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Die Schuldfrage

Die Geschichte eines Untergangs – die "Wilhelm Gustloff"

Von Horst Diere *

Die Versenkung der »Wilhelm Gustloff« durch das sowjetische U-Boot S-13 am 30. Januar 1945 war in der alten Bundesrepublik seit den 1950er Jahren zunehmend Gegenstand zahlreicher Veröffentlichungen. Galt doch der Untergang des einstigen KdF-Schiffs und der Tod von über 9000 Menschen in den eisigen Fluten der Ostsee – die meisten davon zivile Flüchtlinge aus dem 1944/45 mit der ganzen Wucht des von Hitlerdeutschland verursachten Krieges getroffenen ehemaligen Ostpreußen – häufig als die bis dahin größte Schiffskatastrophe. Die näheren Umstände, die sie herbeiführten, sind immer wieder mehr oder weniger sachlich beschrieben und erörtert worden.

In der DDR-Historiographie fand der Untergang der »Gustloff« lediglich marginale Erwähnung. Auch die während des Kalten Krieges im Westen Deutschlands in eher antisowjetischer Absicht aufgeworfene Frage, ob die Versenkung der »Gustloff« völkerrechtlich überhaupt zu rechtfertigen war, fand längst eine klare Antwort: das Schiff war ein »legitimes Ziel«, denn es hatte Hunderte von U-Boot-Spezialisten an Bord und war mit Flak-Geschützen bestückt.

Der von Bill Niven, Professor für Zeitgenössische Deutsche Geschichte an der Nottingham Trent University, herausgegebene Sammelband über die »Wilhelm Gustloff« will deshalb nicht noch einmal den Untergang des Schiffes rekonstruieren, sondern die bislang »unterbelichteten Aspekte« ihrer Geschichte in den Vordergrund rücken, nämlich »die Geschichte ihrer Erinnerung in Film, Literatur, Ausstellungen, historischer Forschung oder im öffentlichen Gedenken«. Der Band präsentiert den wissenschaftlichen Ertrag von zehn Autoren. Ausgehend von einem umfangreichen Vorwort des Herausgebers, bietet das Buch in zwölf Kapiteln erstmals eine wissenschaftlich fundierte umfassende, faktenreiche und allseitige Behandlung des »Gustloff«-Themas.

Natürlich wird zunächst die Vorkriegsgeschichte der »Gustloff« in kritischer Auseinandersetzung mit glorifizierenden Darstellungen des NS-Reisebetriebs »Kraft durch Freude« (KdF) behandelt. Von der Indienststellung als Lazarettschiff in den ersten Tagen des Zweiten Weltkriegs über die Verwendung als schwimmende Kaserne für die Angehörigen der 2. U-Boot-Lehrdivision in dem in Gotenhafen umbenannten Gdingen (Gdynia) bis zu ihrer Verwendung als zwiespältiges »Flüchtlingsschiff« in der »Operation Hannibal« und ihrer schließlichen Versenkung wird gezeigt, wie eng die »Wilhelm Gustloff« von Anfang bis Ende in die deutsche Kriegführung eingebunden war. Das Beispiel »Cap Arcona«, versenkt durch britische Flugzeuge am 3. Mai 1945 in der Lübecker Bucht, zeigt, dass am Ende des Krieges mehrere Schiffe auch genutzt wurden, um KZ-Häftlinge in faschistischer Gewalt zu behalten.

In den Beiträgen über das unterschiedliche Gedenken in West und Ost bis 1990 an den Untergang der »Gustloff« wird – dem Zeitgeist entsprechend – bedauerlicherweise nicht darauf verzichtet, das Fantasma vom »verordneten Antifaschismus« in der DDR und eines angeblichen »antifaschistischen Mythos« zu kolportieren. Das geschieht auch in dem Aufsatz, der sich der Geschichte der Gustloff-Werke in Thüringen annimmt und der Buchenwald-Häftlinge gedenkt, die beim Bau des Gustloff-Werks II zu Tode geschunden wurden.

Gut die Hälfte des umfangreichen Bandes ist der »Nachgeschichte« der Katastrophe gewidmet. Dazu gehören das Marine-Ehrenmal in Laboe als Erinnerungsstätte an die Flucht über die Ostsee, die diversen Filme über die »Gustloff« wie auch der Roman von Günter Grass »Im Krebsgang«. Im Fokus steht mithin die Frage nach dem Umgang in Nachkriegsdeutschland mit den deutschen Opfern und Leiden. Mehrfach wird im Buch registriert, dass seit einem reichlichen Jahrzehnt versucht wird, die Deutschen vornehmlich als Opfer zu reklamieren und so die Darstellung von Faschismus und Krieg neu zu akzentuieren, deutsche Schuld und Verantwortung zu relativieren. Dahingegen lassen die hier versammelten Beiträge keinen Zweifel daran, dass die Verbrechen, Opfer und Leiden nach 1939 von Deutschland ausgingen. Kritisiert wird der 2008 ausgestrahlte zweiteilige Fernsehfilm »Die Gustloff«, der den politischen und ideologischen Kontext größtenteils aussparte.

Bill Niven (Hg.). Die Wilhelm Gustloff. Geschichte und Erinnerung eines Untergangs. Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 2011. 387 S., geb., 24,90 €.

* Aus: Neues Deutschland, 25. August 2011


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