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Auf undeutlicher Spur

Was dachten die Deutschen über die Nazis, das Regime und den Krieg?

Von Kurt Pätzold *

Beim ersten Lesen oder Hören erscheinen die Reden von Naziführern als einzige Aneinanderreihung weltanschaulicher und politischer Phrasen. Wer eine gehört hat, kennt alle. Vermeintlich. Die Geschichtswissenschaft hat sie hingegen als ergiebige, wenn auch nicht verlässliche Quelle ausgemacht, in der sich Situationen spiegeln und aus denen sich herausfiltern lässt, was die Machthabenden von Stimmungen und Meinungen im Volke wahrnahmen und wie sie darauf reagierten. Das demonstriert Götz Aly mit der Analyse der Rede Hermann Görings, dessen Rolle als »Stimmungskanone« des Regimes häufig unterschätzt wird.

Jener sprach am 3. Oktober 1942 im Berliner Sportpalast zum »Erntedank«. Zu diesem Zeitpunkt war unabweisbar, dass die Wehrmacht auch in diesem Jahr an der Ostfront mit dem Gegner nicht »fertig« werden würde und das Ende des Krieges in unbestimmbar weite Ferne gerückt war. Die befürchtete Atempause, die der Überfall auf die UdSSR für Großbritannien bedeutete, war samt Folgen eingetreten, spürbar im sich ausweitenden Luftkrieg über den deutschen Städten. Versprechungen, für eine bessere Versorgung mit Nahrungsmitteln zu sorgen, Verheißungen des Sieges, Horrorbilder über die Zukunft der Deutschen im Fall einer Niederlage, Drohungen gegen »Feiglinge« – das war des Reichsmarschalls Repertoire. Rückschlüsse auf Meinungen und Stimmungen im Reich liegen nahe, werden bestätigt durch Berichte des Sicherheitsdienstes und weitere Quellen, zu denen Tagebücher gehören.

Dennoch: Das Bedürfnis, die jeweiligen Bindungskräfte zwischen der Führung und den Millionen der »Volksgenossen« nach ihrer Stärke und den sie ausmachenden Faktoren zu bestimmen, ist auf Seiten der Historiker ungestillt. Was an ihren Aussagen ist gesichert, was nur wahrscheinlich, was wird lediglich vermutet, was ist gar Fantasieprodukt?

Das vorliegende Buch prüft und will die Basis der Aussagen befestigen. Seine Autoren, Studierende der Universität Frankfurt (Main) und ihr Lehrer, der Herausgeber, nahmen sich dazu wenig oder unbeachtete Quellen vor. Wie viele Deutsche gaben ihren Kindern in der Mainmetropole Vornamen von Naziführern? Wie entwickelte sich das Sparen? Wie verlief die Kurve der Todesurteile des Volksgerichtshofes? Welche Texte wählten Familien für die Annoncen eines »Heldentodes« in Zeitungen der Stadt? Es zeigen sich Bekenntnisse, Meinungen, Stimmungen und Haltungen – in Kurven, ein Auf und ein Ab. Keine überraschenden Ergebnisse. Das gilt für die abnehmende Zahl der Adolf-Getauften ebenso wie für die absteigende Kurve der Texte, die den Tod eines Angehörigen nicht allein auf den Altar von Volk und Vaterland, sondern auch auf den des Führers schrieben. Dass Messergebnisse im zweiten Halbjahr 1942, als der Krieg ins vierte Jahr ging, auf ein Anwachsen von Zweifeln und Skepsis schließen lassen und nicht erst das Desaster von Stalingrad eine Wende hervorrief, ist einleuchtend. Ein Aufwand vertan? Keineswegs. Der Initiator weiß auch, dass die Ergebnisse nicht leichthin verallgemeinerungsfähig sind. Merkwürdig dann aber seine beweislose Behauptung von der »anhaltenden innenpolitischen Schwäche« des Regimes im Sommer 1941. Doch eine Anregung ist gegeben, weiter nach Wegen zu fahnden, das Geheimnis der Stabilität des Regimes zu enthüllen.

Aly hat das verdienstvolle Vorhaben jedoch nicht nur unter der Frage nach der Gefolgstreue zu einem verbrecherischen Regime unternommen. Er folgt – durch keine Kritik beeindruckt – dem Vorsatz, die These von der »Gefälligkeits-« und »Wohlfühldiktatur« zu erhärten, eine abstruse Fehldeutung des Wesens der faschistischen Diktatur, die er in seinem, im vergangenen Jahr erschienenen Buch »Hitlers Volksstaat« pubik machte. Die Sprachbilder (von Begriffen lässt sich nicht reden) sind weder dem Denken noch der Praxis der Führungsgruppe um Hitler angemessen, die vor und nach 1933 einzig nach Methoden der Machtbefestigung fragte und, eingedenk der Erfahrungen des Ersten Weltkriegs, Zugeständnisse an die Massen als notwendige Bedingung ansahen, um sie funktionstüchtig zu halten – nicht anders, als würde ein Tier gefüttert oder eine Maschine geölt, die ihre Dienste wunschgemäß tun sollen. Zu dem Konstrukt gehört die Überbewertung materieller, obendrein einzig auf das Befinden der Mägen reduzierter Faktoren für das Verhalten der Deutschen; Starargument: »Fresspakete der Fronturlauber«. Denn es soll auch in diesem Buch dabei bleiben: Die Deutschen waren ein »Volk der kleinen Profiteure, Mitläufer und Schweiger«. Die Flick und Krupp und anderen Großverdiener hat der wendige Historiker nachträglich – mit Verlaub – »entvolkt«. Abgeschoben ins Nirgendwo.

Götz Aly (Hg.): Volksstimme. Skepsis und Führervertrauen im Nationalsozialismus. Fischer, Frankfurt (Main) 2006. 224 S., geb., 12,95 EUR

* Aus: Neues Deutschland, 2. November 2006


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