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Steter Ausnahmezustand

"Vorabdruck". Das 20. Jahrhundert begreifen: Der "Zweite Dreißigjährige Krieg" zwischen 1914 und 1945 ist eine Zeit des Strebens nach permanenter Veränderung der Gesellschaften mit antagonistischen Klasseninteressen

Von Domenico Losurdo *

Begreift man nicht die Verknüpfung von Schrecken und Emanzipation, so ist man nicht in der Lage, das 20. Jahrhundert zu verstehen; nicht zu verstehen sind dann außerdem die furchtbaren Seiten des Kommunismus, werden sie losgelöst von den furchtbaren Seiten der hinter ihm liegenden Geschichte. Wir haben die wundervolle Familie des Ancien régime und der Belle époque bei den Zeremonien verlassen, mit denen sie ihre Macht feierte: Nach Ausbruch des Krieges – merkte Rosa Luxemburg an – machte »jeder Souverain von Gottes Gnaden […] den Vetter von der Gegenseite« verächtlich und forderte dessen Beseitigung. Es gibt eine Besonderheit, die die ganze Brutalität des Kampfes offenbart. Bis jetzt hatten sich die verschiedenen Souveräne und Regierenden auch rassisch als Mitglieder einer Familie verstanden. Jetzt werden die Deutschen für die Ideologen der Entente zu »Hunnen« und »Vandalen«, während Großbritannien von Thomas Mann als »asiatische Macht« apostrophiert und Frankreich in den Augen (des Autors von »Untergang des Abendlandes«, Oswald, d. Red.) Spengler ein »euro-afrikanisches« Land wird.

Diese gegenseitige Exkommunikation ist symptomatisch: Die Brutalität, die seit jeher gegenüber den »niederen Rassen« als legitim betrachtet wurde, beginnt auch im Westen im Verlauf eines Krieges gegen einen Feind um sich zu greifen, der zu einem Angehörigen der Welt der »Barbaren« und der »Wilden« degradiert wird. Schon die Zugehörigkeit Rußlands zur großen zivilisatorischen Familie war etwas problematisch. Mit dem Auftauchen und dem Ausbruch der Antagonismen verschwand jeder Zweifel: Wilhelm II. erklärte, daß der Friede »zwischen Slawen und Germanen überhaupt unmöglich« sei; es sei eine »Rassenfrage«. Der »Endkampf« kündige sich an, wobei »Sein oder Nichtsein der germanischen Rasse in Europa« auf dem Spiel stehe.

Reglementierung der Gesellschaft

Das Jahr 1914 war der Anfang dessen, was zahlreiche Historiker den Zweiten Dreißigjährigen Krieg nennen, eine Gesamtheit und Verknüpfung von Widersprüchen und Konflikten verschiedenartigster Natur, die bis 1945 gewütet haben und ihre Beilegung erst mit der Niederlage der Sowjetunion und dem Triumph des »amerikanischen Jahrhunderts« finden. Im Laufe dieser gigantischen Krise sehen wir, unabhängig von der bolschewistischen Revolution und sogar schon vor ihr, alle konstituierenden Elemente des totalitären und Konzentrationslager-Universums auftauchen, das der historische Revisionismus und das »Schwarzbuch«[1] vom fatalen Oktober 1917 herleiten möchten.

Ein erbarmungsloser Kampf erfordert eine eiserne Disziplin innerhalb des eigenen Lagers: Die Reglementierung der Gesellschaft erreicht ein noch nie dagewesenes Niveau. Dem Staat – merkt Max Weber im Jahre 1917 an – wird heute »›legitime Macht‹ über Leben, Tod und Freiheit zugeschrieben«. Dies gilt auch für die Länder mit alten liberalen Traditionen. Die Exekutive übernimmt diktatorische Machtbefugnisse oder neigt dazu, solche zu übernehmen. Jede Opposition wird ausgeschaltet. In den USA, die sich bekanntlich jenseits des Atlantiks in Sicherheit befinden, kann man zu bis zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt werden, wenn man sich »unredlich, respektlos, vulgär oder widerrechtlich« über irgendeine Handlung der Regierung und deren kriegerische Anstrengung äußert. Noch unangenehmer als die staatliche Repression ist die von Schlägertrupps entfesselte Gewalt von unten, die von der Obrigkeit geduldet, wenn nicht sogar gefördert wird. Jeder Aspekt des täglichen Lebens wird einer eisernen Disziplin und wachsamen Kontrolle unterworfen.

