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Der Rädelsführer

Ludwig Baumann hat die Rehabilitierung der Wehrmachtsdeserteure erkämpft. Zur Ruhe gesetzt hat er sich danach nicht. Heute wird er 90 Jahre alt

Von Ulrike Gramann *

»Ludwig Baumann!« Die helle Stimme im Telefonhörer schwingt nach oben, Baumann ist auf dem Sprung. An diesem Novembermorgen reist er nach Gießen, um die Wanderausstellung »Was damals Recht war... - Soldaten und Zivilisten vor Gerichten der Wehrmacht« zu eröffnen. Die Ausstellung zeigt die Verbrechen der NS-Militärjustiz, die über 20 000 Deserteure, »Wehrkraftzersetzer« und »Kriegsverräter« ermorden ließ. Getragen von der Stiftung »Denkmal für die ermordeten Juden Europas«, fand sie in bislang 23 Städten statt. Baumann war jedes Mal dabei. Der Wehrmachtsdeserteur hat, nicht ohne tiefe Verletzungen, die Verfolgung in KZ, Zuchthaus und Strafbataillon überlebt. 1990 gründete er mit 37 anderen Überlebenden die Bundesvereinigung »Opfer der NS-Militärjustiz«. Viele Menschen haben daran mitgewirkt, dass die Unrechtsurteile der Blutjustiz aufgehoben wurden. Doch ohne Ludwig Baumanns Beharrlichkeit, mit der er außerparlamentarische Unterstützer und Bundestagsabgeordnete für dieses Ziel einnahm, wäre es kaum gelungen.

Den nun 90-jährigen Bremer einen »rüstigen Rentner« zu nennen, ist zu harmlos: Der zierliche Mann, der selten die Stimme hebt, ist Vollzeitaktivist. Seit vielen Jahren tritt er als Zeitzeuge in Schulen auf, jede Woche, bundesweit. Dazu kommen Veranstaltungen an Orten des Gedenkens, Tagungen, Interviews, Vernetzungsarbeit. In diesem Spätherbst 2011 ist ihm der Kampf um ein Deserteursdenkmal in Hamburg am wichtigsten. Am Stephansplatz, gleich beim Dammtorbahnhof, steht noch immer der »Kriegsklotz«.

Dieses Denkmal für Gefallene des 1. Weltkriegs wurde 1936 errichtet. Es zeigt heldentümelnde Reliefs von Soldaten in Wehrmachtsuniform und die Aufschrift »Deutschland muss leben, und wenn wir sterben müssen«. Um den Betonquader wird seit Jahrzehnten gestritten. 2010 ergriff ein Bündnis aus historisch, antifaschistisch und antimilitaristisch arbeitenden Gruppen die Initiative, mit einem Deserteursdenkmal ein politisches Gegengewicht zu schaffen. Aus Hamburg, berichtet Baumann, stammten viele Wehrmachtsdeserteure, 350 sind aktenkundig, von denen 200 hingerichtet wurden. Er vermutet, dass es in Wahrheit weit mehr waren.

Das Gedenken an diesem Ort liegt ihm besonders am Herzen: »In Hamburg bin ich geboren. Meine Mutter ist extra von Altona, das damals preußisch war, nach Hamburg gefahren, damit ich ein Hamburger Junge werde. Ich bin da zur Schule gegangen und eingezogen worden. Und dorthin bin ich nach dem Krieg völlig kaputt zurückgekommen. Für mich ist es ein Traum, ein Deserteursdenkmal in Hamburg mitzuerleben.« Gerade hat er sich bei einer Tagung über »Wehrmachtsjustiz und Kriegerdenkmäler« dafür eingesetzt. Allein zwischen Ende Januar und Mitte Februar 2012 wird er dreimal unterwegs sein, um bei Zeitzeugengesprächen und einer Woche des Gedenkens für das Denkmal zu werben. In seiner charakteristischen Art, keinen Unterschied zwischen sich und anderen zu machen, die das gleiche wollen, fügt er hinzu: »Ich denke, dass wir es schaffen können.«

Baumann hat nicht gezählt, wie oft er von seiner Desertion berichtet hat, von den zehn Monaten, in denen er jeden Morgen damit rechnete, dass die Tür aufgeht und sie ihn zur Hinrichtung holen. Davon zu sprechen, heißt jedes Mal, sich der existenziellen Bedrohung erneut gegenüberzusehen. Sein ganzer Lebensweg wird ihm damit wieder gewärtig: »Wenn junge Leute so unbedarft fragen, habe ich auch neue Antworten. Man weiß ja nicht so ganz genau, was man damals gedacht hat.« Er will sich nichts zurechtmachen, im Nachhinein. Jugendliche würden andere Fragen stellen als Journalisten, zum Beispiel, ob seine sechs Kinder alle gewollt gewesen wären. (Sie waren es nicht.) Taktlos findet er diese Art zu fragen nicht, denn sie bringt ihm die Erinnerung zurück. »Darum sind meine Veranstaltungen meistens nicht so Routine«, sagt er.

