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Nach einem Jahrestag

Von Zerrspiegeln, Zeitungen und Blättchen

Von Kurt Pätzold *

Dieser 70. Jahrestag des Einfalls der deutschen Wehrmacht in das Territorium der UdSSR, der den Zweiten Weltkrieg erneut ausweitete und ihm eine entscheidende Wende gab, löste in Deutschland eine Vielzahl von Initiativen aus. Sie reichten erfreulich weit über bloße routinierte Bezugnahmen in offi­ziellen Erklärungen und pflichtschuldige Artikel in Zeitungen hinaus. Es fanden Gedenkveranstaltungen und Gedenkgottesdienste, Lesungen und Vorträge, Diskussions- und Konzertabende, vielerorts Ehrungen von Kriegsopfern statt. Ein an Zahl nicht bestimmbarer Teil der Zeitgenossen und der Nachgeborenen hat den Tag, der in der deutschen Geschichte als ein Datum des Verbrechens und der Schande festgeschrieben ist, zum Anlaß des Innehaltens und Nachdenkens genommen und ihn als Warnung begriffen, die ihr Verfallsdatum nicht schon hinter sich hat. So weit – so gut.

Zugleich kann eine Durchmusterung dessen, was mit Bezug auf den Beginn dieses Eroberungszuges in den Medien gesagt und geschrieben worden ist, erschrecken machen. Es gibt keine Legende und keine Verfälschung des Geschehens, die nicht erneut hervorgekramt und, notdürftig aufgeputzt, unter die Leute gebracht wurde. Dies nicht abseits des Hauptstroms der Meinungsbildung, sondern in dessen Mitte. Das beginnt mit den reanimierten »Generälen« Schlamm und Winter, an denen die bis dahin siegreiche Wehrmacht mit den »besten Soldaten der Welt« gescheitert sei. Die wären in einen »unmöglichen« Krieg befohlen worden, was, wenn Worte einen Sinn haben, doch nur heißen kann, in einen unmöglich zu gewinnenden. Das konstatiert Michael Stürmer, der dreißig Jahre Professor für Geschichte an der Universität Erlangen-Nürnberg war, politisch verortet ist durch seine früheren Tätigkeiten in Diensten Helmut Kohls und der Zeitung Die Welt. Er nennt als ersten Faktor in den Fehlrechnungen der faschistischen Führung das Klima. Der Angriff sei schlicht zu spät im Jahr erfolgt. Auf das Kommende wären weder der Mensch vorbereitet gewesen noch die Technik eingerichtet. Sodann verweist er auf die den Vorhaben der Eindringlinge widrige Infrastruktur des zu erobernden Landes, was doch wohl heißt, es fehlte zwischen Brest und Moskau an Autobahnen. Schließlich habe man sich bei der Offensive auch noch »verzettelt« und durch verfehlte Besatzungspolitik, die auf Hitlers Konto gehe, jene gegen sich aufgebracht, die anfänglich kooperationswillig waren. Verbrecherisch sei der Überfall schon gewesen, aber jedenfalls, hört man da heraus, hätte vieles doch besser gemacht werden können. Einen Gegner hat es in diesem Bild vom Kriege nicht gegeben. Es bleibt noch hinter jenem zurück, das den Deutschen der tägliche Bericht des Oberkommandos der Wehrmacht gab. Dessen Autoren teilten mit, der Gegner kämpfe »zäh« und »verbissen«, er verteidige sich »überaus zäh«, er leiste »verzweifelten Widerstand«. Ausgetragen würden »erbitterte Kämpfe«. Die verfälschte Antwort auf die Frage, wer für den verheerenden Fehlschlag dieses Feldzugs verantwortlich ist, die zur Wende im gesamten Kriegsverlauf führte und in die deutsche Niederlage mündete, hat jedoch an Interessenten verloren, seit der letzte Wehrmachtsgeneral verstorben ist.

»Hitlers Krieg«?