Sieben Tage nach der Kriegserklärung (vom 13.4.1917, d. Red.) ruft Präsident Woodrow Wilson ein »Komitee für die Öffentliche Information« ins Leben, das der Presse jede Woche 22000 Spalten Nachrichten liefert, wobei alles ausgespart wird, was dem Feind möglicherweise nützen könnte; die akademische Sektion dieses Komitees sorgt dafür, auch die hohe Kultur zu reglementieren. Wie ein Experte der im Krieg angewandten Propagandatechniken feststellt, habe man zum Ziel, »die Widerspenstigkeit der Einzelnen im Brennofen des Kriegstanzes zu schmelzen«, »Tausende, ja sogar Millionen von Menschen in einer von Haß, Wollen und Hoffnung amalgamierten Masse zu verschmelzen«, die einen »kampflustigen Enthusiasmus« hat. Überall gelten die gleichen Parolen: »Totale Mobilmachung« und »totaler Krieg«, was – wie in Deutschland General Ludendorff anmerkt – eine »totale Politik« erfordere. Genau hier muß man ansetzen, um die Entstehung des Terminus und der Wirklichkeit des »Totalismus« (wie er anfangs genannt wird) oder des Totalitarismus im eigentlichen Sinn zu erklären.

»Fremde und »Verräter« in KZs

Der Grundsatz der individuellen Verantwortung wird ausgeschaltet: Das zeigen in Italien zum Beispiel die Praxis der Dezimationen [2] und die Ausdehnung der Bestrafung auch auf unschuldige Verwandte von Deserteuren bzw. die in jedem Fall blindlings zuschlagenden Repressalien gegen die Zivilbevölkerung; eine Maßnahme, vor der auch die britische Regierung nicht zurückschreckt, um die 1916 ausgebrochene irische Revolte niederzuschlagen, die sich bis zur Erreichung der Unabhängigkeit seitens der unglücklichen Insel hinzieht.

Die eiserne Faust nimmt ganze ethnische Gruppen ins Visier, die verdächtigt werden, mit dem Feind in Verbindung zu stehen oder Sympathien für ihn zu haben. Nach der Intervention der Vereinigten Staaten im Ersten Weltkrieg poltert Theodore Roosevelt: Es gibt keinen Platz für eine doppelte Loyalität; wer sagt, sich dazu zu bekennen, »ist notwendigerweise zumindest einem Land gegenüber ein Verräter« und er muß »erbarmungslos verfolgt werden«. Von daher der Griff zur Deportation. Erleiden müssen sie die Arme­nier, denen die türkische Regierung die Kollaboration mit dem christlichen und zaristischen Rußland vorwirft, welches seinerseits die Juden deportiert, die verdächtigt werden, auf das Wilhelminische und sozialdemokratische Deutschland als einem möglichen Befreier vom Joch des Antisemitismus zu blicken.

Das erste Kapitel der in Auschwitz mündenden Tragödie des 20. Jahrhunderts sieht als Protagonisten ein mit dem liberalen Westen verbündetes Land, das sich im Krieg gegen Deutschland befindet, welches später zum Vollstrecker der »Endlösung« werden wird. Im Ersten Weltkrieg sind auch die Deutschen gezwungen, Gewalt und Verfolgungen nicht nur im zaristischen Rußland, sondern auch in den USA zu erleiden: Ihr Besitz und ihre Unternehmen werden auf Initiative des Justizministers beschlagnahmt, manchmal werden sie durch ein gelbes Zeichen kenntlich gemacht. Es fehlt auch nicht an Leuten, die die Sterilisierung einer genetisch belasteten Rasse fordern.

