Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Überholt und eingekesselt

Geschichte. Befreiung Südosteuropas eingeleitet: Am 20. August 1944 begann die Schlacht von Iai-Kischinjow. Die Rote Armee zerschlug eine der größten Gruppierungen der Wehrmacht mit weitreichenden Folgen

Von Martin Seckendorf *

Im Verlauf der am 22. Juni 1944 begonnenen Offensive unter der Deckbezeichnung »Bagration« konnte die Rote Armee binnen fünf Wochen bis an die Reichsgrenze Ostpreußens, in die Warschauer Vorstadt Praga und an die Rigaer Bucht vorstoßen. Die Heeresgruppe Mitte wurde zerschlagen. Die südlich davon stehende Heeresgruppe Nordukraine zog sich schwer angeschlagen in die Karpaten zurück. Im Südteil der deutsch-sowjetischen Front herrschte dagegen seit Mai 1944 relative Ruhe. Ab 20. August 1944 änderte sich dort die Lage dramatisch. Die Rote Armee brachte der Wehrmacht erneut eine desaströse Niederlage bei. Zum zweiten Male im Jahr 1944 wurde eine ganze Heeresgruppe ausgelöscht - diesmal in nur wenigen Tagen.

Befestigter Frontbogen

Im Ergebnis der militärischen Entwicklung im Sommer 1944 war in Rumänien und in der Moldauischen Sowjetrepublik ein etwa 400 Kilometer nach Osten reichender Frontbogen entstanden. Die Front verlief von der Dnjestr-Mündung am Schwarzen Meer nordwestwärts dem Flußlauf folgend. Nach 250 Kilometern bog sie nach Westen ab, überquerte die Flüsse Pruth und Sereth und endete auf der Höhe westlich von Tschernowzy am Rande der Ostkarpaten. In dem Frontbogen hatte die Wehrmacht die äußerst kampfstarke Heeresgruppe Südukraine stationiert. Ihr unterstanden zwei deutsche und zwei rumänische Armeen mit zusammen über 50 Divisionen. Die rumänischen Truppen waren weitgehend mit deutschen Waffen und Gerät ausgerüstet. Deutsches Lehrpersonal sorgte für einen hohen Ausbildungsstand. Die Kampfpause hatte die Heeresgruppe genutzt, um tief gestaffelte, befestigte Stellungen zu bauen. Eine Achillesferse in der Kampfkraft der Heeresgruppe bildete nach Auffassung der deutschen Militärs die verbreitete Kriegsmüdigkeit der rumänischen Soldaten. Deshalb schob man deutsche Divisionen als »Korsettstangen«, wie es im Wehrmachtsjargon hieß, in die Front der rumänischen Verbände.

Kriegsentscheidende Bedeutung

Die deutsche Führung maß der Heeresgruppe Südukraine angesichts der gesamten Kriegslage enorme Bedeutung bei. Solange die Front im Bereich der Heeresgruppe hielt, war das nach der Schlacht am Kursker Bogen im Juli 1943 (siehe jW-Geschichte v. 28/29.6.2008). entwickelte hochspekulative Konzept der strategischen Verteidigung noch nicht gescheitert. Die Faschisten wollten hinter verkürzten Frontlinien Zeit gewinnen und neue Kräfte mobilisieren. Sie hegten auch die Hoffnung, daß mit der Zeit die Anti-Hitler-Koalition zerbrechen werde. Das Halten der Heeresgruppenfront beeinflußte in entscheidendem Maße die politische Einstellung der deutschen Vasallen Ungarn, Bulgarien und Rumänien. In den drei Ländern gab es starke Kräfte, die seit einiger Zeit intensiv Kontakt zu den Westalliierten suchten. Abkommen mit den Westmächten unter Ausschluß der Sowjetunion sollten die Länder aus dem faschistischen Bündnis herausführen, einen Einmarsch sowjetischer Truppen verhindern und deren tradierte halbfeudal-kapitalistische Ordnungen in die Nachkriegszeit retten. Die Heeresgruppe Südukraine hatte die Aufgabe, durch den Anschluß an die auf dem Balkan stehenden Heeresgruppen E und F eine geschlossene Frontlinie vom Oberlauf des Dnjestrs bis an die Südspitze Griechenlands zu gewährleisten. Das Aufrechterhalten dieser Frontlinie stand im Mittelpunkt der Weisung Hitlers vom 24. Juli 1944 an den neuen Oberbefehlshaber der Heeresgruppe, Generaloberst Johannes Frießner. Er solle alles unternehmen, »damit der Russe unter keinen Umständen entlang der Donau vorstoßen kann und Ihre Heeresgruppe von der Heeresgruppe F trennt«.