Unvermindert erhielt sich jedoch das Bedürfnis, die Zahl derer, die diesen Krieg führen und gewinnen wollten, möglichst klein zu bemessen. Im Grunde, so die Antwort, gab es auf deutscher Seite nur einen, der ursprünglich nach Moskau, zum Ural und zum Kaukasus wollte – den »Führer«. Auf den kürzesten Begriff gebracht, heißt das Geschehen daher auch meist »Hitlers Krieg«. Wer sonst beteiligt war, ob er Bedenken getragen haben mochte oder nicht, war ein Opfer des übermächtigen Willens des Obersten Befehlshabers geworden, dem er sich nicht zu entziehen vermochte. Zudem war da der geleistete Eid. Wer hätte ihn zu brechen über das treudeutsche Herz gebracht.

»Ich bin’s nicht, Adolf Hitler ist es gewesen«– die Aussage hatte einst eine ganz praktische Bedeutung. Wer so sprach, wollte nach 1945 nicht ins Gefängnis, auch keinerlei andere Bestrafung erleiden, nicht von einer Tätigkeit – sagen wir in einem Ministerium, an einem Gericht der Bundesrepublik oder in der Bundeswehr – ausgeschlossen werden. Wer mitgemacht hatte, behauptete, er tat es unter Zwang. Wer Wehrlose niederschoß, handelte im Befehlsnotstand. Die Lügen waren damals Akte der Selbstverteidigung, benutzt von einzelnen wie von ganzen Gruppen. Aber nun, siebzig Jahre später, da das Interesse, sich vor Anklägern und Richtern herauszureden auf einen Rest von neunzigjährigen Männern zusammengeschmolzen ist? Warum da immer noch: »Hitlers Krieg«? Und das in nahezu ausnahmslos allen deutschen Zeitungen? Warum der Gebrauch einer Formel, der doch der Geruch des 19. Jahrhunderts anhaftet, als weithin verbreitet und geglaubt wurde, es seien »große Männer«, welche Geschichte nach ihren Ideen und Entschlüssen machten? Und diese Sicht riecht obendrein stark nach einem ins Negative gekehrten Personenkult. War der Mann auch nicht als Erbauer groß, so doch als Zerstörer, nicht als Schöpfer, so doch als Vernichter. »Hitlers Krieg«? Der Führer wäre mit dieser Kennzeichnung wohl nicht gänzlich unzufrieden gewesen. Vielleicht hätte er »Hitlers Großer Weltkrieg« vorgeschlagen.

Eine andere und wie es scheint wachsende Gruppe von Publizisten macht dem deutschen Führer den Platz zwar nicht streitig, doch hat er ein wenig zur Seite zu rücken. Neben ihn wird auf den Sockel Josef Stalin gestellt, der vorgeblich zweite Kriegsinteressent. Nun heißt der Krieg nicht mehr nur »Hitler gegen Stalin«, sondern das »Duell zweier Despoten« oder das »Duell der beiden Jahrhundertverbrecher«. (Spiegel 24/2001) Da wären es also zwei: Ein Faschist – pardon: Nationalsozialist – und ein Kommunist. Hitlers Anteil ist etwa um die Hälfte herabgesetzt. Das paßt, nebenbei, gut in jene spezifisch deutsche Weltvorstellung, die in Kommunisten mindestens potentielle Verbrecher ausgemacht hat. Und also prangen auf dem Titelbild der Zeitschrift, deren Reklame behauptet, es sei ihr Wissen zu entnehmen, unter den Bezeichnungen »Bruder« und »Todfeind« beider Köpfe, absichtsvoll hinmontiert, da ein Foto fehlt. Stalin ist, entgegen Gerüchten, die in Berlin im Juni 1941 kursierten, nicht in die deutsche Hauptstadt gekommen und dann nicht einmal nach dem Sieg auf seiner Reise zur Potsdamer Konferenz. Da war Hitler ohnehin schon tot. Und der Führer seinerseits reiste nicht gern in ausländische Hauptstädte. 1938 tourte er bis Rom. Und Paris machte er einen Kurzbesuch erst, nachdem es erobert war. Also, um es kurz zu machen: Es beginnt sich die Kennzeichnung »Hitler-Stalin-Krieg« einzubürgern (so auch: Frankfurter Allgemeine, 2. Mai 2011).

