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Über Politik und Moral vor dem Zweiten Weltkrieg

Aus Wladimir Putins Beitrag für die Warschauer "Gazeta Wyborcza" / Auszüge aus der Rede von Angela Merkel

Am 1. September gedachte Europa des hitlerdeutschen Überfalls auf Polen, durch den vor 70 Jahren der Zweite Weltkrieg vom Zaun gebrochen wurde. Auf der Westerplatte bei Gdansk fanden sich auf Einladung der polnischen Regierung rund 30 führende Politiker des Kontinents zu einer feierlichen Zeremonie ein. Tags zuvor bereits hatte Russlands Premier Wladimir Putin aus gleichem Anlass in der Zeitung »Gazeta Wyborcza« einen Beitrag veröffentlicht, der in unserem Nachbarland als »Brief an die Polen« bezeichnet wird. Darin plädiert Putin dafür, die Geschichte nicht zum Anlass für gegenseitige Vorwürfe, sondern zur Grundlage für Versöhnung und Partnerschaft zu nehmen. Das "Neue Deutschland" (ND) veröffentlichte wesentliche Auszüge aus diesem Beitrag, der die heutige russische Sicht auf Ursachen und Vorgeschichte des Krieges widerspiegelt, ebenso wie die Ansprache von Bundeskanzlerin Angela Merkel während der Gdansker Gedenkveranstaltung. Im Folgenden dokumentieren wir beide Reden.

Wladimir Putin

Schon sieben Jahrzehnte trennen uns von dem tragischen, schwarzen Datum in der Geschichte der Zivilisation – dem 1. September 1939, dem ersten Tag des zerstörerischsten und blutigsten Krieges, den Europa und die ganze Menschheit erleben mussten. (...)

Die gemeinsame moralische Pflicht der heute Lebenden ist es, sich vor den Gefallenen zu verneigen, vor dem Mut und der Standhaftigkeit der Soldaten verschiedener Länder, die den Nazismus bekämpft und vernichtet haben.

Das 20. Jahrhundert hinterließ tiefe, nicht verheilende Wunden – Revolutionen, Umstürze, zwei Weltkriege, die nazistische Okkupation eines großen Teils Europas und die Tragödie des Holocaust, die Spaltung des Kontinents nach ideologischen Prinzipien. Aber im Gedächtnis der Europäer sind auch der siegreiche Mai 1945, die Akte von Helsinki, der Fall der Berliner Mauer, gewaltige demokratische Veränderungen in der Sowjetunion und in Osteuropa zu Beginn der 90er Jahre.

Das alles ist unsere gemeinsame Geschichte, von der wir uns nicht abtrennen können. Und es gibt keinen Richter, der ein absolut unvoreingenommenes Verdikt über die Vergangenheit sprechen könnte. Wie es auch kein Land gibt, das nicht tragische Seiten, jähe Umbrüche und staatliche Entscheidungen kennen würde, die weit von moralischen Prinzipien entfernt sind. Wir sind verpflichtet, Lehren aus der Geschichte zu ziehen, wenn wir eine friedliche und glückliche Zukunft haben wollen. Es ist jedoch äußerst schädlich und unverantwortlich, mit dem Andenken zu spekulieren, die Geschichte zu präparieren und in ihr Anlässe für gegenseitige Vorwürfe und Kränkungen zu suchen. (...)

Die Leinwand der Geschichte ist keine billige Reproduktion, die man stümperhaft retuschieren und von der man je nach Wunsch des Auftraggebers wegnehmen kann, was nicht gefällt. (...) Leider trifft man heutzutage nicht selten auf solchen Umgang mit der Vergangenheit. Wir sehen Versuche, die Geschichte nach den Bedürfnissen der politischen Konjunktur umzuschreiben. In einigen Ländern ist man noch weiter gegangen: Man heroisiert die Helfer der Nazis, stellt Opfer und Henker, Befreier und Okkupanten in eine Reihe. (...)

Symptomatisch ist, dass sich mit der Entstellung der Geschichte häufig jene befassen, die doppelte Standards auch in der Gegenwartspolitik anwenden. Unwillkürlich stellt sich die Frage, wie weit Leute, die solche Mythen schaffen, von den Autoren des Stalinschen »Kurzen Lehrgangs der Geschichte« entfernt sind, in dem Namen oder Ereignisse die dem »Führer aller Völker« nicht genehm waren, einfach weggewischt und durch schablonenhafte, völlig ideologisierte Versionen des Geschehenen ersetzt wurden.

