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Weder Rechtsanwalt noch Richter

Jakow S. Drabkin über seine Kriegserlebnisse, seine Forschung und die Verantwortung des Historikers

Er ist dieser Tage neunzig Jahre alt geworden - und doch wissenschaftlich noch höchst aktiv. Anfang Juni wird er in Konstanz vor der Deutsch-Russischen Historikerkommission reden. Mit dem Moskauer Wissenschaftler sprach für das "Neue Deutschland" Gerd Kaiser.



Neues Deutschland: Nicht nur als Historiker, auch als Soldat sind Sie mit deutscher Geschichte verbunden, mit deren schwärzestem Kapitel.

Jakow S. Drabkin: Ich war von 1941 bis 1945 an der Front. Wir Soldaten der Roten Armee waren zutiefst davon überzeugt, dass Nazideutschland niedergerungen werden muss, nicht nur, um die Sowjetunion von faschistischer Okkupation zu befreien, sondern auch das unter deutschem Stiefel leidende Europa. Es waren vier schwere Jahre, drei Jahre trugen wir an der Ostfront die Hauptlast des Krieges. Erst im Sommer 1944 eröffneten unsere westlichen Verbündeten die lange versprochene Zweite Front.

Den militärischen Sieg, den die Völker der Sowjetunion unter größten Opfern im Mai 1945 errangen, heftete sich jedoch dann Stalin an die Brust.

Ja, der mit riesigen und häufig auch unnötigen Verlusten erkämpfte Sieg wurde in einen politischen und moralischen Triumph Stalins umgemodelt.

Wie konnte man das dulden? Wie überhaupt Stalins Diktatur?

Stalin wurde vergöttert. Und lange Zeit hielten wir die Grausamkeiten in unserem Land für eine Folge des Kampfes gegen die inneren und äußeren Gegner des Sozialismus. Wir glaubten, dass die angewandten Mittel einem hehren Ziel dienten. Wir hatten auch gehofft, der Zweite Weltkrieg sei der letzte Krieg. Diese Hoffnung hat sich nicht erfüllt, wie heutige Kriege um Macht und Einfluss beweisen. Eine blutige Linie zieht sich von Korea und Vietnam über Afghanistan bis hin zum Balkan und Irak.

Deutsche Soldaten sind wieder im Kriegseinsatz. Die Bundeswehr hat bereits mehrere Tote zu beklagen. Was kann man tun, damit junges Leben bewahrt wird?

Im Zweiten Weltkrieg habe ich mit meinen Kameraden, zu denen auch Lew Kopelew gehörte, versucht, das Leben unserer wie auch der deutschen Soldaten zu retten. Und zwar mittels Flugblätter und über Grabenlautsprecher. Wir riefen die deutschen Soldaten dazu auf, die Waffen niederzulegen und zu desertieren. Ich denke, wir haben nicht wenigen das Leben gerettet. Kopelew, den wir, seine Kameraden, aber auch deutsche Kriegsgefangene seines schwarzen Schnurrbarts wegen den »schwarze Major« nannten, hat später im sogenannten Wuppertaler Projekt deutsche und russische Wissenschaftler, zu denen auch ich gehörte, zusammengeführt. Um, ungeachtet unterschiedlicher Prägungen und weltanschaulicher Sichten, die Entstehung von Vorurteilen gegenüber dem vermeintlich Fremden, dem angeblichen Feind zu analysieren -- zwecks ihrer Überwindung. Deutsche und Russen waren ja keineswegs immer nur Gegner.

Sie sind den langen Weg von Stalingrad nach Berlin marschiert und konnten, als der Sieg errungen war, nicht gleich wieder in die Heimat zurück.

Ich war im Frühjahr 1945 im eben befreiten Frauenkonzentrationslager Ravensbrück. Und ich war dabei, als der Schriftsteller Hans Fallada im mecklenburgischen Feldberg als Bürgermeister eingesetzt wurde. Ich habe mich, zunächst in Magdeburg und in Dresden und schließlich als Kulturoffizier in Berlin unter Oberst Tulpanow, bemüht, bei der Schaffung antifaschistischer, demokratischer Verhältnisse in Deutschland mitzuhelfen. Das ist in mancher Beziehung geglückt, konnte jedoch andererseits nicht bzw. nur unvollständig gelingen -- durch den bald beginnenden Kalten Krieg und das stalinistische System in der Sowjetunion. 1949 wurde ich aus der Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland abgezogen und habe eine akademische Lehr- und Forschungsarbeit in der UdSSR aufgenommen.

Sie studierten vor dem Krieg?

Ja, an der Moskauer Lomonossow-Universität. Bereits damals und erst recht nach dem Krieg, als Kulturoffizier, habe ich mich für deutsche Geschichte interessiert. Meine Dissertation befasst sich mit der Entstehungsgeschichte der Weimarer Republik.

