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Die Achse bricht

Vor 70 Jahren schloß Italien mit den Westalliierten einen Waffenstillstand. Die Deutschen reagierten mit der Errichtung eines besonders brutalen Okkupationsregimes

Von Martin Seckendorf *

Am Mittwoch, dem 8. September 1943, meldete um 17 Uhr Radio Algier, Italien habe einen Waffenstillstand mit den anglo-amerikanischen Streitkräften vereinbart. Das Land hatte das von Benito Mussolini am 1. November 1936 als »Achse Rom–Berlin« bezeichnete Bündnis mit Nazideutschland verlassen. Die »Achse«, wesentlich für das von den Deutschen errichteten Koalitionssystem, war gebrochen.

Die deutsche Führung hatte seit längerer Zeit wegen der sich dramatisch verschlechternden Kriegslage eine solche Entwicklung erwartet. Die Berichte ihrer Geheimdienste und Diplomaten besagten, Italien war nicht mehr in der Lage und die Bevölkerung nicht mehr willens, den Krieg fortzusetzen. Die erfolgreiche alliierte Landung auf Sizilien trieb die innenpolitische Krise in dem Mittelmeerland auf den Siedepunkt (siehe jW-Thema vom 10.7.2013). Der König, die hohe Geistlichkeit, Wirtschaftsführer und führende faschistische Funktionäre suchten nach Auswegen. Sie fürchteten den Umsturz von unten und bereiteten deshalb einen Machtwechsel von oben vor.

Am 25. Juli wurde Mussolini, Begründer des Partito Nazionale Fascista, seit 1922 diktatorisch regierender Ministerpräsident Italiens, entmachtet (siehe jW-Geschichte vom 20.7.2013). Der ehemalige Generalstabschef Pietro Badoglio bildete eine neue Regierung. Diese versprach zunächst, den Krieg an deutscher Seite fortzusetzen und unterdrückte blutig die sich ausbreitende antifaschistische Bewegung.

Der Fall »Achse«

Nach der Befreiung Siziliens am 17. August 1943 nahm Badoglio Verhandlungen mit den Westmächten auf, die am 3. September zum Abschluß des Waffenstillstandes führten, der am 8. September bekanntgegeben wurde. Seit dem Untergang der deutsch-italienischen Heeresgruppe Afrika am 13. Mai 1943 in Tunesien (siehe jW-Thema vom 13.5.2013) bearbeitete das Oberkommando der Wehrmacht (OKW) unter der Deckbezeichnung »Achse« Pläne, um allen Eventualitäten operativ gewachsen zu sein. Im Falle eines Ausstiegs aus dem Bündnis sollten Italien militärisch unterworfen sowie die italienischen Positionen in Frankreich und auf dem Balkan übernommen werden.

Die Wehrmacht versammelte starke Kräfte in Italien. Bis Ende August 1943 waren oft unter Täuschung italienischer Stellen etwa 20 deutsche Divisionen auf der Apenninenhalbinsel stationiert. Am 8. September gegen 20 Uhr wurde durch das OKW mit der Durchsage des Stichworts »Achse« die Operation ausgelöst. Mit unglaublicher Brutalität ging die Wehrmacht gegen die 3,5 Millionen Angehörigen der italienischen Streitkräfte vor. Die deutschen Oberbefehlshaber ordneten an, bei italienischen Einheiten, die sich getreu ihrem Eid der Entwaffnung durch die Deutschen widersetzten, alle Offiziere zu erschießen. In einigen Fällen, so für das Vorgehen gegen die italienische Garnison auf der griechischen Insel Kephalonia, wurde angewiesen, keine Gefangenen zu machen. Der »Verrat« sei in der Geschichte »einzigartig« und berechtige die Wehrmacht, so der Oberbefehlshaber Südost, Alexander Löhr, »alle Hemmungen fallen zu lassen«. Erwin Rommel, militärisch für Oberitalien verantwortlich – und heute noch Namensgeber zahlreicher Truppenunterkünfte der Bundeswehr – befahl: »Irgendwelche sentimentalen Hemmungen (…) gegenüber Badoglio-hörigen Banden in der Uniform des ehemaligen Waffenkameraden sind völlig unangebracht. Wer von diesen gegen den deutschen Soldaten kämpft, hat jedes Anrecht auf Schonung verloren und ist mit der Härte zu behandeln, die dem Gesindel gebührt.«