So fordert man uns heute auf, ohne alle Bedenken anzuerkennen, dass der sowjetisch-deutsche Nichtangriffspakt vom 23. August 1939 der einzige »Startschuss« zum Zweiten Weltkrieg gewesen sei. Die Verfechter dieser Position stellen sich allerdings elementare Fragen nicht: Hinterließ der Vertrag von Versailles, der einen Schlussstrich unter den Ersten Weltkrieg zog, nicht eine Vielzahl von »Minen mit verzögerter Wirkung«? Die wichtigste war, dass nicht nur die Niederlage, sondern auch die Erniedrigung Deutschlands fixiert wurde. Wurden Grenzen in Europa nicht lange vor dem 1. September 1939 schon verletzt? Gab es nicht den Anschluss Österreichs, gab es nicht das Zerreißen der Tschechoslowakei, als sich nicht nur Deutschland, sondern auch Ungarn und tatsächlich auch Polen an der territorialen Aufteilung Europas beteiligten? Am gleichen Tag, als das Münchner Abkommen geschlossen wurde, stellte Polen der Tschechoslowakei ein eigenes Ultimatum und zeitgleich mit den deutschen Truppen schickte es seine Armee in die Gebiete von Cieszyn und Frystak.

Kann man die Augen vor den Versuchen der westlichen Demokratien verschließen, sich hinter den Kulissen von Hitler »freizukaufen« und seine Aggression nach Osten umzulenken? Davor, wie planmäßig und mit allgemeiner Duldung die Sicherheitsgarantien und die in Europa existierenden Systeme der Rüstungsbegrenzung, demontiert wurden?

Schließlich: Wie war das militärpolitische Echo der Vereinbarung vom 29. September 1938 in München? Hatte Hitler nicht schon damals entscheiden, dass man ihm »alles erlauben« werde? Dass Frankreich und England keinen Finger rühren würden, um ihre Verbündeten zu verteidigen? Der »komische Krieg« an der Westfront, das tragische Schicksal des ohne Hilfe bleibenden Polen zeigten leider, dass seine Hoffnungen ihn nicht trogen.

Ohne jeden Zweifel kann man den im August 1939 abgeschlossenen Molotow-Ribbentrop-Pakt mit vollem Recht verurteilen. Aber ein Jahr zuvor hatten Frankreich und England in München das bekannte Abkommen mit Hitler, das alle Hoffnungen auf die Bildung einer Einheitsfront im Kampf gegen den Faschismus zerstörte.

Heute verstehen wir, dass jede Form von Abkommen mit dem nazistischen Regime aus moralischer Sicht unannehmbar war und keinerlei Aussichten auf praktische Realisierung hatte. Aber im Kontext der historischen Ereignisse jener Zeit sah sich die Sowjetunion nicht nur alleine mit Deutschland konfrontiert, weil die westlichen Staaten das vorgeschlagene System der kollektiven Sicherheit ablehnten. Sondern sie stand auch vor der Bedrohung eines Zweifrontenkrieges, weil gerade im August 1939 das Feuer des Konflikts mit den Japanern am Fluss Chalchyn Gol mit voller Kraft entbrannte.

Durchaus begründet befand es die sowjetische Diplomatie jener Zeit zumindest für unklug, das Angebot Deutschlands über einen Nichtangriffspakt in einer Lage abzulehnen, da mögliche Verbündete der UdSSR im Westen auf analoge Vereinbarungen mit dem Deutschen Reich bereits eingegangen waren und nicht mit der Sowjetunion zusammenarbeiten wollten, so dass sie alleine der mächtigen Militärmaschine des Nazismus gegenüber stand. (...)

Im Rückblick auf die Vergangenheit sollten wir alle unbedingt daran denken, zu welchen Tragödien Kleinmut, Kabinettspolitik hinter den Kulissen und das Streben führen, Sicherheit und nationale Interessen auf Kosten anderer zu garantieren. Es kann keine vernünftige, verantwortungsvolle Politik außerhalb moralischer und rechtlicher Rahmen geben. (...) Und in diesem Zusammenhang erinnere ich daran, dass der unmoralische Charakter des Molotow-Ribbentrop-Pakts in unserem Land eine eindeutige parlamentarische Wertung erfahren hat. Das kann man von einer Reihe anderer Staaten nicht sagen, obwohl auch sie in den 30er Jahren streitbare Entscheidungen getroffen hatten.