Unter der Oberfläche spürt Baumann bei den Jüngeren »eine große Sehnsucht« nach Dingen, die ernster, wichtiger seien als Konsum. Gerade Mädchen seien dafür offen. Manche berichten ihm nach seinem Besuch, dass sie eine Gruppe gegründet haben, »für Gerechtigkeit und die dritte Welt«. Andere würden sagen: »Das ist doch Utopie, wovon Sie reden: nicht die Erde zu zerstören.« Er entgegnet dann, wir könnten es schaffen, nicht durch Verzicht, sondern indem wir erkennen: »Das bescheidene Leben ist das schönere Leben.« Zu einem guten Leben gehört für ihn beides, der Kampf um Gerechtigkeit und der Kampf für den Frieden. Davon lässt er sich nicht abbringen. »Für mich ist wichtig, dass ich aktiv sein kann. Wenn ich nicht kämpfen würde, würde ich krank.«

Im Alter kamen traumatische Erfahrungen oft mit Wucht zurück. Dann hält es ihn nicht in der Wohnung, obwohl die hell ist, großzügig, aufgeräumt. »Dann muss ich raus.« Meistens nimmt er das Fahrrad und fährt in die Landschaft. Wenn das Wetter es zulässt, macht er auch seinen obligatorischen Mittagsschlaf im Freien.

Ludwig Baumann ist ein letzter Zeuge, einer der letzten überlebenden Wehrmachtsdeserteure. Vielleicht gebe es noch den einen oder anderen, einen, der nie darüber spricht, irgendwo, unter letzten alten Kameraden, die bis heute glauben, Desertion sei strafwürdiger Verrat. Baumann hat seit Gründung der Bundesvereinigung nicht nur politische Erklärungen abgegeben. Er wirft sein ganzes Leben in die Waagschale, spricht offen über Schmerz, Verdrängung und Schuld. Er erzählt, wie er nicht auf die Beine kam im Wirtschaftswunderdeutschland, sondern das Erbe vertrank. Wie er sich, nachdem seine Frau bei der Geburt des sechsten Kindes starb, mühsam vom Alkohol löste, Hilfe annahm, die Kinder allein großzog. Dass es seine Kinder belastete, immer wieder mit den Erlebnissen des Vaters konfrontiert zu werden. Er sagt das vor der Presse, vor Schulklassen und Politikern. So sehen die Folgen der Folter und des erlittenen Unrechts aus. Diese Aufrichtigkeit bewirkt Glaubwürdigkeit. In nur wenigen Jahren wandelte sich die öffentliche Meinung über Wehrmachtsdeserteure. Glaubten 1990 die Bundesbürger mehrheitlich, dass sie Feiglinge und Straftäter seien, hielt sie bereits fünf Jahre später ein Drittel für Widerständler, ein Zehntel für Helden, und 90 Prozent waren für ihre Rehabilitierung. Der Bundestag brauchte bis 2002, im Fall der »Kriegsverräter« bis 2009, um zu dieser Erkenntnis zu gelangen.

Zu seinem 90. Geburtstag gibt es eine große Feier in Bremen, das will er eigentlich nicht. Er lächelt, als er das sagt. Wie wäre es, wenn Kurt Oldenburg, Baumanns Freund, der mit ihm desertierte, verurteilt wurde und im Strafbataillon ums Leben kam, dabei sein könnte? Wenn er die Aufhebung auch seines Urteils erlebt hätte? Da erzählt Ludwig Baumann, dass er Kurts Mutter nach dem Krieg einige Male besucht habe. Es sei schwer für sie gewesen. Aus den Akten ging hervor, Baumann sei der Rädelsführer gewesen, und sie hatte davon erfahren. Baumann hatte überlebt, ihr Sohn nicht. War Ludwig Baumann denn der Rädelsführer? »Ich glaube, ja«, sagt er. Er lächelt nicht.

* Aus: neues deutschland, 13. Dezember 2011

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