Zusammen mit der Praxis der Deportation erscheint auch das Konzentrationslager. Die Institution, die als besonders typisch für das totalitäre Regime gilt, setzt sich schließlich auch in den Ländern mit konsolidierter liberaler Tradition durch. Gleich nach der Oktoberrevolution schlägt in den USA Kenneth McKellar, Senator von Tennessee, die Einrichtung einer Strafkolonie für politische Gefangene auf der (westpazifischen, d. Red.) Insel Guam vor.

Das Konzentrationslager-Universum wird dann im Verlauf des Zweiten Weltkrieges Realität, als Roosevelt die US-Bürger japanischer Herkunft, Frauen und Kinder inbegriffen, und sogar die Japaner Lateinamerikas in Konzentrationslager deportieren ließ. Noch im Jahre 1950 wurde der »McCarran Act« für die Errichtung von sechs Konzentrationslagern in verschiedenen Gebieten des Landes verabschiedet, die politische Gefangene aufnehmen sollten; dieses Gesetz wurde allerdings durch das Veto (des neuen US-Präsidenten Harry S., d. Red.) Truman mit Rücksicht auf Jugoslawien blockiert, das damals faktisch Verbündeter der USA im Kalten Krieg gegen die Sowjetunion war. Zu den Befürwortern des »McCarran Act« gehörten übrigens einige Abgeordnete, die später als Präsidenten der Vereinigten Staaten berühmt werden sollten: John F. Kennedy, Lyndon B. Johnson und Richard Nixon!

Die Verbreitung der für den Totalitarismus typischen Institutionen und Aspekte in den unterschiedlichsten Ländern stellt einen wesentlichen Punkt klar: Mehr als in einer bestimmten Ideologie muß seine Entstehung im Krieg gesucht werden. Man kann eine Definition versuchen: Der Totalitarismus ist das politische Regime, das dem totalen Krieg entspricht, einem Krieg, der dazu neigt, das Verhalten und Denken nicht nur der kämpfenden Bevölkerung (die übergroße Mehrheit der erwachsenen Männer), sondern auch der Bevölkerung im Hinterland (die im produktiven und ideologischen Bereich ebenfalls integraler Bestandteil der totalen Mobilmachung ist) und der Zivilgesellschaft schlechthin einer totalen Kontrolle zu unterwerfen. Es ist klar, daß dieses neue politische Regime je nach objektiver geopolitischer Situation, politischer Tradition und Ideologie unterschiedlich auftritt.

Gerade wegen des engen Zusammenhangs, der ihn an den totalen Krieg bindet, werden die ersten kritischen Analysen des Totalitarismus in der Oppositionsbewegung gegen den Krieg formuliert. Vor allem Nikolai Bucharin warnte vor dem »neuen Leviathan, angesichts dessen die Phantasie Thomas Hobbes’ ein Kinderspiel zu sein scheint«; der russische Revolutionär zeichnete ein präzises und beeindruckendes Bild vom Super-Leviathan, der schließlich auch in dem Staat, in dem er zunächst Führer und später Opfer sein würde, Gestalt annahm.

Rußland als Epizentrum

Der Totalitarismus gelangt zu seiner Vollendung in den beiden Ländern, die sich im Mittelpunkt des Zweiten Dreißigjährigen Krieges befanden. In diesem Sinn ist der Vergleich zwischen Bolschewismus und Nazismus nicht nur gerechtfertigt, sondern auch unvermeidlich. Das bedeutet nicht, den Ansatz jener Historiker zu teilen, die Stalin und Hitler wie zwei parallele Lebensläufe beschreiben, als ob alles mit zwei machtbesessenen und absolut skrupellosen Persönlichkeiten zu erklären wäre: Es geht vielmehr darum, die Antworten zu analysieren, die zwei Bewegungen mit unterschiedlichen und antagonistischen Positionen auf die Herausforderung in zwei objektiven Situationen gegeben haben, die gewisse Ähnlichkeiten aufwiesen.

