, der nur ein unschuldiger Mittelsmann war, der Hitlers Befehle weitergab, ohne sie überhaupt zu lesen, wie ein Briefträger oder ein Botenjunge. Einem Außenminister, der von auswärtigen Angelegenheiten wenig und von der auswärtigen Politik gar nichts wusste. Einem Feldmarschall, der der Wehrmacht Befehle erteilte, jedoch keine Ahnung hatte, zu welchen praktischen Ergebnissen diese führen würden. Einem Chef des Sicherheitswesens, der unter dem Eindruck war, dass die polizeiliche Tätigkeit seiner Gestapo und seines SD im Wesentlichen derjenigen der Verkehrspolizei gleichkam. Einem Parteiphilosophen, der an historischen Forschungen interessiert war und keinerlei Vorstellungen von den Gewalten hatte, zu denen im 20. Jahrhundert seine Philosophie anspornte. Einem Generalgouverneur von Polen, der regierte, aber nicht herrschte. Einem Gauleiter von Franken, der sich damit beschäftigte, unflätige Schriften über die Juden herauszugeben, der jedoch keine Ahnung hatte, dass sie irgendjemand jemals lesen würde. Einem Innenminister, der nicht wusste, was im Innern seines eigenen Amtes vor sich ging, noch viel weniger etwas wusste von seinem eigenen Ressort und nichts von den Zuständen im Innern Deutschlands. Einem Reichsbankpräsidenten, der nicht wusste, was in den Stahlkammern seiner Bank hinterlegt und was aus ihnen herausgeschafft wurde. Und einem Bevollmächtigten für die Kriegswirtschaft, der geheim die ganze Wirtschaft für Rüstungszwecke leitete, jedoch keine Ahnung hatte, dass dies irgend etwas mit Krieg zu tun hätte.«

* Die beiden Faschismusforscher veröffentlichten 1995 den Band "Stufen zum Galgen" (Militzke).

Aus: Neues Deutschland, 21. Oktober 2006



Zurück zur Seite "Kriegsgeschichte"

Zur Völkerrechts-Seite

Zurück zur Homepage