Die geschlossene Frontlinie sicherte auch die weitere wirtschaftliche Ausbeutung Südosteuropas. Die Rohstoff- und Nahrungsmittellieferungen aus dieser Region erhielten angesichts der Lage für die Fortsetzung des Krieges durch Nazideutschland strategische Bedeutung. Die Hälfte des deutschen Mineralölimports kam aus Rumänien. In nennenswertem Umfang konnte Öl noch aus Ungarn und Albanien, das nach Rumänien der zweitgrößte Öllieferant Deutschlands war, beschafft werden. Ungarn und Griechenland deckten fast vollständig den deutschen Bedarf an dem Aluminiumrohstoff Bauxit. Jugoslawien lieferte mehr als ein Viertel des deutschen Kupferbedarfs und ebenso wie Ungarn beträchtliche Mengen an Nahrungs- und Futtermitteln. Ungarn war zudem der einzige Manganlieferant. Die Bedeutung der Rohstoffe Südosteuropas für die deutsche Rüstung geht aus einer Denkschrift von Rüstungsminister Albert Speer vom 12. November 1943 an Hitler hervor. Sollten bei der Beschaffung des Legierungsmetalls Chrom »der Balkan und damit auch die Türkei« als Lieferanten ausfallen, sei nach etwa zehn Monaten »ein Auslaufen der verschiedenen wichtigsten Rüstungszweige (sämtliche Flugzeuge, Panzer, Kraftfahrzeuge, Panzergranaten, U-Boote, fast die gesamte Geschützfertigung)« unvermeidlich. Auch führende Militärs wiesen der Ausbeutung Südosteuropas eine kriegsentscheidende Rolle zu. Am 26. Juli 1944 unterstrich der stellvertretende Chef des Wehrmachtsführungsstabes, Walter Warlimont, die »außerordentliche und kriegsentscheidende Bedeutung des Balkans auf kriegswirtschaftlichem Gebiet (Chrom)«.

Cannae des 20. Jahrhunderts

Der Heeresgruppe Südukraine standen zwei sowjetische Fronten gegenüber (eine sowjetische Front entsprach etwa einer Heeresgruppe der Wehrmacht). Von den Ostkarpaten bis zum ­Dnjestr verlief der Abschnitt der 2. Ukrainischen Front unter Rodion Jakowlewitsch Malinowski. Entlang des Dnjestrs bis zum Schwarzen Meer stand die 3. Ukrainische Front unter Fjodor Iwanowitsch Tolbuchin. Die sowjetischen Fronten waren der deutschen Heeresgruppe an Artillerie, Panzern und Flugzeugen deutlich überlegen.

Ende Juli 1944 befahl das sowjetische Oberkommando, die seit längerem geplante Großoffensive gegen die Heeresgruppe Südukraine durchzuführen. Die Heeresgruppe sollte zerschlagen, die Moldauische Sowjetrepublik befreit sowie Rumänien und Bulgarien gezwungen werden, aus dem faschistischen Bündnis auszusteigen. Damit wären günstige Bedingungen für die Befreiung Südosteuropas geschaffen worden. Die Konzeption für die Offensive sah vor, die Großverbände der Heeresgruppe einzukesseln und gleichzeitig den Stoß in die operative Tiefe zu führen. Die 2. Ukrainische Front hatte die Aufgabe, zwischen den Flüssen Pruth und Sereth westlich von Iai die faschistische Verteidigung zu durchbrechen und südwärts in die zentralen Teile Rumäniens vor allem nach Bukarest und in das Erdölgebiet Ploiesti vorzudringen, dabei mit den Flügeln des Angriffskeils die westlich des Pruth stehende rumänische 4. und die östlich des Pruth befindliche deutsche 6. Armee einzuschließen. Die 3. Ukrainische Front sollte aus dem Raum Tiraspol vom Osten her die Verteidigung an der Nahtstelle zwischen der 6. deutschen und der 3. Rumänischen Armee durchbrechen und zusammen mit der von Norden kommenden 2.Ukrainischen Front die 6. deutsche Armee im Raum Iai-Kischinjow einschließen. Zusammen mit Kräften der sowjetischen Schwarzmeerflotte war gleichzeitig die 3. rumänische Armee südlich Tiraspol einzukesseln sowie zur Donau und an die bulgarische Grenze vorzustoßen. Die Rote Armee konnte auf die reichen Erfahrungen zurückgreifen, die sie bei den Kämpfen gegen die faschistische Heeresgruppe Mitte im Juni/Juli 1944 gewonnen hatte. Dazu gehörten die Bildung starker Angriffsgruppierungen im geplanten Durchbruchsraum, die den Faschisten personell und technisch um ein Vielfaches überlegen waren, der spezielle Einsatz von Artillerie und Infanterie in der Durchbruchsphase, die Einführung schneller und gepanzerter Verbände in die nur wenige Kilometer breiten Durchbruchstellen, die Erringung der uneingeschränkten Lufthoheit und das enge Zusammenwirken aller Waffen.

