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"Selbst vor der Leiche Rosa Luxemburgs fürchtete man sich noch"

Ein "Fund" in der Berliner Charité sorgt für Aufregung - Seriös ist das aber nicht. Zwei Beiträge

Das "plötzliche" Autauchen einer Frauenleiche, die seit Jahrzehnten in einer Vitrine der Berliner Charité aufbewahrt wird, hat für gehörigen Medienwirbel gesorgt. Was immer die (politische?) Absicht der Urheber des Rummels sein mochte: Seriös kann man das nicht nennen. Umso erfreulicher, wenn man auf Artikel stößt, welche die Debatte auf ein wissenschaftlich verantwortliches Niveau hieven. Die beiden folgenden Beiträge gehören in diese Kategorie. Im ersten Beitrag wird eine der angesehensten Luxemburg-Forscher/innen zu Rate gezogen: Annelies Laschitza, die sich mit Biografien über Luxemburg und die Familie Liebknecht sowie mit der Edition der Schriften Rosa Luxemburgs in der Fachwelt und darüber hinaus einen Namen gemacht hat. Der zweite Beitrag stammt von dem Sozialwissenschaftler Klaus Gietinger, der vor Jahren ein viel beachtetes Buch über "Eine Leiche im Landwehrkanal. Die Ermordung der Rosa L." (Neuauflage 2008) herausgebracht hat. Wir dokumentieren beide Artikel, die am 6. Juni in der Tageszeitung "Neues Deutschland" erschienen.



Rätsel um Rosa Luxemburg

Die Tochter rief an und witzelte: »Mutti, gib doch endlich die Locke von Rosa Luxemburg raus.« Doch Annelies Laschitza war am vergangenen Wochenende nicht zum Lachen zumute. »Das geht mir alles unter die Haut«, sagte sie gegenüber ND. Die international renommierte Luxemburg-Expertin war überrascht, als die Medien am 29. Mai die Nachricht vermeldeten: Bei einem im Keller der Berliner Charité aufbewahrten Leichentorso handele es sich möglicherweise um die sterblichen Überreste von Rosa Luxemburg. Die Berliner Professorin weiß seit zwei Jahren von entsprechenden Vermutungen des Leiters der Rechtsmedizin an der hauptstädtischen Universitätsklinik, Prof. Michael Tsokos. Sie hat ihm fachlichen Rat gegeben, Adressen und Kontakte vermittelt und gleich anderen eingeweihten Wissenschaftlern sich zur Verschwiegenheit über ein noch in der Forschung befindliches Projekts verpflichtet. Die öffentliche Präsentation einer Vermutung ohne endgültigen Beweis findet sie überaus bedenklich.

Tsokos stützt seine Behauptung auf anatomische und radiologische Untersuchungen der bislang »unbekannten Frauenleiche«, die seit Jahrzehnten in einer Glasvitrine seines Instituts liegt, wie auch auf von ihm entdeckte Unstimmigkeiten im Obduktionsprotokoll der Toten, die 1919 als die ermordete Rosa Luxemburg »identifiziert« und anschließend in Berlin-Friedrichsfelde begraben wurde. Seine Ansicht teilt der Historiker Jörn Schütrumpf, Leiter des Berliner Karl-Dietz-Verlags, der die Gesammelten Werke Rosa Luxemburgs herausgibt. Die beiden Wissenschaftler betonen selbst, dass definitive Gewissheit erst eine DNA-Analyse geben könne. Jedoch fehlt bislang vergleichendes Material, das unzweifelhaft von Rosa Luxemburg stammt. Die Forscher hoffen, dass eine in Warschau lebende Nichte hierbei behilflich sein könnte. Dienlich wäre ihrer Meinung nach auch die Auffindung jener Haarlocke der deutsch-polnischen Revolutionärin, die im Nachlass ihres zeitweiligen Lebensgefährten Paul Levi vermutet wird.

»Vielleicht gibt es auch jemanden, der einen Hut von ihr oder Ähnliches hat«, meinte Tsokos im »Spiegel«. Schütrumpf setzt vor allem auf das Herbarium Rosa Luxemburgs. »An den Blättern und Blüten müssten sich noch Fingerabdrücke finden lassen.« Im Parteiarchiv in Berlin-Lichterfelde gibt es nur eine Kopie der Pflanzensammlung, die Rosa Luxemburg 1913 begonnen hatte, »als sie sich so über die russische und deutsche Sozialdemokratie geärgert hat und sich mal eine Auszeit gönnen wollte«, wie Annelies Laschitza weiß. Auch gibt es dort nur wenige Originalbriefe, die bereits untersucht wurden und keine verwertbaren Spuren geboten haben. Anfragen an die entsprechenden Institutionen in Warschau sind gestellt, so Schütrumpf.