Und noch eine Lehre der Geschichte: Alle Erfahrungen der Zeit vom Versailler Frieden bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges zeigen überzeugend, dass es unmöglich ist, ein effektives System kollektiver Sicherheit ohne Beteiligung aller Länder des Kontinents zu schaffen – eingeschlossen Russland. (...)

Für die Völker der Sowjetunion, Polens und anderer Staaten war es eine Krieg ums Leben, um das Recht auf ihre eigene Kultur, ihre Sprache, ihre Zukunft. Wir erinnern uns aller, die an diesem Kampf gemeinsam mit dem sowjetischen Volk teilnahmen. Der Polen, die sich als erste dem Aggressor in den Weg stellten, Warschau und die Westerplatte im September 1939 mutig verteidigten und später in den Reihen der Anders-Armee und der Polnischen Streitkräfte, der Armia Krajowa und der Armia Ludowa kämpften. Der Amerikaner, Engländer, Franzosen, Kanadier und anderer Kämpfer der zweiten Front, die Westeuropa befreiten. Der Deutschen, die ohne Furcht vor Repressionen dem Hitlerregime Widerstand leisteten.

(...) Das Volk Russlands, dessen Schicksal durch ein totalitäres Regime geprägt wurde, versteht gut die Gefühle der Polen im Zusammenhang mit Katyn, wo Tausende polnischer Soldaten begraben liegen. Wir sind verpflichtet, das Andenken an die Opfer dieses Verbrechens gemeinsam zu schützen. Die Gedenkstätten von Katyn und Mednoje wie auch die tragischen Schicksale der russischen Soldaten, die während des Krieges 1920 in polnische Gefangenschaft gerieten, müssen zu Symbolen gemeinsamer Trauer und gegenseitigen Vergebens werden.

Die Schatten der Vergangenheit können den heutigen und erst recht den morgigen Tag der Zusammenarbeit zwischen Polen und Russland nicht mehr verdunkeln. (...) Vor Russland und Polen eröffnen sich vielversprechende Perspektiven für partnerschaftliche Arbeit und Beziehungen, wie sie zweier großer europäischer Nationen würdig sind...

(Überschrift von der Redaktion)


Deutschlands immer währende Verantwortung

Rede von Bundeskanzlerin Angela Merkel während der Gedenkveranstaltung auf der Westerplatte bei Gdansk

Heute vor 70 Jahren begann mit dem deutschen Überfall auf Polen das tragischste Kapitel in der Geschichte Europas. Der von Deutschland entfesselte Krieg brachte unermessliches Leid über viele Völker – Jahre der Entrechtung, der Erniedrigung und der Zerstörung.

Kein Land hat so lange in seiner Geschichte unter deutscher Besatzung gelitten wie Polen. Gerade in dieser dunklen Zeit, über die wir heute sprechen, wurde das Land verwüstet. Städte und Dörfer wurden zerstört. In der Hauptstadt wurde nach der Niederschlagung des Aufstands 1944 kaum ein Stein auf dem anderen gelassen. Willkür und Gewalt durchzogen den Alltag. Kaum eine polnische Familie blieb davon verschont.

Hier auf der Westerplatte gedenke ich als deutsche Bundeskanzlerin aller Polen, denen unter den Verbrechen der deutschen Besatzungsmacht unsägliches Leid zugefügt wurde.

Die Schrecken des 20. Jahrhunderts gipfelten im Holocaust, der systematischen Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden. Ich gedenke der sechs Millionen Juden und aller anderen, die in deutschen Konzentrations- und Vernichtungslagern einen grausamen Tod erlitten.

Ich gedenke der vielen Millionen Menschen, die ihr Leben im Kampf und im Widerstand gegen Deutschland lassen mussten.

Ich gedenke aller, die unschuldig durch Hunger, Kälte und Krankheit, durch die Gewalt des Krieges und seine Folgen sterben mussten.

Ich gedenke der 60 Millionen Menschen, die durch diesen von Deutschland entfesselten Krieg ihr Leben verloren haben.

Es gibt keine Worte, die das Leid dieses Krieges und des Holocaust auch nur annähernd beschreiben könnten.