Konzentrieren wir uns in erster Linie auf Sowjetrußland, das gezwungen war, einem permanenten Ausnahmezustand entgegenzutreten. Untersuchen wir den Zeitraum, der vom Oktober 1917 bis 1953 (Todesjahr Stalins) reicht, so sehen wir, daß er von mindestens vier oder fünf Kriegen und von zwei Revolutionen (beide mit nachfolgendem Bürgerkrieg) gekennzeichnet war. Im Westen folgen auf die Aggression des Wilhelminischen Deutschland (bis zum Frieden von Brest-Litowsk am 3. März 1918) die Aggressionen, die zunächst von der Entente und später von Hitlerdeutschland entfesselt wurden, und endlich ein Kalter Krieg, der von zahlreichen blutigen lokalen Konflikten durchsetzt war und jeden Augenblick Gefahr lief, sich in einen heißen Krieg nicht nur großen Ausmaßes, sondern auch mit Einschluß des Einsatzes der Atomwaffe zu verwandeln.

Im Osten haben wir Japan, das sich erst 1922 aus Sibirien und erst 1925 aus Sachalin zurückzog und das dann mit der Invasion der Mandschurei ein bedrohliches militärisches Aufgebot an den Grenzen der UdSSR einsetzte, die in jedem Fall schon 1938 und 1939, schon vor dem offiziellen Beginn des Zweiten Weltkrieges, in ausgedehnte Grenzgefechte verwickelt wird. Außerdem sind die hier angeführten Kriege totale Kriege, weil ihnen keine Kriegserklärung (zunächst der Entente und später des Dritten Reichs) vorangegangen war, und auch deshalb, weil sie mit Bürgerkrieg und der klaren Absicht der Invasoren verbunden waren, das bestehende Regime zu stürzen: Die Hitlersche Kampagne zielt außerdem ausdrücklich auf die Vernichtung der orientalischen »Untermenschen« ab.

Den Kriegen sind die inneren Umwälzungen und die Bürgerkriege hinzuzufügen. Abgesehen von der Oktoberrevolution muß man sich die Revolution von oben, d.h. die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft und die forcierte Industrialisierung vor Augen halten, die sich ab 1929 entwickelten. Revolution und Krieg sind eng miteinander verknüpft, weil die Kollektivierung und Industrialisierung der ländlichen Gebiete notwendig sind bzw. für notwendig gehalten werden, damit die UdSSR der befürchteten neuen Aggression entgegentreten könne, die Hitler schon klar und deutlich in seinem Buch »Mein Kampf« angekündigt hatte.

Diese »Revolution« von oben und außen, die von Stalin und von Moskau aus den ländlichen Regionen aufgezwungen wird, die von traditionell als Barbaren abgestempelten nationalen Minderheiten bewohnt werden, bildet das entscheidende Moment. Die »Bürde des weißen Mannes« nimmt jetzt eine besondere Gestalt an: Die russische Stadt bemüht sich, mit Waffengewalt die (sozialistische) Zivilisation in die asiatischen ländlichen Regionen zu exportieren. Der ethnische Konflikt verbindet sich mit dem politischen und sozialen: Es gibt sowieso schon den Zusammenstoß zwischen armen oder landlosen und mehr oder weniger wohlhabenden Bauern; dieser wird noch akuter und fanatischer durch das ideologische Herangehen an die Hungertragödie, die in den Städten um sich greift und für die ausschließlich die Geldgier des Kulaken, dieser Art Vampir, verantwortlich gemacht wird. Jede geringste Opposition und jeder Widerstand werden unerbittlich unterdrückt; der Gulag findet nicht nur eine weite Verbreitung, sondern jetzt wird die großangelegte Zwangsarbeit zu einem Element der Produktions- und Rüstungsplanung.