In der Fachwelt der Historiker bleibt der Fund umstritten. Da rümpft dann auch der eine seine Nase über jenen, »dessen Namen ich hier nicht nennen werde«, und der andere spricht von »Scharlatanerie«.

Der Charité-Fund hat auch im Ausland Aufmerksamkeit gefunden. Ottokar Luban, Sekretär der Internationalen Rosa-Luxemburg-Stiftung hätte, wie er ND mitteilte, allerdings vom Chef der Pathologie der Charité erwartet, »dass er aus Gründen einer wissenschaftlichen Vorgehensweise und vor allem aus Achtung vor der Würde der ermordeten Sozialistin erst nach erfolgter DNA-Analyse an die Öffentlichkeit gegangen wäre«. Die derweil erfolgte Ankündigung von Tsokos, sich um den Fall nicht weiter zu kümmern, da seine Untersuchungen beendet seien und alles Weitere nicht in seiner Kompetenz liege, befremdet Annelies Laschitza. Das sei eine Unverfrorenheit von Tsokos, vermutlich an die Adresse der Linkspartei nach dem Motto gerichtet: Ich bin mir zu 80 Prozent sicher, nun kümmert ihr euch um eure Leiche.

Die widerstreitenden Meinungen und Interpretationen der Fachleute werden uns also weiter beschäftigen. Zu den größten Skeptikern gehört der Frankfurter Sozialwissenschaftler Klaus Gietinger, dessen Gegenargumente hier vorgestellt werden. ves/jrs


Die Leiche im Landwehrkanal

Von Klaus Gietinger

Alfred Kock war Tauchermeister. Mehrfach hatte er im Januar 1919 seine Dienste dem untersuchenden Kriegsgerichtsrat der Garde-Kavallerie-Schützen-Division (GKSD) Paul Jorns angeboten. Doch der hatte ihn immer vertröstet. Kocks Angebot bestand darin, das trübe Wasser des Landwehrkanals auf der Strecke zwischen der Lichtensteinbrücke und der Freiarchenbrücke, also etwa 400 Meter, nach der Leiche von Rosa Luxemburg abzusuchen. Erst als der ehemalige Parteivorsitzende der SPD und Volksbeauftragte Hugo Haase (jetzt USPD) in einem Brief auf die Fähigkeiten Kocks hinwies, konnte Jorns nicht mehr zurück. Jorns war der von der SPD-Regierung unter Friedrich Ebert, Philipp Scheidemann und Gustav Noske im Mordfall Luxemburg und Liebknecht eingesetzte Untersuchungsrichter. Er entstammte der gleichen Einheit, aus der auch die Mörder kamen, der GKSD, und er hat, wie später nachgewiesen, vertuscht und verdunkelt, wo es ging. Haase wiederum wurde ein halbes Jahr nach seinem Brief an die GKSD Opfer eines Attentats.

Einiges ging schief im Januar 1919

Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg wurden am 15. Januar 1919 von getarnten Marineoffizieren ermordet. Auftraggeber dieses Mordes war der erste Stabsoffizier der GKSD, Hauptmann Waldemar Pabst, der praktisch als die rechte Hand des Oberbefehlshabers in den Marken, Gustav Noske (SPD), fungierte. Pabst bekundete 1969 mehrfach, Noske habe die Morde in einem Telefongespräch in jener Nacht mit ihm indirekt gebilligt. Pabst wusste, was zu tun war. Doch einiges ging schief in jener Nacht: Statt die ermordete Rosa Luxemburg im Leichenschauhaus abzugeben, ließ der Transportführer Oberleutnant a.D. Kurt Vogel die Leiche zum Landwehrkanal fahren und dort in der Nähe der Lichtensteinbrücke in das Gewässer werfen.

Nach dieser Leiche suchte nun der Taucher Kock. Ab dem 18. Februar 1919 gelang es ihm, Quadratmeter für Quadratmeter des Kanals abzusuchen. Er förderte so allerhand zu Tage, z. B. unzählige Gewehre und drei Wasserleichen. Eine männliche und zwei weibliche. Doch die Leiche von Rosa Luxemburg war nicht dabei.