Die deutschen Militärs haben den Grundgedanken der sowjetischen Offensive erst erkannt, als schon drei der vier Armeen der Heeresgruppe Süd­ukraine eingekesselt waren und die Rote Armee gleichzeitig mit überlegenen schnellen Kräften in die operative Tiefe vorstieß. Bis dahin glaubte man, der erwartete Angriff westlich des Pruths in Richtung Süden sei der Hauptstoß, während die Offensive bei Tiraspol nur Fesselungsangriffe wären. So gewaltige Umfassungsoperationen bei gleichzeitigen Vorstößen in die Tiefe, wie sie das sowjetische Konzept vorsah, hielt man nicht für möglich.

Am Sonntag, dem 20. August 1944, eröffneten beide sowjetischen Fronten mit gewaltigem Artilleriefeuer die Offensive. Über die stark befestigten Stellungen der Faschisten fegten mehrere Feuerwalzen hinweg. Die sowjetische Artillerie hatte in den Durchbruchszonen eine Dichte erreicht, die selbst jene in den Eröffnungsschlachten bei »Bagration« noch übertraf. Bis zu 260 Rohre pro Frontkilometer wurden eingesetzt. Das Artilleriefeuer fügte den faschistischen Truppen schwere Verluste zu. Die personellen Ausfälle bei den Faschisten betrugen bis zu 50 Prozent. Außerdem wurden die tiefgestaffelten, stark befestigten und verminten Stellungen weitgehend zerschlagen. Die überlegene sowjetische Luftwaffe schaltete die deutschen Artillerie, das Rückgrat der Verteidigung der Heeresgruppe, aus und verhinderte die Zuführung von Reserven. Beide sowjetische Fronten setzten zu Angriffsbeginn mehr als 3000 Maschinen ein. Im Schutze der Feuerwalzen der Artillerie erzwangen Infanterieverbände den Durchbruch durch die deutschen Linien. In die Durchbruchstellen wurden gepanzerte Verbände eingeführt, die die faschistischen Großverbände umfaßten und gleichzeitig den Stoß in die Tiefe führten.

Von besonderer Bedeutung für den weiteren Verlauf der Operationen war, daß es den sowjetischen Truppen schon am dritten Tag der Offensive gelang, die deutsche 6. Armee östlich des Pruth im Raum Iai-Kischinjow einzuschließen. Die Armee galt als der kampfstärkste Großverband der Heeresgruppe Südukraine. Sie war aus den Resten der im Februar 1943 in Stalingrad vernichteten 6. Armee neu aufgestellt, personell aufgefüllt und mit modernen Waffen ausgerüstet worden. Bei der Einkesselung und anschließenden Vernichtung der 6. Armee kam der sowjetischen 5. Stoßarmee unter Nikolai Erastowitsch Bersarin besondere Bedeutung zu. Sie erhielt die komplizierte Aufgabe, die Ostfront der eingeschlossenen 6. Armee zu halten und nachfolgend den Dnjestr zu forcieren, obwohl sie zuvor einen Großteil ihrer Artillerie an die weiter südlich angreifenden Durchbruchsarmeen zur Schaffung artilleristischer Schwerpunkte in den Durchbruchszonen abgegeben hatte. Danach beteiligte sich die 5. Stoßarmee an der Zerschlagung der 6. Armee. Am 24. August überwanden Bersarins Soldaten die tiefgestaffelten deutschen Verteidigungslinien am Westufer des Dnjestrs und befreiten die Hauptstadt der Moldauischen Sowjetrepublik Kischinjow. Bersarin wurde 1945 erster Stadtkommandant von Berlin und erwarb sich große Verdienste bei der Ingangsetzung zivilen Lebens in der stark zerstörten Millionenstadt. Dafür wurde er 1975 Ehrenbürger (Ost-)Berlins. Nach dem Anschluß Ostberlins an den Westteil der Stadt setzte 1992 eine Fronde reaktionärer Politiker durch, Bersarin die Ehrenbürgerwürde abzuerkennen. Das führte zu heftigen Protesten im In- und Ausland, so daß 2003 dieser Frevel beseitigt werden mußte.

