1. Weltkrieg: Annexionsprogramm des Deutschen Reiches
Dokumentiert: Kriegsziel-Richtlinien von Reichskanzler Bethmann Hollweg
Im Folgenden dokumentieren wir das Annexionsprogramm des deutschen Reiches für den Krieg 1914.*
Kriegsziel-Richtlinien von Reichskanzler Bethmann Hollweg vom 9. September 1914 z. Hd. des Staatssekretärs Clemens v. Delbrück
Euerer Exellenz
übersende ich in der Anlage eine vorläufige Aufzeichnung über die Richtlinien unserer Politik beim Friedensschluß, die ich hier habe anfertigen lassen. Wenn auch der Krieg noch nicht entschieden ist und es eher den Anschein hat, als gelänge es England, seine Bundesgenossen in einem Widerstand ŕ outrance festzuhalten, so werden wir doch für die Eventualität plötzlicher Verhandlungen, die dann nicht in die Länge gezogen werden dürfen, gewappnet sein müssen. Über das wirtschaftliche Programm eines mitteleuropäischen Zollverbandes haben wir ja kurz nach dem Ausbruch des Krieges mündlich gesprochen und eine Übereinstimmung in den Grundzügen feststellen können.
Es käme nun darauf an, im Einvernehmen mit dem Auswärtigen Amt die einzelnen Probleme vorbereitend so zu klären, daß es bei eventuellen Verhandlungen über einen Präliminarfrieden möglich ist, schnell das Richtige zu treffen und in kurzen Formeln die richtige Grundlage für den späteren schwierigen Aufbau zu finden. (...)
Das allgemeine Ziel des Krieges:
Sicherung des Deutschen Reichs nach West und Ost auf erdenkliche Zeit. Zu diesem Zweck muß Frankreich so geschwächt werden, daß es als Großmacht nicht neu erstehen kann, Rußland von der deutschen Grenze nach Möglichkeit abgedrängt und seine Herrschaft über die nichtrussischen Vasallenvölker gebrochen werden.
Die Ziele des Krieges im einzelnen:
1. Frankreich. Von den militärischen Stellen zu beurteilen, ob die Abtretung von Belfort, des Westabhangs der Vogesen, die Schleifung der Festungen und die Abtretung des Küstenstrichs von Dünkirchen bis Boulogne zu fordern ist. In jedem Falle abzutreten, weil für die Erzgewinnung unserer Industrie nötig, das Erzbecken von Briey. Ferner eine in Raten zahlbare Kriegsentschädigung; sie muß so hoch sein, daß Frankreich nicht imstande ist, in den nächsten 15–20 Jahren erhebliche Mittel für Rüstungen aufzuwenden. Des weiteren: ein Handelsvertrag, der Frankreich in wirtschaftliche Abhängigkeit von Deutschland bringt, es zu unserem Exportland macht und uns ermöglicht, den englischen Handel in Frankreich auszuschalten. Dieser Handelsvertrag muß uns finanzielle und industrielle Bewegungsfreiheit in Frankreich schaffen, so daß deutsche Unternehmungen nicht mehr anders als französische behandelt werden können.
2. Belgien. Angliederung von Lüttich und Verviers an Preußen, eines Grenzstriches der Provinz Luxemburg an Luxemburg. Zweifelhaft bleibt, ob Antwerpen mit einer Verbindung nach Lüttich gleichfalls zu annektieren ist. Gleichviel, jedenfalls muß ganz Belgien, wenn es auch als Staat äußerlich bestehen bleibt, zu einem Vasallenstaat herabsinken, in etwa militärisch wichtigen Hafenplätzen ein Besatzungsrecht zugestehen, seine Küste militärisch zur Verfügung stellen, wirtschaftlich zu einer deutschen Provinz werden. Bei einer solchen Lösung, die die Vorteile der Annexion, nicht aber ihre innerpolitisch nicht zu beseitigenden Nachteile hat, kann franz. Flandern mit Dünkirchen, Calais und Boulogne mit großenteils flämischer Bevölkerung diesem veränderten Belgien ohne Gefahr angegliedert werden. Den militärischen Wert dieser Position England gegenüber werden die zuständigen Stellen zu beurteilen haben.
3. Luxemburg wird deutscher Bundesstaat und erhält einen Streifen aus der jetzt belgischen Provinz Luxemburg und eventuell die Ecke von Longwy.
4. Es ist zu erreichen die Gründung eines mitteleuropäischen Wirtschaftsverbandes durch gemeinsame Zollabmachungen, unter Einschluß von Frankreich, Belgien, Holland, Dänemark, Österreich-Ungarn, Polen und eventl. Italien, Schweden und Norwegen. Dieser Verband, wohl ohne gemeinsame konstitutionelle Spitze, unter äußerlicher Gleichberechtigung seiner Mitglieder, aber tatsächlich unter deutscher Führung, muß die wirtschaftliche Vorherrschaft Deutschlands über Mitteleuropa stabilisieren.
5. Die Frage der kolonialen Erwerbungen, unter denen in erster Linie die Schaffung eines zusammenhängenden mittelafrikanischen Kolonialreichs anzustreben ist, desgleichen die Rußland gegenüber zu erreichenden Ziele werden später geprüft. (...)
6. Holland. Es wird zu erwägen sein, durch welche Mittel und Maßnahmen Holland in ein engeres Verhältnis zu dem Deutschen Reiche gebracht werden kann. Dies engere Verhältnis müßte bei der Eigenart der Holländer von jedem Gefühl des Zwanges für sie frei sein, an dem Gang des holländischen Lebens nichts ändern, ihnen auch keine veränderten militärischen Pflichten bringen, Holland also äußerlich unabhängig belassen, innerlich aber in Abhängigkeit von uns bringen. Vielleicht ein die Kolonien einschließendes Schutz- und Trutzbündnis, jedenfalls enger Zollanschluß, eventuell die Abtretung von Antwerpen an Holland gegen das Zugeständnis eines deutschen Besatzungsrechtes für das befestigte Antwerpen wie für die Scheldemündung wäre zu erwägen.
* Aus: Europastrategien des deutschen Kapitals 1900-1945, hg. von Reinhard Opitz. Köln 1977
Wiederveröffentlicht in der Wochenendbeilage der "jungen Welt" vom 4. September 2004
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