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"Sie zuckten nur mit den Achseln"

Wussten die Deutschen vom Holocaust? Saul Friedländer sagt: "Ja, aber es war ihnen egal"

Im Folgenden dokumentieren wir ein Interview, das mit einem der profundesten Kenner der Geschichte des Holocaust, Saul Friedländer, geführt wurde. Anlass: Die 65. Wiederkehr des Tages, an dem die sog. "Wannsee-Konferenz" stattfand (20. Januar 1942), jene Zusammenkunft hochrangiger Vertreter von nationalsozialistischen Reichsbehörden und Parteidienststellen, die den begonnenen Holocaust an den Juden im Detail organisierten. Im Zentrum des Interview die viel gestellte Frage, ob und wie viel die Deutschen von alledem gewusst hatten.



Wie konnte ein kulturell so hochentwickeltes Volk wie die Deutschen zu einem der größten Verbrechen der Weltgeschichte fähig sein – zur Vernichtung der europäischen Juden? Vor allem dieser Frage widmet sich der 1932 in Prag als Kind deutschsprachiger Juden geborene und in den USA lebende Historiker Saul Friedländer seit nahezu einem halben Jahrhundert. Mit seinem großen dreiteiligen Werk "Das Dritte Reich und die Juden", "Die Jahre der Verfolgung 1933-1939" und "Die Jahre der Vernichtung 1939-1945" hat er die erste umfassende Gesamtdarstellung der Tragödie des europäischen Judentums im 20. Jahrhundert vorgelegt. Mit dem Geschichtsprofessor sprach Adelbert Reif.

Neues Deutschland: Sie sehen ideologisch-kulturelle Faktoren als wesentliche Triebkräfte der NS-Judenpolitik an. Ist der Mord an den Juden eine Art »kulturhistorisches Phänomen«?

Friedländer: Im gewissen Sinne ja. Aus meiner Sicht erklären sich deren Verfolgung und Vernichtung nicht als eine Art »Nebenprodukt« der Politik Hitlers. Sie war, wurzelnd in den nationalsozialistischen Wahnvorstellungen, sein Hauptziel. Hitler sah die Juden als einen »aktiven Feind«, der das kämpfende Deutschland zugrunde richte.

Der Holocaust erwuchs nicht aus antisemitischen Traditionen?

Daniel Goldhagens Theorie, nach der die Deutschen von einem Jahrhundertealten Hass gegen die Juden erfüllt gewesen seien, der dann im Holocaust seinen radikalsten Ausdruck fand, ist falsch. Die Menschen waren vom Regime überzeugt, das auf allen medialen Kanälen seine antijüdische Propaganda zu verbreiten verstand.

Aber wie konnte diese Ideologie auf so fruchtbaren Boden fallen?

Der Holocaust erwuchs aus einer Weltkrise der liberalen Gesellschaft. Wenn Sie auf das Jahr 1940 zurückblicken, als Hitler seinen Höhepunkt erreicht hatte, dann sehen Sie, dass in nahezu jedem Land Europas autoritäre bis diktatorische rechtsgerichtete Regime herrschten. Hitler war die zentrale Kraft, Deutschland die zentrale Macht. Aber ohne diese Koalition von Ideologien, vielfach sozial-antisemitisch oder religiös-antisemitisch, aber in jedem Fall autoritär ausgerichtet waren und von Salazar in Portugal bis zu Horthy in Ungarn und Antonescu in Rumänien reichten, hätte Hitler sein Ziel, die Vernichtung der Juden, in diesem kolossalen Ausmaß nicht verfolgen können.

Lässt sich die Frage, wie der Holocaust möglich war, derart endgültig beantworten?

Das ist die große Frage. Wenn wir uns der mittleren Reihe von Tätern zuwenden, Technokraten wie dem SS-Bauleiter Hans Kammler oder Albert Ganzenmüller, dem Organisator der Transporte der Reichsbahn in die Vernichtungslager, dann begegnen wir verbissenen Nazis, die unerschütterlich sowohl an Hitler wie an das politische Programm des Nationalsozialismus glaubten. Es ist eben nicht wahr, dass es im Nationalsozialismus eine »höchste Instanz« gab und alle anderen dem Regime auf unterschiedliche Weise nur dienten, um Karriere zu machen. Von heute aus betrachtet, kann man nur fassungslos sein angesichts der extremen Schrecklichkeit des Geschehenen. Aber wenn man systematisch zu rekonstruieren versucht, stößt man auf jene Triebkräfte, die die NS-Mordmaschinerie in Bewegung hielten.