Mit solcher Art Propaganda wurden die in der »guten deutschen Gesellschaft« seit Jahrzehnten verwurzelten rassistischen Vorbehalte revitalisiert. »Der Italiener« sei »von Natur aus faul, unordentlich, bösartig, hinterhältig und grausam«. Der für Propaganda zuständige Spitzennazi Joseph Goebbels notierte am 14. Oktober 1943: »Das italienische Volk besitzt als Gesamtheit wie in seinen einzelnen Individuen kein Ehrgefühl.«

Die verbrecherischen Befehle und die sturzbachartig einsetzende Haßpropaganda gegen »die Italiener« putschten die Wehrmachtsangehörigen vom ersten Tag der Besetzung an zu unmenschlichem Vorgehen auf. Die Entwaffnung der italienischen Truppen erfolgte schnell und stieß nur punktuell auf Widerstand. Zu dem Erfolg der Wehrmacht trug auch die Haltung des Königs und der Regierung bei. Sie waren in das befreite Brindisi geflohen. Die Truppen blieben ohne Instruktion, wie sie sich den deutschen Eroberern gegenüber verhalten sollten. Außerdem gab es keine Absprachen zwischen den Alliierten und der italienischen Regierung. So nutzte die am 9. September bei Salerno gelandete 5. U.S. Army die Gunst der Stunde, in der die Wehrmacht mit der Entwaffnung der königlichen italienischen Armee beschäftigt war, nicht, um einen entschlossen Stoß gegen Neapel zu führen und den Weg nach Rom zu öffnen.

Die Entwaffnung der italienischen Truppen verlief außerordentlich blutig. Etwa 32000 Soldaten wurden durch die Wehrmacht umgebracht. Weitere 25000 starben in Gefangenschaft, 5000 gelten als vermißt. Zehntausende ertranken beim Versuch, von den Inseln auf das griechische oder italienische Festland zu kommen. 8500 Gefangene wurden zur verschärften Zwangsarbeit nach dem »Osten« geschickt – kaum einer von ihnen überlebte die dort erlittenen Torturen.

Mehr als 650000 Soldaten wurden nördlich der Alpen zur Arbeit in der deutschen Kriegswirtschaft gezwungen. Man nannte sie Italienische Militärinternierte (IMI) und verwehrte ihnen den Schutz der Genfer Konvention. Die vielfach unmenschlichen Arbeits- und Lebensbedingungen, verbunden mit dem von der Propaganda geschürten Haß vieler Deutscher auf die »Badoglio-Verräter«, waren für die IMI katastrophal. Ihre Lebensverhältnisse waren mit denen der als »kommunistische Untermenschen« diffamierten sowjetischen Kriegsgefangenen vergleichbar. Das betraf auch Folgeerscheinungen wie Krankenstand und Sterberaten.

Das mörderische Vorgehen in Italien sollte anderen »Absprungkandidaten« der faschistischen Koalition – Adressaten waren vor allem Ungarn und Rumänien – signalisieren, was ihnen drohe, falls sie den Weg der Regierung Badoglio beschreiten würden.

Strategische Defensive

Das nach dem 8. September besetzte Gebiet reichte von den Alpen bis Neapel. Die strategische Defensive, in die die Wehrmacht nach Stalingrad und Tunesien geraten war, bestimmte die Grundlinien der deutschen Politik in Italien. Die deutsche Führung war sich bewußt, daß der Krieg nicht auf der Apenninenhalbinsel, sondern an der deutsch-sowjetischen Front und nach einer alliierten Großlandung in Westeuropa entschieden wird. In Italien wollte man mit geringen Kräften starke Truppenkontingente der Anglo-Amerikaner weit vor den deutschen Grenzen binden, auch, damit sie bei einer Invasion in Nordfrankreich nicht eingesetzt werden konnten. Durch rigorose Ausbeutung Italiens sollte die deutsche Kriegswirtschaft deutlich gestärkt werden.