Doch schon jetzt gibt es kein zweites Feld der neueren Geschichte, auf dem die Forschungsergebnisse der Historiker und die von den Mainstreammedien erzeugten Geschichtsbilder so weit auseinander liegen wie auf dem der Vorgeschichte des Zweiten Weltkriegs. Im festen Wissen, daß die Mehrheit der Bundesbürger sich in seriöser Geschichtsliteratur nicht beliest, wird drauflos geschrieben und geredet. Das allein würde als Bedingung für die erfolgreiche Verbreitung von Fälschungen nicht genügen, käme nicht die Hinnahme dieses Zustands durch Historiker hinzu. Aus deren Reihen ist kein Ruf zu hören, während doch ein Aufschrei nötig wäre. Schwer vorstellbar, daß Mediziner und Ärzte in vergleichbarer Situation, wenn ihnen eine Schar Scharlatane entgegentreten und ihre Patienten dummreden würde, schweigend zusähen. So aber läßt sich siebzig Jahre später die Legende von den beiden Kriminellen erzählen, die durch eine Kette von Zufällen an die Spitze von Staaten und Armeen gerieten und, nach Jahrzehnten gegenseitigen Belauerns und Abwartens, sich endlich aufeinander stürzen konnten. Das ist das Angebot des Haushistorikers des Spiegel, das einen Tiefpunkt der Geschichtspublizistik bezeichnet.

Ziel: Ostexpansion

Wie steht es um den historiographischen Befund im Hinblick auf Hitler und Stalin, die jeder an seinem Platz fraglos einen entscheidenden (was nicht bedeutet: alleinigen) Einfluß auf die Geschichte der Staaten, an deren Spitze sie standen, auf die Europas und der Welt ausübten? Inzwischen haben sich Geschichtswissenschaftler vorwiegend in Deutschland (ehedem in beiden deutschen Staaten), in Großbritannien und in den USA mit Hitlers Rolle befaßt. Auf dem deutschen Büchermarkt erschien ein Dutzend Biographien über den »Führer«, angefangen mit dem Werk des britischen Historikers Allan Bullock aus den frühen fünfziger Jahren über das 1973 edierte Buch von Joachim Fest bis zum 1998 herausgegebenen Band von Ian Kershaw, dem zwei Jahre später der zweite folgte. Von der profunden Arbeit haben sich Historiker und andere Autoren, darunter Scharlatane, nicht abschrecken lassen, sich weiter an Hitler-Biographien zu versuchen, die in Frankreich, Großbritannien, Italien und in der Bundesrepublik auf den Markt gelangten.

Bei allen Abweichungen von Aspekten und Urteilen stimmen die Historiker darin überein, daß Hitlers Außenpolitik sich nicht auf eine kriegerische Korrektur der Ergebnisse des Ersten Weltkriegs beschränkte, sondern – die früheren Ziele modifizierend – auf die Errichtung eines riesigen Kolonialreiches im direkten geographischen Anschluß an Deutschland gerichtet war, auf die Ostexpansion. Es sollte die Basis für Deutschlands weltbeherrschende Stellung abgeben. Das mußten nach seinem Tode übrigens Historiker nicht erst durch weitläufige Forschungen feststellen. Es war durch Hitler selbst früh einbekannt worden und vielen Zeitgenossen bewußt. Nicht wenige in Deutschland und jenseits seiner Grenzen drangen darauf, diesen Vorsatz ernst zu nehmen und Sicherungen gegen dessen Verwirklichung zu schaffen. Ihre Forderungen schlugen jedoch nicht durch.