Die 6. Armee wurde im August 1944 vollständig zerschlagen. Während das Gros der Soldaten fiel oder den bitteren Weg in die Gefangenschaft antreten mußte, konnte sich ein erstaunlich großer Teil der Offiziere des Armeeoberkommandos zusammen mit dem Oberbefehlshaber, General der Artillerie Maximilian Fretter-Pico, in Sicherheit bringen. Darunter war auch der Chef des Generalstabs der 6. Armee, Heinz Gaedecke. Er wurde 1957 Kommandeur der Führungsakademie der Bundeswehr. Auch die zur Unterstützung der 6.Armee eingesetzte 10. Panzergrenadierdivision wurde zerschlagen. Fast alle Soldaten wurden getötet oder gingen in Gefangenschaft. Eine bemerkenswert große Anzahl von Offizieren des Divisionskommandos konnte sich dem Zugriff der Roten Armee entziehen. Darunter auch der Erste Generalstabsoffizier der Division, Ulrich de Maizière. Er wurde nach 1945 Generalinspekteur der Bundeswehr.

Während die Außenflügel der sowjetischen Angriffskeile die Einschließung der deutschen und rumänischen Großverbände vollendeten, drang die Masse der sowjetischen Truppen zügig in das Innere Rumäniens und bis zur Donau vor. Die nicht eingeschlossenen deutschen Soldaten flohen panikartig, meist ohne Verbandszusammenhang Richtung Karpaten, von den motorisierten Verbänden der Roten Armee immer wieder überholt und eingekesselt. Dabei wurde auch der vierte Großverband der Heeresgruppe, die deutsche 8. Armee, fast zur Hälfte aufgerieben. Am 29./30. August gelang der Sowjetarmee die Besetzung des Ölgebietes von Ploiesti sowie der Verladehäfen ­Giurgiu an der Donau und Konstanta. Im Kriegstagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht heißt es dazu: »Die deutsche Benzinversorgung ist schwer getroffen.« Noch Ende 1943 hatte die deutsche Generalität Hitler versichert, die Treibstoffversorgung für 1944 könne als gesichert gelten, außer wenn eine »tödliche Gefahr für das rumänische Erdölgebiet« eintrete (siehe hierzu auch »Ende mit Schrecken« von Dietrich Eichholtz, jW-Thema vom 29.6.2009). Dieser Fall war am 30. August 1944 erfolgt. Einen Tag später zogen sowjetische Truppen in das bereits von Aufständischen befreite Bukarest ein. Am 5. September erreichte die Rote Armee die Nordostgrenze Bulgariens und bei Turnu Severin die jugoslawische Grenze. Der Weg in die ungarische Tiefebene in der allgemeinen Richtung Budapest-Wien und Belgrad war offen.

Das Konzept der sowjetischen Offensive und die wendig geführten Operationen veranlaßten einen Wehrmachtsgeneral, der an den Kämpfen als Regimentskommandeur teilgenommen hatte, rückblickend zu der Einschätzung, die sowjetische Militärführung habe sich bei der Schlacht »in einer ausgesprochenen Hochform« befunden, ihr wäre ein »vollendetes Cannae« gelungen. Nahe der apulischen Stadt hatte 216 v.u.Z. der Karthager Hannibal überlegene römische Truppen vernichtend geschlagen. Die Schlacht bei Cannae gilt in der Kriegsgeschichte als klassisches Beispiel einer Umfassungsoperation.