An der schmalsten Stelle der Halbinsel errichteten die Deutschen ein erstes Sperrsystem. Es zog sich nördlich von Neapel bis zur Adria hin. Fast neun Monate brauchten die Alliierten, diese Linie zu überwinden. Die Gebiete südlich der befestigten Stellungen wurden von der Wehrmacht wirtschaftlich regelrecht ausgeschlachtet. Alle wichtigen Güter führte man dem Truppenbedarf zu oder transportierte sie nach Norden. Im Befehl des OKW vom 18. September 1943 wurde zudem für diese Territorien eine Politik der »verbrannten Erde« angeordnet. Vernichtet werden sollten demnach die Energie- und Wasserversorgung, die Ernährungswirtschaft, die Industrie, die Häfen sowie Transport- und Nachrichtenmittel, Schienenwege und Straßen. Die Zerstörungen, so der Befehl, müßten angesichts des »beispiellosen Verrats« der Italiener »über allen menschlichen Rücksichten stehen«. Die nachdrängenden Alliierten sollten nur noch eine »Wüste« vorfinden.

Erstes Opfer dieser Politik war Neapel. Ab dem 27. September kam es dort zu einem Volksaufstand, den die Okkupanten mit Massentötungen unterdrücken wollten. Die Erhebung zwang die Wehrmacht zum vorzeitigen Abzug. Dabei zerstörte sie großflächig und nachhaltig die wissenschaftliche, kulturelle und ökonomische Infrastruktur der Stadt.

Die Gebiete nördlich der Befestigungslinien glaubte man, länger halten zu können. Sie sollten wirtschaftlich intensiv, aber planmäßig ausgenutzt werden. Der IG-Farben-Manager Fritz ter Meer, der die italienische chemische Industrie kontrollierte, schrieb seiner Zentrale in Frankfurt am Main: »In Oberitalien richten wir uns für Dauer ein.«

Die wichtigste Beute der deutschen Eroberer waren die Menschen. Neben den etwa 650000 Militärinternierten wollte man weitere 1,5 Millionen Arbeitskräfte aus Italien herausholen. Sie sollten jene Hunderttausenden deutschen Arbeiter in der Kriegswirtschaft ersetzen, die nach Stalingrad und Tunesien zur Wehrmacht einberufen worden waren. Außerdem benötigte man Hunderttausende Italiener zum Bau der Sperrstellungen in dem okkupierten Land.

Marionette Mussolini

Die Invasoren teilten das besetzte Gebiet in fünf Zonen: Ein großes Territorium nördlich der Hauptkampflinie sowie ein 30 Kilometer tiefer Streifen an der Küste galten als Kampfgebiet. Dort herrschten die Kommandierenden Generale der Armeekorps. Zehn Provinzen im Norden trennte man von Italien ab und gliederte sie in zwei Operationszonen. Diese wurden wie deutsche Provinzen regiert, germanisiert und sollten annektiert werden. Damit wollte man die Reichsgrenze bis zur Adria vorschieben. An der Schweizer und der französischen Grenze wurde später noch eine dritte Operationszone eingerichtet. In dem Territorium dazwischen errichteten die Deutschen eine Militärverwaltung.

Nachdem Mussolini am 12. September von deutschen Fallschirmjägern aus der Haft befreit worden war, installierte er auf diesem Gebiet auf Geheiß der deutschen Führung eine Kollaborationsverwaltung. Das Mussolini-Gebilde wurde Soziale Italienische Republik (Repubblica Sociale Italiana–RSI) genannt. Mit der Errichtung der RSI wollten die Deutschen nach außen die Fiktion aufbauen, das »neue« Italien sei die einzig rechtmäßige Regierung und setze die »Achsenpolitik« fort. Nach innen hatte die Mussolini-Administration vor allem die Aufgabe, die »Drecksarbeit« für die Okkupanten zu leisten, »unpopuläre« Maßnahmen im Auftrage der Nazis zu verkünden und, wenn möglich, durchzusetzen.