Über die Revolution, die erst die Weimarer Republik ermöglichte, die deutsche Novemberrevolution von 1918, haben Sie eine Trilogie verfasst. Doch nur zwei Bände sind auf Deutsch erschienen.

Die Arbeit am dritten Band »Probleme und Legenden«, eine Analyse der Historiografie zur deutschen Revolution von 1918/19, war Ende der 80er Jahre abgeschlossen und erschien 1990 in Moskau. Der Berliner Verlag der Wissenschaften, der auch die vorherigen zwei Bände herausgebracht hat, konnte die vorgesehene deutsche Ausgabe des dritten Bandes nicht mehr verwirklichen. Die deutsche Vereinigung ließ das Vorhaben scheitern.

Die russische Ausgabe des dritten Bandes endet mit einem Kapitel, das mit einer Frage überschrieben ist: »Der Beginn eines Dialogs?«

Der Dialog ist seinerzeit mit Historikern der DDR begonnen worden, inzwischen haben sich neue Möglichkeiten wissenschaftlicher Arbeit und Kooperation eröffnet.

Inwiefern?

Hinsichtlich der Erforschung der diachronen Vertikalen nationaler Entwicklungen als auch die synchronen Horizontalen internationaler Entwicklungen. Wachsende Bedeutung erfahren die subjektiven Faktoren, Persönlichkeiten, Massen, Klassen, Parteien, Gewerkschaften und Verbände unterschiedlichster Art. Historiker haben heute weitgehend ungehinderten Zugang zu den Quellen und können über Grenzen hinweg zusammenarbeiten. Zu Zeiten der deutschen Zweistaatlichkeit konnte ich nur die Archive in Potsdam, Ostberlin und Merseburg aufsuchen. Das Bundesarchiv in Koblenz war mir wie auch allen anderen Historikern der UdSSR versperrt.

Es mehren sich Klagen über den nunmehr wieder erschwerten Zugang zu Archiven in Russland - nach großzügiger Öffnung Anfang der 90er Jahre. Warum haben diese einige Bestände dicht gemacht?

Unter anderem, weil Archive nicht Steinbrüche sind für schnell zusammengeschusterte Dokumentationen und sie auch nicht dem Raubbau für ideologisch motivierte Publikationen dienen sollten. Seriösen, akribisch arbeitenden Forschern wird der Zugang nicht erschwert. Nur jenen, die meinen, aus selektiven Aktenfunden politisches Kapital schlagen zu können. Schwierigkeiten ergeben sich auch aus der Tatsache, dass große Aktenbestände noch nicht gesichtet und archivalisch aufbereitet sind. Und schließlich gilt auch in Russland das Recht auf Persönlichkeitsschutz, das Sperrfristen von 30 oder gar 70 Jahren bedeuten kann.

Woran arbeiten Sie derzeit?

Jetzt steht der Abschluss eines gemeinsamen Forschungsprojekts russischer und deutscher Historiker an, die Herausgabe einer umfassenden Quellenedition über »Die Komintern und die Idee der Weltrevolution«. Ich habe 1998 einen Band zum Thema in Moskau herausgegeben. Gemeinsam mit deutschen Historikern, unter ihnen Hermann Weber aus Mannheim und Bernhard H. Bayerlein aus Köln, wird die Publikation in einem deutschen Verlag vorbereitet; mit einem Vorwort von Weber und einem von mir. Alle Originaltexte sind übrigens in der Hand der deutschen Wissenschaftler. Sie hatten ungehinderten Zugang zu den Aktenbeständen.

Die Komintern ist ein Kind der Revolutionen von 1917/18. Sie sind zwischen der russischen und deutschen Revolution geboren worden. Hat dies die Wahl Ihres Forschungsthemas beeinflusst?

Ich weiß es nicht. An die Vorsehung glaube ich nicht. In der Tat habe ich Mitte der 50er Jahre eine Debatte über die Novemberrevolution in Deutschland angestoßen. Ich habe aber auch biografische Forschung betrieben, etwa über »Die Aufrechten«: Karl Liebknecht, Clara Zetkin und Rosa Luxemburg.

Welche Verantwortung messen Sie einem Historiker zu, also Ihnen und Ihren Kollegen?

Ein Historiker darf sich weder als Richter noch Rechtsanwalt und schon gar nicht als Staatsanwalt in Sachen Geschichte aufspielen. Reue von Entscheidungsträgern historischer Prozesse erwarte ich nicht, unabdingbar aber ist allzeit eine kritische Bestandsaufnahme. Als Mann der Wissenschaft versuche ich nach gründlichem Studium der Quellen und unerlässlicher Quellenkritik ein wahrheitsgetreues Bild des Vergangenen zu zeichnen, bei dem Politik, Persönlichkeiten, soziale und psychologische Komponenten gleichermaßen, in ihren Zusammenhängen wie auch Widersprüchen, beachtet werden und sich zu einer Einheit fügen. Das Urteil steht dann dem mündigen Leser zu.

* Aus: Neues Deutschland, 3. Mai 2008


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