So fix wie dieses Ziel, so unbestimmt und va­riierend anfänglich die Vorstellungen darüber, wie es zu erreichen sei. Dieser Spur ist Rolf-Dieter Müller soeben in einer Studie1 nachgegangen, in der gezeigt wird, welche gedanklichen und praktischen Wege und Umwege von der Idee zu jenem Entschluß führten, dessen militärstrategisches Resultat der Kriegsplan »Barbarossa« wurde. Über diesen Befund gibt es unter Historikern keinen Streit. Würde er begonnen, er stürbe vor den Dokumenten, deren Echtheit nicht bezweifelt wird. Meinungsverschiedenheiten existieren allenfalls darüber, wie ernst dieses oder jenes außenpolitische Vorhaben gewesen sein mochte, also wenn es darum geht, die Finten der Diplomatie vom wirklich Gewollten zu sondern. Fest steht: Hitler hat diesen Krieg gewollt, er hat ihn mit den Spitzen der Militärs planmäßig vorbereitet und den Angriffsbefehl gegeben. Die Fragen beginnen gleichsam »dahinter« und lauten: Wer waren seine Mittäter und wer die Mitinteressierten?

Und Stalin?

Um das Gesamtbild des Diktators im Kreml tobt in Rußland eine Schlacht. Ihr ist Fortdauer gesichert, solange die Geschichte der Sowjetunion nicht mit dem gleichen Tiefgang untersucht und zu ähnlich verläßlichen Ergebnisse geführt wird, wie das unter internationaler Beteiligung im Hinblick auf die deutsche zwischen den Weltkriegen geschehen ist. Vor allem müssen, solide ediert, Dokumentensammlungen auf den Tisch. Das setzt die Liberalisierung des Zugangs zu den Archiven voraus. Doch unabhängig von allem Wünschenswerten und unabhängig von allem gegenwärtigen und künftigen Dafür und Dawider, die Stalins Gesamtperson und historischer Rolle gelten, steht die Aussage, daß er – um es auf den Tag zu sagen – seit jenem deutschen 30.Januar 1933 zu keinem Zeitpunkt geplant hatte, einen Krieg gegen Deutschland zu eröffnen. Und dies: wiewohl er schon wenige Tage später über die geheime Rede unterrichtet war, die Hitler vor deutschen Generalen über seine strategischen Ziele gehalten hatte. In der hatte dieser davon gesprochen, daß er auf dem Wege imperialistischer Politik die Ostrichtung wohl bevorzugen würde. Dieses Wissen Stalins hat keinen Gedanken geboren, Hitler zuvorzukommen, solange Deutschland noch nicht hochgerüstet war. Wohl aber ein Bündel innen- und außenpolitischer Initiativen, mit denen die Gefahr abgewendet werden sollte, die zunächst nicht akut war. Zugleich wurden Maßnahmen getroffen, um die eigenen Abwehrkräfte für den Kriegsfall zu mehren. Über deren Umfang und Ergebnisse wird ebenfalls gestritten.

Doch im Hinblick auf die außenpolitischen Schritte des Kreml, die dem Lande einen Krieg ersparen sollten, geben die Tatsachen Material für irgendeinen Historikerstreit nicht her. Was die sowjetische Diplomatie seit 1933 unternahm und sich mit dem Namen des Außenkommissars Maxim Litwinow verbindet, geschah auf offener Weltbühne: die Umsteuerung der sowjetischen Außenpolitik hin auf eine Verständigung mit Frankreich 1933, zuvor schon der Abschluß eines sowjetisch-französischen Nichtangriffsvertrages 1932 und dann eines Handelsvertrages im Januar 1934, der Eintritt in den Völkerbund 1934, das Projekt Politik der kollektiven Sicherheit, der Abschluß der Beistandsverträge mit Frankreich und der Tschechoslowakei im Mai 1935, das Festhalten an dieser alternativlos erscheinenden Politik bis zum Versuch ihrer Reanimierung nach dem 15. März 1939, als die Wehrmacht in Prag einrückte, die britisch-französische Appeasement-Politik vor einem Scherbenhaufen stand und man in London und Paris neu nachdenken mußte. Am Inhalt und der Richtung dieser Politik prallt historische Kritik ab. Sie war geeignet, jene politisch-militärische Abschreckung zu schaffen, die Hitler bei aller Abenteuerlust in einen Konflikt mit seinen Militärs gestürzt hätte, denn die wollten nicht ein zweites Mal einen Krieg verlieren.