Und natürlich auf jene vielen, die zuschauten. Wie viele Deutsche wussten um die Verbrechen?

Sie wussten viel früher und viel mehr, als man bisher dachte und als ich zu ahnen gewagt hätte. Die Berichte des Sicherheitsdienstes, die ziemlich präzise die öffentliche Stimmung beschrieben, belegen dies eindeutig. Man sprach überall davon, aber nicht etwa mit Entsetzen oder Grauen, sondern eher achselzuckend: So sei es nun einmal. Allerdings fürchteten die meisten Deutschen, irgendwann für diese Verbrechen bestraft zu werden. Schon als die alliierten Bomben auf Deutschland fielen, meinten viele, darin eine Bestrafung durch Gott zu erkennen.

Ab wann genau wussten die Deutschen vom Massenmord?

Das lässt sich schwer bestimmen. Das eigentlich Schreckliche ist jedoch, dass die Opfer selbst das ihnen zugedachte Schicksal zunächst nicht wahrnehmen wollten. In die Ghettos wurden Kleider von bereits ermordeten Juden zum Aussortieren geschickt, in denen sich häufig Zettel mit kurzen Mitteilungen über das Schicksal ihrer einstigen Besitzer fanden. Trotzdem glaubten die meisten der zur Disposition stehenden Opfer an eine Zukunft als Lebende. Sie redeten von ihrem baldigen Tod und entwarfen gleichzeitig Pläne für eine imaginäre Zukunft.

Wie beurteilen Sie die hartnäckige Verweigerung vieler Wissender, sich nach dem Krieg mit den Verbrechen auseinanderzusetzen? Ein psychologisches Problem?

Nachdem ich herausfand, wie frühzeitig große Teile der deutschen Bevölkerung von den Verbrechen an den Juden erfahren hatten und wie viel sie darüber wussten, ohne darüber bestürzt zu sein, bekam ich auch ein anderes Bild von der deutschen Nachkriegszeit. Eine überwiegende Mehrheit der Deutschen war besonders in den ersten Jahren der Herrschaft Hitlers von bestimmten Grundprämissen des Nationalsozialismus überzeugt und akzeptierte diese auch später mehr oder weniger. So konnte von ihnen auch keine aufrichtige Reue über das Geschehene erwartet werden. Dass wir es mit einer Unterdrückung im psychologischen Sinne zu tun haben, bezweifle ich.

Wie weit ist die Holocaust-Forschung heute?

Das ist eine schwierige Frage. Denn ich weiß nicht, was man nicht weiß. Für mich ist das Verhalten der beiden großen Kirchen von besonderem Interesse. Dass niemand in der religiösen Welt eines Landes wie Deutschland, einschließlich Österreichs und des Protektorats, es wagte, sich auf so klare Weise zur Judenvernichtung zu äußern wie der Bischof von Münster Clemens Graf von Galen zur Euthanasie, ist merkwürdig und bedrückend. Natürlich lässt sich dieses Schweigen mittlerweile rekonstruieren. Aber man möchte es doch etwas sicherer wissen, um es angemessen beurteilen zu können: Hat Papst Pius XII. geschwiegen, weil er spürte, dass die nationalen Bischofskonferenzen – auch die polnische und die ungarische – nicht über die Judenfrage sprechen wollten? Oder haben die nationalen Kirchen geschwiegen, weil der Papst selbst nie ein klares Wort zur Judenfrage äußerte?

Sie sagten vor Jahren, es sei schwer vorstellbar, dass eine solch einzigartige Konstellation politischer Faktoren wie jene, die 1933 die Nazis an die Macht brachten, erneut eintreten könne ...

Heute bin ich davon nicht mehr so überzeugt. Inzwischen sind viele radikale religiöse Ideologien auf den Plan getreten: In den USA haben wir Millionen evangelikaler Fundamentalisten mit zum Teil sehr extremen politischen Ansichten. Es gibt auch eine kleinere Gruppe jüdischer Fundamentalisten, sowohl in den USA wie in Israel. Und wir haben den Fundamentalismus der Islamisten mit weltweiter Ausstrahlung. Alle drei Fundamentalismen – der christliche, jüdische und islamische – können unter gewissen politischen Konstellationen zu einer existenziellen Bedrohung für die Menschheit werden. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass erneut extremer Glaube und extremer Hass in die Geschichte eingetreten sind.

* Aus: Neues Deutschland, 20. Januar 2007


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