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Ein diplomatisches Schurkenstück

Vor 75 Jahren konnte Italien Äthiopien erobern – Prolog der Appeasement-Politik, Prolog des Krieges

Von Kurt Pätzold *

Am 27. September 1935 traf sich der US-amerikanische Botschafter William M. Dodd in Berlin mit seinem französischen Kollegen in der Absicht, von ihm »etwas über den italienisch-äthiopischen Krieg zu erfahren«. Es fand eine Unterhaltung über einen Krieg statt, der noch gar nicht begonnen hatte. Dessen Ausbruch Tage später, man schrieb den 3. Oktober, überraschte aber niemanden. Zu offensichtlich war die Begierde des Mussolini-Regimes, seinen Kolonialbesitz am Osthorn Afrikas, das Ende des 19. Jahrhunderts besetzte Italienisch-Somaliland, auf Kosten des benachbarten Kaiserreichs gewaltsam zu vergrößern.

Kriegerische Provokationen hatten den Kriegszug angekündigt. Den Großmächten blieb mithin hinreichend Zeit, ihre eigene Stellung zur Aggression, über deren Ausgang es angesichts des Kräfteverhältnisses Zweifel nicht geben konnte, zu bestimmen. Sie wären bei gemeinsamem Handeln in der Lage gewesen, den Duce von dem Vorhaben abzubringen, und sie besaßen dafür satte Gründe. Denn nach dem Bild, das sie sich vom Diktator in Rom machen konnten, mussten sie diese Eroberung als den Auftakt weiterer ansehen, sowohl in Afrika wie auf dem Balkan. Jedoch: Zu ihrer Intervention kam es nicht und dies aufgrund eines verwickelten Geflechts widerstreitender Kalküle, die am Ende eine Politik des »Laissez faire« aller zeitigten. Die Folge war das Ende eines afrikanischen Staates, der Mitglied des Völkerbundes war.

In der Downingstreet konnte der Kurs Italiens am wenigstens mit Blick auf Ägypten und den Suezkanal gefallen. Denn, setzten sich die italienischen Faschisten in Äthiopien fest, entstand in dieser Region eine doppelte unwillkommene Nachbarschaft. Auch Frankreich besaß, wenn auch nicht gleichstark, neben Machtinteressen im Westteil des Mittelmeers solche auch an dessen Ostrand, und die schlossen ebenfalls Desinteresse an einer Stärkung seines Nachbarn im Süden ein. Doch war da noch Deutschland, das damit beschäftigt war, aufzurüsten. Mussolini in den Arm zu fallen, so die Befürchtung in London und Paris, könnte ihn an die Seite des Nazireichs treiben. Sollten dem Duce nicht besser Konzessionen gemacht werden, statt gegen ihn Boykottmaßnahmen zu ergreifen?

An Möglichkeiten dazu fehlte es nicht. Der Aggressor wäre augenblicklich in Schwierigkeiten geraten, wenn ihm der Energie- und vor allem der Ölhahn zugedreht worden wären. Die sich darauf zu verständigen hätten, waren die beiden europäischen Großmächte im Westen, Frankreich und Großbritannien, sowie die USA und das damals ölreiche Rumänien. Der Vorsatz platzte, ehe er recht gefasst war. Im Dezember 1935 – die italienischen Eroberer kamen unter Verwendung von Giftgas voran – einigten sich der französische Ministerpräsident Pierre Laval und der britische Außenminister Samuel Hoare bei einem Treffen in Paris darauf, das Mussolini-Regime ruhig zu stellen. Ihre Vorherrschaft im Völkerbund ausnutzend, sollte Äthiopien gezwungen werden, seiner Amputation zuzustimmen und den Eroberern weite Landesteile auszuliefern.

Das diplomatische Schurkenstück blieb indessen nicht geheim. Es hagelte internationale Empörung. Hoare musste sein Amt quittieren. Doch die Italienpolitik wurde nicht geändert. Im Völkerbund blieb es bei der bloßen verbalen Verurteilung des Aggressors. Und in Berlin sann der vielseitig informierte Dodd über etwas nach, wovon er »indirekt erfahren« hatte, nämlich dass »holländische, englische und amerikanische Ölfirmen – Shell, Sinclair und Standard – in London und Paris einen Druck ausgeübt hätten, um ... besonders die Ölsanktionen zu unterbinden«. Erfahrungen aus seinem Lande sagten ihm, dass dem wohl so gewesen sein könne, denn »die Finanzmächte haben bisher in Amerika außergewöhnliche Dinge bewerkstelligt«.

Das äthiopische Kaiserreich war im Mai 1936 erobert und wurde zu einer italienischen Kolonie gemacht. Kaiser Haile Selassie war ins Exil geflohen. Zu seinem Nachfolger erklärte sich der italienische König Vittorio Emanuele. Der Völkerbund hatte sich erneut, wie vordem schon angesichts der japanischen Eroberung der Mandschurei, gleichsam bis auf die Knochen blamiert. Er war ein Leichnam, wenn auch dessen Todesurkunde erst Jahre später ausgestellt wurde. Die europäischen Kleinstaaten, namentlich die Osteuropas und da wieder insbesondere die des Balkans, saßen vor einem Lehrstück darüber, dass sie im Falle eigener Bedrohung nicht auf Beistand rechnen konnten. Also suchten sie sich besser mit den deutschen Machthabern zu stellen. Großbritannien und Frankreich hatten durch die Begünstigung von Italiens Eroberungspolitik für einen kommenden europäischen Krieg nichts gewonnen, jedoch mehr als nur Ansehen verloren.

Hauptgewinner war das Nazireich, dessen Machthaber sich anfänglich zurückgehalten hatten, dann aber die Partei des Aggressors ergriffen. Gleichsam im Schatten des Konflikts besetzte die Wehrmacht im März 1936 die entmilitarisierte Zone des Rheinlands und rückte vor Belgiens und Frankreichs Grenzen. Die beiden faschistischen Mächte, jede auf Expansion aus, näherten ihre Politik einander an und kamen überein, Streitfragen – sie betrafen Südtirol und Österreich – beizulegen. 1936 wurde die »Achse Berlin-Rom«, die Kriegspartnerschaft, begründet.

Die Politik des Appeasements, die ihren Höhepunkt 1938 in München mit der Amputation der Tschechoslowakei erreichte, besaß ihre »afrikanische« Vorgeschichte«. Dass von der hierzulande vergleichsweise wenig Kenntnis genommen wird, mag nicht nur am geographischen Abstand liegen. Dabei ist sie nicht weniger lehrreich. Kleinstaaten interessieren Großmächte nur, wenn an deren Existenz eigene »höhere« Interessen beteiligt sind. Wenn nicht, mögen sie existieren oder zugrunde gehen.

* Aus: Neues Deutschland, 25. September 2010


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