Am Samstagmorgen, dem 31. Mai 1919, entdeckte der Schleusenarbeiter Gottfried Knepel, 76 Jahre alt, zwischen Freiarchen- und S-Bahnbrücke eine weitere weibliche Leiche. Ein Zeuge, ein Sozialdemokrat namens Otto Fritsch, erkannte sie als die Rosa Luxemburgs und rief den »Vorwärts« an. Doch weder am Samstag noch am Sonntag fand er eine Meldung vor. Der Grund: Noske war an jenem Samstagabend, als er gerade im Hause des ehemaligen Chefs der Hochseeflotte, Admiral von Holtzendorff, weilte, von seinen aufgeregten, stramm rechten Parteikollegen Wolfgang Heine und Eugen Ernst unterrichtet worden, dass man »sie« gefunden habe. Noske verhängte sogleich eine Nachrichtensperre und ließ die Leiche zu seinen militärischen Freunden ins Lager Zossen im Süden von Berlin verfrachten.

Selbst vor der Leiche Rosa Luxemburgs fürchtete man sich also noch. Solcherart Vorgehen verletzte aber nun die Ehre des Kriegsgerichtsrats Ehrhardt von der GKSD, offiziell oberster Herr des Verfahrens. Die »beleidigte Justiz« (Noske) machte dem Oberbefehlshaber in den Marken und inzwischen auch Reichswehrminister Vorhaltungen, er habe in ihre Befugnisse eingegriffen. Noske, sonst sehr erpicht darauf, der GKSD nicht in die Parade zu fahren, kanzelte Ehrhardt ab.

Mathilde Jacob, der langjährigen Freundin und Sekretärin Luxemburgs, die vermutete, Noske müsse »ein Interesse an dem leblosen Körper haben«, wurde von dem brüskierten Ehrhardt gestattet, »einen von uns gewählten Arzt in ihrem Auto nach Zossen mitzunehmen, damit dieser den Obduktionsbefund der Gerichtsärzte nachprüfen könnte«. Doch der Vertreter Theodor Liebknechts, Dr. Siegfried Weinberg, lehnte ab; man würde damit das Gericht der GKSD anerkennen. Frau Jacob war damit nicht einverstanden, da sie sich Aufschluss über die Art der Ermordung erhoffte. Verzweifelt suchte sie um Unterstützung: Zwei Ärzte fürchteten um ihr Leben, ein anderer hielt seine Zusage nicht ein. Die Obduktion fand so ohne einen Vertrauensarzt Mathilde Jacobs statt.

Am 3. Juni 1919 nahmen der Geheime Medizinalrat Dr. Strassmann und Professor Dr. Fraenkel die Untersuchung an der stark verwesten Leiche vor. Das Ergebnis ließ den Schluss zu, dass Rosa Luxemburg durch einen Schuss aus unmittelbarer Nähe getötet worden war.

Dies stellten die beiden Kapazitäten in insgesamt zwei Gutachten fest. Daran gibt es auch heute nichts zu deuteln. Fraenkel wich zwar im zweiten Gutachten leicht von Strassmanns These ab und gab an, auch der Kolbenschlag und nicht erst der Schuss könnten Rosa Luxemburg getötet haben. Doch dass sie die Leiche Luxemburgs vor sich hatten, bezweifelte keiner der beiden Herren. Aufgrund der an der Leiche gefundenen blauen Kleidungsstücke, der Handschuhe und eines Medaillons identifizierte Mathilde Jacob die Tote.

Es wurden auch zwei Fotos der Leiche gemacht. Deutlich ist der Kopfschuss zu erkennen. Paul Levi, Rechtanwalt und zeitweiliger Lebensgefährte Rosa Luxemburgs identifizierte anhand der Fotos die Leiche als die von Rosa Luxemburg. Mathilde Jacob holte die Leiche ab, brachte sie zurück ins Leichenschauhaus Berlin und sah, wie sie sich ausdrückte »täglich« nach, ob sie noch da sei. Am 13. Juni wurde Rosa Luxemburg begleitet von Hunderttausenden in Friedrichsfelde beerdigt.

Das ist, kurz gefasst, die Geschichte Rosa Luxemburgs nach ihrer Ermordung, wie sie sich aus den historischen Quellen ergibt.

Spekulationen und offene Fragen

Die Behauptungen von Herrn Tsokos von der Charité sind in diesem Licht nicht seriös.

Erstens: Die Leiche Rosa Luxemburgs sei mit Draht umwickelt und mit Gewichten beschwert im Landwehrkanal versenkt worden. Daher hätten sich Hände und Füße später abgelöst. Keiner der Zeugen, nicht die, die die Leiche in den Kanal warfen, noch die, die dies von der Lichtensteinbrücke aus beobachteten, noch die, die die Leiche fanden, berichten irgendetwas von einer Drahtumwicklung und beschwerenden Gewichten. Auch von fehlenden Gliedmaßen war bei der Bergung keine Rede. Tsokos Darstellung ist falsch und beruht auf Gerüchten, die in den 20er Jahren gestreut wurden. Die historischen Quellen verweisen stattdessen darauf, dass die Leiche in aller Eile in den Kanal geworfen wurde.