Wichtig war den Deutschen die Meinung des Vatikans. Da konnte der deutsche Vertreter beim Heiligen Stuhl, Ernst von Weizsäcker, am 23. September 1943 die Grundeinstellung der Kurie nach Berlin übermitteln: Das »Schicksal Europas (hänge) vom siegreichen Widerstand Deutschlands an der russischen Front« ab. Die Wehrmacht sei »das einzig mögliche Bollwerk gegen den Bolschewismus«. Von dieser Seite war demnach kein Widerstand gegen die deutsche Okkupationspolitik zu erwarten.

Im September 1943 wurde der Diplomat Rudolf Rahn zum »Bevollmächtigten des Reiches« in Italien ernannt. Er sollte die Mussolini-Verwaltung beaufsichtigen und kontrollieren und dafür Sorge tragen, daß die besatzungspolitischen Ziele in Italien erfüllt werden. Am 11. Oktober 1943 notierte er, man sei »fest entschlossen, rücksichtslos das Äußerste aus dem italienischen Raum herauszuholen«. Rahn steuerte die wirtschaftliche Ausbeutung sowie die »Beschaffung« von Arbeitskräften und nahm großen Einfluß auf die Unterdrückung der italienischen Bevölkerung. Als im März 1944 eine gewaltige Streikwelle durch die oberitalienischen Industriezentren rollte, koordinierte Rahn die Aktionen zur Niederschlagung des Arbeiterprotestes und legte bis ins Detail die Aufgaben der Unterdrückungsorgane fest. General Walter von Unruh, der im Februar 1944 die deutschen Okkupationsbehörden inspizierte, schrieb über Rahn: »Er regiert Italien unter Ausnutzung Mussolinis und der italienischen Regierung.«

Weil die Deutschen aus rassistischen Motiven der Mussolini-Administration nicht zutrauten, die Aufgaben zu erfüllen, bauten sie parallel eine deutsche Besatzungsorganisation auf. Diese sollte die Verwirklichung der Okkupationsziele auch dann gewährleisten, wenn die Kollaborationsverwaltung ausfiel. Die Kriegsmüdigkeit der Italiener und der anschwellende Partisanenkampf führten dazu, daß deutsche Besatzungsorgane immer häufiger die Exekutive im Mussolini-Gebiet übernahmen.

Geschichtsrevisionismus

Die Position Mussolinis ist heute in Italien wieder ein Streitpunkt. Rechte und neofaschistische Kräfte benutzen das deutsche Propagandakonstrukt von der Selbständigkeit der RSI, um die Mussolini-Administration zu glorifizieren und vor allem, um die Resistenza und ihren bis heute großen Einfluß zu verunglimpfen. Der Widerstandskampf sei kein nationaler Befreiungskrieg gegen die Eroberer, sondern hauptsächlich ein Bürgerkrieg gegen die Mussolini-Administration gewesen, mit dem die angeblich ausschließlich linksgerichtete Resistenza »internationale kommunistische« Klasseninteressen durchsetzen wollte.

Eine ähnliche Position wurde in dem 2012 veröffentlichten Abschlußbericht der von der Berlusconi- und der Merkel-Regierung 2009 eingerichteten deutsch-italienischen Historikerkommission eingenommen. In dem Papier heißt es, die schlimmen Erfahrungen der Widerstandskämpfer mit den Besatzern hätten zu Unrecht die Nachkriegsdiskussion dominiert. Dadurch wären »fast ausschließlich die Aspekte des nationalen Befreiungskampfes und weniger die des Bürgerkrieges oder des Klassenkampfes« hervorgetreten. Die Kommission empfiehlt, die »Monumentalisierung der Resistenza« zu beenden, um »die Wunden des italienischen Bürgerkrieges« zu heilen.