Sowjetrußland, das die Revolte der Sklaven in den Kolonien geschürt hatte, wird am Ende – Ironie der Geschichte – selber einige Charakteristiken der kolonialen Tradition reproduzieren. Man darf hier aber nicht übertreiben. Die Zwangsarbeit ist kein erbliches Verhältnis. Ende 1935 berief sich die Prawda auf eine Erklärung Stalins, wonach »das Kind nicht für den Vater verantwortlich ist«, um die Überwindung der Diskriminierungen anzukündigen, die den Kindern der privilegierten Klassen den Zugang zur Universität verwehrten. Und gerade weil man zur Zwangsarbeit nicht aus Gründen der ethnischen Zugehörigkeit, sondern aus politischer Repression verurteilt wird, gab es auch für die wirklichen »Konterrevolutionäre« einen kleinen Rettungsweg. Interessant ist das Zeugnis eines Schriftstellers, der sicher nicht sanft mit dem Regime umging. Mit Kriegsausbruch eröffnete sich für die Häftlinge ein Ausweg aus dem Gulag, und es ergab sich sogar die Möglichkeit eines sozialen Aufstiegs: »Viele Deportierte wollten sich freiwillig melden […] einige, besonders die überlebenden Offiziere und Techniker, wurden befreit und in ihre Ränge reintegriert.«

Zwei Totalitarismen

Werfen wir jetzt einen Blick auf das andere Land im Zentrum des Zweiten Dreißigjährigen Krieges. Ausgeblutet und besiegt auf den Schlachtfeldern, erschüttert von der Novemberrevolution von 1918, die in der Endphase des Ersten Weltkrieges ausgebrochen war (was den Chauvinisten den Vorwand lieferte, den Mythos von der »Dolchstoßlegende« zu verbreiten), gedemütigt durch den Versailler Vertrag, erlebte Deutschland danach eine verheerende Wirtschaftskrise, die seine innere Zerrüttung noch weiter verschärfte. An die Macht gekommen, entfesselte der Nazismus einen präventiven Bürgerkrieg, um jede nur mögliche Opposition gegen sein revanchistisches Programm auszuschalten und das Schauspiel eines Zusammenbruchs der inneren Front, wie im Jahre 1918 geschehen, unmöglich werden zu lassen. Doch trotz der anfänglichen glänzenden Siege wird das Land am Ende wieder in einen hoffnungslosen Zweifrontenkrieg verstrickt und nicht nur mit regulären Truppen, sondern auch mit dem Partisanenwiderstand konfrontiert, der in allen vom Dritten Reich besetzten Ländern entflammt.

Die Sowjetunion in die Nähe Hitlerdeutschlands zu rücken, weil beide Ausdruck des Totalitarismus im reinsten Sinne des Wortes wären, ist einerseits eine Banalität: Wo sonst hätte das dem totalen Krieg entsprechende politische Regime seine Grundmerkmale ausprägen sollen, wenn nicht in den beiden Ländern, die im Mittelpunkt des Zweiten Dreißigjährigen Krieges standen? Es ist überhaupt nicht erstaunlich, daß das Konzentrationslager-Universum hier eine weitaus brutalere Gestalt angenommen hat als z.B. in den USA, die der Ozean vor der Gefahr einer Invasion schützt und die im gigantischen Zusammenstoß bei weitem weniger Verluste und Zerstörungen erlitten haben als die anderen Hauptgegner.