Zweitens behauptet Tsokos, die Rechtsmediziner Strassmann und Fraenkel hätten in ihren Gutachten keinen tödlichen Kopfschuss und keinen Austrittskanal einer Kugel festgestellt. Dies ist schlicht falsch. Sie stellten einen Schuss mit einer Eintrittswunde von 7 mm fest. In ihrem Erstgutachten vom 3. Juni 1919 heißt es zusammenfassend, der Tod sei »infolge einer schweren Verletzung der Schädelbasis eingetreten… Dieser Schädelbruch ist höchstwahrscheinlich die Folge eines Schusses, der vor dem linken Ohr eingetreten und am rechten Unterkiefer ausgetreten ist, den Schädel also ziemlich quer und etwas nach unten durchsetzt hat.«

Zwar stellten sie keine Beinverkürzung oder eine Lahmheit fest, sprachen aber von einer »mäßige(n) alten Wirbelsäulenverkrümmung« und einer nach »außen ausgeschweift(en)« linken Hüfte. Die Körpergröße der Leiche entsprach der von Rosa Luxemburg (1,46 Meter). Nirgendwo zweifeln die Mediziner, dass es sich um sie handelte.

Ein Medaillon und blaugrüner Samt

Paul Levi identifizierte die Tote anhand der Fotos. Das SPD-Mitglied Otto Fritsch, das bei der Leichenbergung half, war ebenfalls überzeugt, Rosa Luxemburgs Leiche vor sich zu haben. Für die Behauptung, dass das Medaillon, anhand dessen Mathilde Jacob die Leiche als die Rosa Luxemburgs identifizierte, ihr bereits von den Mördern abgenommen worden sein könnte, wird kein Beleg, sondern lediglich eine Spekulation vorgebracht. Dem steht die eidesstattliche Aussage des Polizeileichendieners Fritz Eberhardt entgegen, der die am 31. Mai 1919 geborgene Tote von der Tiergartenschleuse abzuholen hatte. Demnach hat er »ein kleines goldenes Medaillon, dass an einem schmalen Samtband der Leiche um den Hals hing«, abgeschnitten. Er bekundete desweiteren, dass er der Leiche einen »Tuchabschnitt von blaugrünem Samt« abgenommen hatte. Auch die beiden Ärzte stellten blaue Farbspuren an der Leiche fest, die sie als Verfärbungen durch die Kleidung deuteten. Ein weiterer Zeuge der Totenbergung aus dem Kanal erkannte, dass diese Handschuhe trug. Mathilde Jacob wurde vorgelegt: Das Medaillon, die blauen Samtstücke und die Handschuhe. Sie gehörten Rosa Luxemburg.

Es stellt sich auch die Frage, warum der Kriegsgerichtsrat Ehrhardt dringlich darum bat, mit Rosa Luxemburg befreundete Rechtsanwälte und unabhängige Mediziner der Obduktion beizuziehen, wenn er dann dort betrügen wollte. Ferner wäre zu fragen, woher man so schnell eine Leiche hatte, die weiblich, so groß wie Rosa Luxemburg war und auch noch über einen Kopfschuss an der Stelle verfügte, an der mehrere Zeugen gesehen hatten, dass der Täter abgedrückt hatte.

Es bleibt festzustellen: Die Leiche, die vor 90 Jahren, am 31. Mai 1919 gefunden, am 3. Juni 1919 obduziert und am 13. Juni 1919 begraben wurde, war die Leiche Rosa Luxemburgs. Dass sie vermutlich 1935 von den Nazis geraubt wurde, steht auf einem anderen Blatt.

Klaus Gietinger (Jg. 1955), Sozialwissenschaftler und Drehbuchautor (u. a. »Tatort«), veröffentlichte 1993 »Eine Leiche im Landwehrkanal. Die Ermordung der Rosa L.« (Neuauflage 2008) und brachte Anfang dieses Jahres »Der Konterrevolutionär. Waldemar Pabst – eine deutsche Karriere.« auf den Buchmarkt.

Aus: Neues Deutschland, 6. Juni 2009


Zur Auseinandersetzung um das Andenken an Rosa Luxemburg siehe auch:
Der Militarismus: "eine ökonomisch völlig absurde Vergeudung ungeheurer Produktivkräfte"
Ein Denkmal für Rosa Luxemburg, die große Antimilitaristin und Revolutionärin! Beiträge zu einer Initiative aus der Hauptstadt




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