Zur Klärung dieser Frage sind die Stellung und der Einfluß Mussolinis in Italien nach dem September 1943 und die Beurteilung der Tätigkeit Rahns wesentlich. Daraus läßt sich die vollständig Abhängigkeit der italienischen Faschisten ablesen. Die Kommission ging in dem Bericht nicht darauf ein. Um als Bürgerkriegspartei zu gelten, wäre eine für die Italiener sichtbare politische Eigenständigkeit der Mussolini-Faschisten notwendig gewesen. Vor allem hätten sie »im italienischen Volke«, wie General von Unruh im Februar 1944 notierte, »die nötige Resonanz finden« und einen gewissen Rückhalt in Teilen der italienischen Bevölkerung haben müssen. »Keines dürfte der Fall sein«, schrieb der General. Ende Juli 1943 berichtete der deutsche Botschafter in Rom nach Berlin, das Mussolini-Regime sei »im ganzen Volk verhaßt«. Solche in großer Zahl überlieferten Analysen wurden im Abschlußbericht der Historikerkommission ebenfalls nicht berücksichtigt.

Die beiden Regierungen hatten mit dem Gremium auch anderes im Sinn. Es ging darum, Entschädigungsforderungen von Opfern deutscher Besatzungspolitik endgültig abzuwehren. Um die Öffentlichkeit zu beruhigen, wurde die hochdotierte Kommission berufen. Man gab vor, sich um die Aufarbeitung der deutsch-italienischen Geschichte zu kümmern. Die unsagbar brutale deutsche Herrschaft in Italien sei im Spiegel von Erfahrungen der damals Beteiligten differenzierter »neu zu bewerten«, heißt es in dem Abschlußbericht. Ausgewählter Opfergruppen wie der Militärinternierten sei medienwirksamer zu gedenken. In diesem Zusammenhang ist es nicht verwunderlich, daß im Bericht auch die enorme wirtschaftliche Ausbeutung unerwähnt bleibt.

Schrankenloser Terror

Ein herausragendes Merkmal deutscher Herrschaft in Italien war die überaus harte Besatzungspolitik. Die Nazis gingen mit einer so nicht erwarteten Brutalität gegen die Soldaten und die Zivilbevölkerung des ehemaligen Hauptverbündeten vor. Die deutsche Führung war der Auffassung, daß die ausufernden Kriegsziele nur zu erreichen wären, wenn man jeden Widerstand von Anfang an im Blut ersticke. Insbesondere sollten den an der nahen Front gegen die Anglo-Amerikaner kämpfenden Truppen die Nachschub- und Verbindungslinien, der »Rücken« freigehalten werden – eine entscheidende Voraussetzung für das Gelingen der kräftesparenden Defensivstrategie.

Zur Durchsetzung des Terrorkonzepts brachten die Deutschen ein nach mehreren Jahren Vernichtungskrieg gegen Befreiungsbewegungen in der Sowjetunion und auf dem Balkan radikalisiertes Weisungssystem und die Erfahrungen über das exzessive Auslegen der verbrecherischen Befehle nach Italien. Wie im »Osten« sollte jede Widersetzlichkeit »mit den allerbrutalsten Mitteln (…) auch gegen Frauen und Kinder«, wie es in einem nun ebenfalls für Italien gültigen OKW-Befehl vom 16. Dezember 1942 hieß (siehe jW-Thema vom 15.12.2012), unterdrückt werden. Die verbrecherischen Befehle führten in Verbindung mit der Haßpropaganda gegen die »verräterischen Italiener« dazu, daß vom 8. September an fortgesetzt und massenhaft Verbrechen verübt wurden, die sich in der Begehungsweise, wie die Juristen sagen, nicht von jenen Mordaktionen unterschieden, die Deutsche auf dem Balkan oder in den besetzten Gebieten der Sowjetunion begingen.

