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Plünderungspolitik

Karl Heinz Roth und Jan-Peter Abraham haben eine Studie über das Wirken des Reemtsma-Konzerns auf der Krim zwischen 1941 und 1945 vorgelegt

Von Gerd Bedszent *

Der profitable Einsatz von Zwangsarbeitern während der Naziherrschaft ist für die deutsche Industrie mehrheitlich kein Thema. Man verweist gern auf eine Beteiligung an der Bundesstiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft« zur Entschädigung von nach Deutschland verschleppten Zwangsarbeitskräften.

Relativ wenig bekannt ist, daß der Einsatz von Zwangsarbeitern sich nicht auf das frühere Reichsgebiet beschränkte. Beauftragte deutscher Großunternehmen operierten den gesamten Zweiten Weltkrieg über im Rücken der Wehrmacht und eigneten sich Wirtschaftsstandorte an. Zeitgleich zwangen die Besatzungsbehörden die Bevölkerung der eroberten Gebiete zur Arbeit, teils in beschlagnahmten Industrieanlagen, teil als Zulieferer landwirtschaftlicher Produkte. Ein Beispiel ist die Aneignung von großen Teilen des sowjetischen Tabak­anbaus und der Tabakindustrie durch den deutschen Reemtsma-Konzern. Unter dem Titel »Reemtsma auf der Krim. Tabakproduktion und Zwangsarbeit unter der deutschen Besatzungsherrschaft 1941–1944« weisen Karl Heinz Roth und Jan-Peter Abraham nun in einer Fallstudie die profitträchtige Verstrickung des Unternehmens in Naziherrschaft und Besatzungsterror nach.

Konzern und Nazis

Die Autoren haben zu dem Thema jahrelang Literaturrecherchen betrieben, Akten gesichtet und überlebende Zeitzeugen interviewt. Das Ergebnis ihrer Arbeit geht weit über das ursprüngliche Anliegen der Studie hinaus. Das Buch ist zwar auf ein bestimmtes Wirtschaftssegment beschränkt, liefert aber eine charakteristische Analyse des Funktionierens faschistischer Plünderungspolitik in den besetzten sowjetischen Gebieten.

Detailliert schildern die Autoren zunächst die Konzerngeschichte, weisen nach, daß eine weitgehende Übereinstimmung zwischen den Zielen der Nazis und den Interessen der Unternehmensgruppe bestand. Die Reichsregierung brauchte das Genußmittel Zigarette in ausreichenden Mengen, um auch unter den Bedingungen kriegsbedingter Engpässe in der Lebensmittelversorgung Bevölkerung und Militär bei der Stange halten zu können. Trotz der Abneigung Hitlers und größerer Teile, seiner Parteibasis kam es daher zur dauerhaften Zusammenarbeit mit dem Fastmonopolisten Reemtsma. Bei gelegentlichen Konflikten konnte der Konzern sich meist durch Bestechung durchsetzen. So konnte sich Reemtsma ab Oktober 1941 in den Tabakanbaugebieten der Halbinsel Krim maßgeblich etablieren.

Die Autoren charakterisieren das Regime, das die Wehrmacht gemeinsam mit deutschen Wirtschaftsfunktionären in den besetzten Gebieten aufzog, als auf nackten Raub gerichtet. Tabak­ernten wurden beim Einmarsch deutscher Truppen rigoros beschlagnahmt. Die Bevölkerung, hauptsächlich Frauen und Kinder, wurde gezwungen, sich als Arbeitskräfte registrieren zu lassen. Weigerung und Flucht wurden mit Erschießung oder Internierung geahndet. Eine Bezahlung für monatelange Arbeit gab es häufig gar nicht oder in Form wertloser Gutscheine. Die Entlohnung von Industriearbeitern für ihre oft stark gesundheitsschädliche Arbeit erfolgte meist in sowjetischer Währung, für die ein extrem niedriger Wechselkurs administrativ festgelegt worden war.

Wie die Autoren durch umfängliches Zahlenmaterial nachweisen, hat diese moderne Sklavenarbeit funktioniert und erwies sich als recht profitabel. Obwohl die Besetzung der Krim nur zweieinhalb Jahre währte und der Reichsfiskus beträchtliche Beträge abschöpfte, konnte Reemtsma Millionengewinne einfahren. Dies war möglich durch eine Kombination von offenem Raub der tabakwirtschaftlichen Infrastruktur mit rücksichtsloser Verwertung »extrem billiger und überwiegend unfreier Arbeitskräfte, die mit einer zynischen Mischung aus Terror, Hungerpolitik und Leistungsanreizen konfrontiert waren«.

Aufstandsbewegung

Das System von Plünderung und Repression produzierte Widerstand. Obwohl die Faschisten es zeitweise verstanden, die Bevölkerungsgruppen der damals multiethnischen Krim gegeneinander auszuspielen, waren die Gebirgsregionen die gesamte Besatzungszeit über Operationsgebiet von Partisanengruppen. Landungen der sowjetischen Marine gingen häufig mit Hungerrevolten einher; die Aufständischen töteten dabei erbarmungslos einheimische Kollaborateure und jeden deutschen oder rumänischen Soldaten, der ihnen in die Hände fiel. »Die Deutschen sind keine Menschen, sondern blutrünstige Banditen ohne Gefühl und Gewissen, Banditen, die kaltblütig eure Kinder töten…«, heißt es in einem dokumentierten Aufruf von fünfzehn aufständischen Dörfern. Trotz eines derzahlreicher Geiselerschießungen kam es im November 1943 zu einer allgemeinen Aufstandsbewegung. In der Folge gaben die deutschen und rumänischen Truppen große Teile der Krim als nicht kontrollierbar auf, brannten alle Dörfer nieder und vertrieben die Einwohner. Als am 12. Mai 1944 die letzten faschistischen Truppen von der Krim flüchteten, hinterließen sie verbrannte Erde.

In der Besatzungszeit überlebten etwa 70000 Zivilpersonen, ein Zehntel der Bevölkerung der Krim, Hunger, Krankheiten und das Wüten der Erschießungskommandos nicht. Angehörige der jüdischen Bevölkerung, Roma und psychisch Kranke waren fast ausnahmslos ermordet worden. Wie die Autoren im Nachwort schreiben, entschieden sich kurz nach dem Start ihrer Studie mehrere Erben der damaligen Konzerninhaber zu einer individuellen Entschädigung aller Reemtsma-Zwangsarbeiter. Ein Erbe allerdings, Vermögensmilliardär Herrmann Hinrich Reemtsma, verweigerte sich dem. Seine Reemtsma Cigarettenfabriken GmbH ist derzeit Anteils­eigner verschiedener ukrainischer Tabakhersteller und beherrscht erneut die Krim.

Karl Heinz Roth/Jan-Peter Abraham: Reemtsma auf der Krim - Tabakproduktion und Zwangsarbeit unter der deutschen Besatzungsherrschaft 1941–1944. Edition Nautilus, Hamburg 2011, 576 Seiten, 39,90 Euro

* Aus: junge Welt, 24. Oktober 2011


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