Die personellen Verluste der Wehrmacht waren enorm und mit jenen der Schlacht um Stalingrad vergleichbar. Etwa 150000 Soldaten waren gefallen, über 100000 in Gefangenschaft geraten. Hitler resümierte am 31. August 1944: »Eine größere Krise als die, die wir in diesem Jahr schon einmal im Osten erlebten, kann man sich nicht vorstellen.«

Dramatische politische Folgen

Schon in den ersten Tagen der sowjetischen Offensive zeichneten sich weitreichende politisch-militärische Folgen ab.

Am 23. August wurde der rumänische Diktator Ion Antonescu gestürzt. Hinter dem Umsturz stand ein breites Bündnis unter Führung der Kommunisten und Sozialisten, das seit längerem auf einen Ausstieg Rumäniens aus dem Bündnis mit Nazideutschland und den König zum Handeln drängte. Die deutsche Führung glaubte, daß es sich bei der Absetzung Antonescus um eine Intrige des Hofes handele und befahl am 24. die Besetzung Bukarests. In diesen dramatischen Stunden bewahrte die Rote Armee Rumänien vor dem Schicksal Italiens, das ein Jahr zuvor den »Absprung« gewagt hatte und dafür von der Wehrmacht grausam niedergeworfen worden war. Wegen der sowjetischen Offensive standen der Wehrmacht nur schwache Kräfte zur Verfügung. Der deutsche Angriff auf Bukarest brach schnell zusammen. Am 25. August erklärte die neue Regierung dem Nazireich den Krieg. Die rumänischen Streitkräfte kämpften seitdem unter sowjetischem Oberbefehl gegen die Wehrmacht.

Durch den schnellen Vorstoß der Roten Armee riß die deutsche Front vollkommen auseinander. Zwischen Karpaten und Donau klaffte eine 200 Kilometer breite Lücke, für die kein deutscher Verband mehr zur Verfügung stand. Schon am 23. August beschloß daher das Oberkommando der Wehrmacht, die Heeresgruppe E aus Griechenland abzuziehen. Sie sollte zusammen mit der in Jugoslawien stehenden Heeresgruppe F eine Front gegen die Rote Armee an der Donau aufbauen. Als der Rückzug aus Griechenland begann, stellten die Deutschen fest, daß die überlegene britische Luftwaffe die deutschen Schiffs- und Marschkolonnen nicht attackierte, sondern sie unbehelligt nach Norden abziehen ließ. Der Sonderbevollmächtigte Südost meldete nach Berlin, »daß (die) Engländer unsere Leute schon im Hinblick auf einen kommenden, auch im britischen Interesse liegenden Einsatz gegen die Bolschewisten bewußt herauslassen.« Nur die Griechische Volksbefreiungsarmee ELAS griff die abziehenden Truppen an. Dadurch erreichten sie verspätet, abgekämpft und ohne schwere Waffen den Nordwesten Jugoslawiens. In die Kämpfe an der Donau konnten sie nicht mehr eingreifen. Die Rote Armee befreite zusammen mit der Jugoslawischen Volksbefreiungsarmee am 20. Oktober Belgrad.

Schon am 8. September hatte ein Volksaufstand in Sofia das monarcho-faschistische System hinweggefegt. Die neue bulgarische Regierung erklärte Deutschland am 9. September den Krieg.

In Ungarn forcierten der »Reichsverweser« Miklós Horthy und seine Umgebung als Folge des sowjetischen Vormarsches die seit längerem unternommenen Versuche zum Ausstieg aus dem Krieg. Am 15. Oktober verkündeten sie einen Waffenstillstand. Die Deutschen setzten Horthy ab und errichteten mit ihrer Marionette Ferenc Sálasi eine faschistische Diktatur, die als Verbrecherregime schlechthin galt.

Die Schlacht von Iai-Kischinjow brachte nicht nur eine weitere gravierende Schwächung der Wehrmacht, sie ließ auch binnen weniger Wochen das faschistische Vasallen- und Okkupationsregime in Südosteuropa zusammenbrechen. In vielen Ländern der Region konnten die durch die Erfolge der Roten Armee gestärkten Befreiungskräfte die erzreaktionären, sozial extrem ungerechten Strukturen beseitigen und den Aufbau alternativer Gesellschaftsmodelle einleiten.

* Dr. Martin Seckendorf ist Historiker und Mitglied der Berliner Gesellschaft für Faschismus- und Weltkriegsforschung e.V.

Aus: junge Welt, 19. August 2009



Zurück zur Seite "Kriegsgeschichte"

Zurück zur Homepage