Lüge vom Präventivkrieg

Also wird diese sowjetische Außenpolitik, die, was den Umgang mit einem potentiellen Aggressor anlangt, denkwürdig ist, am besten übergangen oder – wie im Spiegel – auf weniger als ein Dutzend Worte reduziert: Stalin bemühte sich »um ein Bündnis mit dem Westen«. Kein Wort darüber, wer es nicht entstehen ließ. Statt dessen wird mit Unschuldsmiene der Eindruck erweckt, es habe vor dem deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt vom 23. August 1939 eine der Erinnerung werte sowjetische Europapolitik nicht gegeben. Dieser Vertrag, über dessen Zulässigkeit sich in Rußland derzeit unter Beteiligung russischer Staatsoberer gestritten wird, wobei die Skala der Urteile von »ein Meisterstück Stalins« bis zur totalen Verdammnis reicht, war die Antwort auf das gescheiterte kollektive Sicherheitsprojekt, das jene antisowjetischen Kreise zunichte gemacht hatten, welche vor allem die britische Außenpolitik bestimmten. Gegen vielstimmige Warnungen im eigenen Lande. Was sich gegen die deutsch-­sowjetischen Verträge vom August und September 1939 einwenden läßt, was gegen die sowjetische Praxis ihrer »Ausfüllung«, sie stehen jedenfalls für die Absicht, nachdem die Möglichkeit nicht mehr existierte, den Frieden zu erzwingen, die eigenen Völker aus dem Kriege herauszuhalten. Kann das nicht geleugnet werden, so wird doch weiter der Versuch unternommen, den Nachweis zu führen, daß Stalin lediglich den Zeitpunkt für den Überfall auf Deutschland aufgeschoben hätte, ihn jedoch vorbereitete und nur die günstige Gelegenheit abwartete, die Rote Armee westwärts stürmen zu lassen. Das ist in modifizierter Form die Neuauflage der Lüge vom deutschen Präventivkrieg.

Nur: Es sind die Tatsachen sehr sperrig. Nachgewiesen ist, daß Stalin nicht an einen Frieden auf Dauer glaubte und die Vorbereitungen für den Kriegsfall zu intensivieren trachtete. Auch was da geschah, ist derzeit in der russischen Publizistik erbittert umstritten. Doch rechnete Stalin nicht damit, daß die Wehrmacht angreifen werde, solange sie mit Großbritannien nicht »fertig« war, denn Hitler hatte sich im September 1939 doch gerade gerühmt, einen Zweifrontenkrieg vermieden zu haben. Keine dem entgegenstehende, die akute Gefahr signalisierende Information, und die gab es übergenug und aus verläßlichen Quellen, kam gegen diese fixe Idee an. Immer wieder wird gefragt: Wie konnte das einem Mann passieren, der – was immer er sonst war – jedenfalls doch nicht zu den Dummköpfen gehörte? Stalin glaubte offenbar, daß die Logik des objektiven Kräfteverhältnisses, die gegen die erneute Ausweitung des Kriegsfeldes durch die deutschen Machthaber sprach, auch die Logik im Denken Hitlers wäre. Daß der die Kapitulation Londons zu erhalten glaubte, nachdem er Moskau erobert und sich den Weg nach dem Vorderen und Mittleren Orient geöffnet hätte, lag außerhalb seiner Kalküle.