Ich verneige mich vor den Opfern.

Wir wissen: Die Gräuel des Zweiten Weltkriegs können wir nicht ungeschehen machen. Die Narben werden weiterhin sichtbar bleiben. Aber die Zukunft im Bewusstsein unserer immer währenden Verantwortung gestalten – das ist unser Auftrag.

In diesem Geist hat sich Europa aus einem Kontinent des Schreckens und der Gewalt in einen Kontinent der Freiheit und des Friedens verwandelt. Dass das möglich geworden ist, ist nicht mehr und nicht weniger als ein Wunder.

Wir Deutschen haben dabei nie vergessen: Deutschlands Partner in Ost und in West haben diesen Weg durch Versöhnungsbereitschaft geebnet. Sie haben uns Deutschen die Hand zur Versöhnung ausgestreckt. Wir haben sie voller Dankbarkeit ergriffen.

Ja, es ist ein Wunder, dass wir in diesem Jahr nicht nur an die Abgründe europäischer Geschichte vor 70 Jahren denken müssen. Es ist ein Wunder, dass wir auch an die glücklichen Tage denken können, die vor 20 Jahren zum Fall der Berliner Mauer, zur Wiedervereinigung Deutschlands und zur Einheit Europas geführt haben. Denn vollendet wurde der Weg Europas zur Freiheit erst mit dem Fall des Eisernen Vorhangs.

In der Tradition der Solidarnosc in Polen haben die Menschen damals überall das Tor zur Freiheit mutig aufgestoßen. Wir Deutschen werden das nie vergessen, nicht die Rolle unserer Freunde in Polen, Ungarn und der damaligen Tschechoslowakei; nicht die Rolle Michail Gorbatschows und unserer westlichen Partner und Verbündeten; und nicht die Rolle der moralischen Kraft der Wahrheit, die keiner so überzeugend und glaubwürdig verkörperte wie Papst Johannes Paul II.

Es lag auch deshalb in der besonderen deutschen Verantwortung, Polen und den anderen Staaten Mittel- und Osteuropas den Weg in die Europäische Union und die NATO zu ebnen und ihnen zur Seite zu stehen.

Ja, es ist ein Wunder, eine Gnade, dass wir Europäer heute in Freiheit und Frieden leben können. Kaum etwas könnte den Unterschied zu 1939 besser versinnbildlichen als die enge, die vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Polen und die vielfältigen freundschaftlichen Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern.

Die Einigung Europas und die Freundschaft Deutschlands mit seinen Nachbarn finden ihre Stärke darin, dass wir uns unserer Geschichte stellen. Dies bringen die Vorsitzenden der deutschen und polnischen Bischofskonferenzen in ihrer jüngst veröffentlichten Erklärung zum heutigen Jahrestag folgendermaßen auf den Punkt – ich zitiere:

»Gemeinsam müssen wir in die Zukunft blicken, auf die wir zugehen möchten, ohne die geschichtliche Wahrheit in all ihren Aspekten zu vergessen noch zu gering zu achten.«

Wenn wir in meinem Land bis heute auch an das Schicksal der Deutschen denken, die in Folge des Krieges ihre Heimat verloren haben, dann tun wir das stets genau in dem von den Bischöfen beschriebenen Sinne. Dann tun wir das in dem Bewusstsein der Verantwortung Deutschlands, die am Anfang von allem stand. Dann tun wir das, ohne irgendetwas an der immer währenden geschichtlichen Verantwortung Deutschlands umschreiben zu wollen. Das wird niemals geschehen.

Und in genau diesem Bewusstsein bin ich heute – 70 Jahre später – hierher nach Danzig gekommen. In diese einst leidgeprüfte, nun aber glanzvoll restaurierte Stadt.

Sehr geehrter Herr Staatspräsident, sehr geehrter Herr Ministerpräsident, dass Sie mich als deutsche Bundeskanzlerin zum heutigen Gedenktag eingeladen haben, berührt mich sehr. Ich verstehe dies als ein Zeichen unserer vertrauensvollen Nachbarschaft, unserer engen Partnerschaft und unserer wirklichen Freundschaft zwischen unseren Ländern, zwischen den Menschen in Deutschland und Polen. Ich möchte Ihnen ausdrücklich dafür danken!

(Überschrift von der Redaktion)

* Aus: Neues Deutschland, 5. September 2009


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