Etwa eineinhalb Jahrhunderte vorher (September 1787, d. Red.), am Vorabend der Verabschiedung der neuen bundesstaatlichen Verfassung hatte (einer der Gründerväter der USA, d. Red.) Alexander Hamilton erklärt, daß die Beschränkung der Macht und die Errichtung der Rule of Law in zwei inselartigen Ländern Erfolg gehabt habe, die dank des Meeres vor den Bedrohungen der rivalisierenden Mächte geschützt seien. Im Falle eines Scheiterns des Projekts der Union und wenn auf ihren Trümmern ein System von Staaten, wie etwa auf dem europäischen Kontinent, entstünde – hatte der US-amerikanische Staatsmann gewarnt –, würden auch in Amerika die Phänomene des stehenden Heeres, einer starken Zentralmacht und sogar des Absolutismus auftreten. Infolge des totalen Krieges mit den europäischen und asiatischen Großmächten bricht der Totalitarismus auch in die Vereinigten Staaten ein: Im 20. Jahrhundert ist die Insellage kein unüberwindliches Hindernis mehr, doch der jeweils vom neuen politischen Regime gezeigte Grad an Brutalität steht weiterhin mit dem unterschiedlichen geopolitischen Kontext und mit den unterschiedlichen ideologischen und politischen Traditionen in Zusammenhang.

Der permanente Ausnahmezustand ist natürlich nicht nur eine objektive Gegebenheit. Beim Nazismus ist er auch das Resultat eines politischen Programms, das mit seinem Streben nach der Weltherrschaft, den Kriegszustand schließlich permanent werden läßt. Ähnliche Betrachtungen kann man für den Kommunismus anstellen: Während er verbissen die Utopie einer von Widersprüchen und Konflikten unberührten Gesellschaft verfolgt, bringt er schließlich eine Art permanente Revolution und einen permanenten Bürgerkrieg hervor (was sich besonders in der chinesischen »Kulturrevolution« niederschlug). Auch aus dieser Sichtweise ist die Komparatistik völlig legitim.

Doch andererseits ist die Gleichsetzung der Sowjetunion mit Hitlerdeutschland eine Dummheit. Im ersten Fall ist der Totalitarismus das Ergebnis der Verknüpfung zwischen (von außen aufgezwungenem) totalem Krieg und permanenter Revolution mit Bürgerkrieg (zu dem die kommunistische Ideologie reichlich beiträgt). Es ist klar, daß auch das Dritte Reich nicht auf eine bloße Episode gewöhnlicher Kriminalität reduziert werden kann, wie Brecht zu glauben schien, als er »Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui« schrieb. Im Dritten Reich konvergieren drei historische Prozesse: Die Logik des totalen Krieges, die von einem maßlosen imperialistischen Ehrgeiz auf die Spitze getrieben wird; das Erbe der kolonialen Tradition, deren Brutalität eine weitere Radikalisierung erfährt, weil sie versucht, Völker mit einer alten Kultur inmitten Europas auf die Stufe primitiver Stämme zurückzuführen; das Thema der Revolution als Verschwörung, das Hitler veranlaßt, in den Juden die geheimen Drahtzieher des bolschewistischen Oktobers zu erblicken und in der Vernichtung des jüdischen Virus die Rettung Deutschlands und Europas vor der bolschewistischen und asiatischen Gefahr zu suchen. Es muß kaum darauf hingewiesen werden, daß diese historischen Prozesse und ideologischen Motive keineswegs auf die Oktoberrevolution, sondern vielmehr auf die Welt verweisen, gegen die sie sich erheben wollte.

Anmerkungen
  1. Stephane Courtois, Nicolas Werth und Jean L. Panné: Das Schwarzbuch des Kommunismus: Unterdrückung, Verbrechen und Terror, München 1998 (d. Red.)
  2. Eine Militärstrafe, ursprünglich im Römischen Heer, z.B. bei Feigheit vor dem Feind. Per Los wurde jeder zehnte Soldat ausgewählt und hingerichtet (d. Red.)
Erscheint in diesen Tagen: Domenico ­Losurdo, Das 20. Jahrhundert begreifen, PapyRossa Verlag, Köln, 95 Seiten, 8 Euro

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 29. Mai 2013


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