So wurden auch die Warnungen vor allem seiner Militärs und des Geheimdienstes in den Wind geschlagen. Im Wissen um die Konzentration der Wehrmachtsarmeen vor den Grenzen der UdSSR hat Georgi Shukow, Chef des Generalstabs der Roten Armee, Stalin vorgeschlagen, in diese sprungbereiten Millionen mit den eigenen Kräften hineinzustoßen, ein Unternehmen, das den Namen Präventivschlag verdient und die Chancen der Wehrmacht zwar nicht zunichte gemacht hätte, was Shukow glauben mochte, sie aber jedenfalls herabsetzen konnte. Denn zumindest würde ein solches Vorgehen die vollständige Mobilisierung der eigenen Kräfte verlangt haben. Stalins Entscheid lautete: Njet. Noch immer glaubte er, dem Überfall entkommen oder wenigstens ihn aufschieben zu können. Welche weiteren Rechnungen sich Stalin über den Fortgang des Krieges und die Haltung der UdSSR machte, darüber kann spekuliert, aber nicht sicher geurteilt werden. Mit einer Ausnahme: Solange die deutschen Armeen siegten, lag ihm jede Idee fern, sich ihnen zu konfrontieren. Die Legende vom beabsichtigten Krieg des Machthabers im Kreml hat in der Geschichtswissenschaft keinen Platz. Die Formel vom »Hitler-Stalin-Krieg« ist eine große Lüge.

»Geistige Leere«

Das Schweigen über die Interessen und Antriebe, die Deutschland im 20. Jahrhundert in zwei Kriege stürzten und in Weltkriege führten, erhielt dieser Tage eine originelle Erweiterung von unvermuteter Seite. In der Zeitschrift Das Blättchen (11. Juni 2011), die sich in der Tradition der Weltbühne glaubt, sieht sich ein Autor »auch siebzig Jahre nach Beginn dieses Krieges« von der Frage bewegt, »wie die Deutschen überhaupt auf die Idee kommen konnten, Rußland oder die Sowjetunion besiegen zu können«. Es hätte doch ein Blick auf die Weltkarte und demographische wie ökonomische Daten genügt, um sie davon abzubringen. Dem Mann wird nicht geholfen werden können. Denn es waren zwar Deutsche, aber nicht »die Deutschen«, die auf die Idee kamen, die ihn so verwundert. Doch auch die Frage, »was die Deutschen mit ihren Kriegen des 20. Jahrhunderts bezweckten, ist (ihm) nicht abschließend beantwortet«. Darüber, teilt er den Lesern mit, sei er schon in der Schule – der in der DDR, versteht sich – falsch unterrichtet worden.

Die Fragen, es fällt schwer, sie ernst und nicht als bloße Selbstdarstellung zu nehmen, erinnern an jene Episode im Film »Die Feuerzangenbowle« und die Lehrerfrage »Wat is’n Dampfmaschin?« Zu deren Beantwortung wird da zum Ausgangspunkt genommen: »Da stella mer uns mal janz dumm.« Dann kommt der Pädagoge aber doch zur Sache und auf den Dampf zu sprechen. Der Blättchen-Autor hingegen hat »die geistige Leere des deutschen Eroberungsdranges« ermittelt und folglich während seiner Schuljahre offenkundig nicht aufgepaßt, als von der mate­riellen Fülle jenes Dranges, von Erdöl, Erzen, Weizen und von den »Heloten« (Reinhard Heydrich) gesprochen wurde, die unter dem Kommando nicht »der Deutschen«, sondern deutscher Kapitalisten und Gutsherren dort dereinst schuften würden. Der Spiegel-Historiker hatte das auch nicht, ist aber entlastet, denn er kam gar nicht in die Lage. Er hat keine ostdeutsche Schule besucht.

[1] Rolf-Dieter Müller, Der Feind steht im Osten. Hitlers geheime Pläne für einen Krieg gegen die Sowjetunion. Ch. Links, Berlin 2011

* Aus: junge Welt, 28. Juni 2011


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