Ab Juni 1944 gab es noch einmal eine Verschärfung des Terrors. Die Wehrmacht zog sich nach der Befreiung Roms am 4. Juni 1944 auf die letzte befestigte Stellung im Apennin etwa 30 Kilometer südlich von Bologna zurück. Ein Stoß der Alliierten durch diese Linie hätte den Verlust des für die Deutschen wirtschaftlich so wertvollen Oberitaliens und die Öffnung des Weges an die Reichsgrenze bedeutet. In diesem Gebiet aber operierten, begünstigt durch die Topographie des Apennin, starke Partisanenverbände. Da die Wehrmacht der Partisanen nur selten habhaft wurde, hielt man sich an die Zivilbevölkerung.

Am 17. Juni 1944 stellte der Oberbefehlshaber Südwest, Albert Kesselring, fest: »Die Bandenlage (…) hat sich in kurzer Zeit derart verschärft, daß sie eine ernste Gefahr für die kämpfende Truppe und ihre Versorgung sowie die Rüstungswirtschaft bildet.« Der Kampf gegen die Partisanen sei mit dem Kampf an der Front gegen die Anglo-Amerikaner gleichzusetzen. Die Vernichtung der Widerstandsgruppen müsse, so Kesselring, »mit größter Schärfe durchgeführt werden«. Außerdem befahl er, die Aktionen gegen die Partisanengebiete mit der »Gewinnung« von Arbeitskräften zu verbinden. »Alle im Kampf(-gebiet) anfallenden Zivilpersonen«, so der Generalfeldmarschall, »sind (…) zum Abschub ins Reich als Arbeiter« zu sammeln.

Ungeheure Massaker folgten fast im Wochentakt: Am 12. August 1944 vernichteten die Deutschen die Gemeinde Sant’Anna di Stazzema nördlich von Lucca in der Toscana. Über 500 Zivilisten, meist Frauen, Kinder und alte Männer, wurden umgebracht. Obwohl einige Täter noch heute in Deutschland leben, weigerte sich die Staatsanwaltschaft Stuttgart, gegen sie Anklage zu erheben.

Zwischen dem 29. September und dem 1. Oktober 1944 verübten Einheiten der Waffen-SS und des Heeres in Marzabotto südlich von Bologna das wohl größte Massaker in Italien (siehe jW-Geschichte vom 26.9.2009). Mehr als 700 Zivilisten, ausschließlich Frauen und Kinder sowie alte Männer, wurden auf unbeschreibliche Weise umgebracht.

Das deutsche Terrorregime endete am 2. Mai 1945. Selbst nüchterne Zahlen vermitteln einen Eindruck von der Brutalität dieser Herrschaft. Mehr als 44000 Partisanen sind im Kampf gefallen oder ermordet worden. Zehntausende Zivilisten wurden bei Geiselerschießungen oder »Sühneaktionen« umgebracht. Über 24000 Italiener kamen aus politischen Gründen in deutsche Konzentrationslager. Ein italienischer Historiker hat ermittelt, daß in einigen Provinzen jeder zweite Kriegstote ein Opfer des faschistischen Terrors war. Es wurde ausgerechnet, daß zwischen dem 8. September 1943 und dem 2. Mai 1945 täglich etwa 160 Zivilisten durch deutsche Hand starben.

Bis heute sind die Bestrafung der Täter und die Regulierung der ungeheuren Zerstörungen nur unvollkommen erfolgt. Die medial wirksam bekundete Anteilnahme deutscher Politiker an den Gräbern der Opfer wird ohne tätige Reue der Bundesrepublik nicht zu der notwendigen Aussöhnung zwischen Deutschen und Italienern führen.

* Dr. Martin Seckendorf ist Historiker und Mitglied der Berliner Gesellschaft für Faschismus- und Weltkriegsforschung e.V. Zuletzt schrieb er auf diesen Seiten am 10.7.2013 über die Landung der anglo-amerikanischen Truppen auf Sizilien.

Aus: junge Welt, Montag, 9. September 2013



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