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Ein mutiger symbolischer Akt

Das Attentat vom 20. Juli 1944 – eine Interpretation wider die offiziellen Darstellungen

Von Siegfried Gebser *

Vor 65 Jahren, am 20. Juli 1944, explodierte gegen 12.50 Uhr ein im Führerhauptquartier »Wolfsschanze« in der Lagebaracke deponierter Sprengsatz. Noch am selben Tag wurde klar, wer die Sprengladung dort abgelegt und gezündet hatte: Oberst Claus Schenk Graf von Stauffenberg, Stabschef beim Befehlshaber des Ersatzheeres. Hitler, den diese Sprengladung töten sollte, überlebte. Ein Wunder, wie der Diktator sogleich behauptete. Oder Absicht?

Bis 1996 war klar: Das missglückte Attentat auf Hitler ist auf unglückliche Umstände zurückzuführen, wie die schwere Verwundung Stauffenbergs, Zeitdruck bei der Zündung des Sprengsatzes und die Verschiebung der Aktentasche mit der Sprengladung unter dem schweren Kartentisch. Dies schien hinreichend glaubwürdig, war fester Bestandteil in der Darstellung des Attentats und in der öffentlichen Meinung der Deutschen bis heute. Zurückhaltend und teils offen wird daher auch immer wieder von Unentschlossenheit und Unfähigkeit der Militärs geredet. Aber war es wirklich so?

Die Formierung der Verschwörer

In der historischen Wissenschaft ist es nicht unüblich, Fakten noch einmal zu prüfen und bisherige Kenntnisse in Frage zu stellen. Dies tat auch der Berliner Soziologe Dietrich Schmidt-Hackenberg. Seine Publikation »20. Juli 1944 – Das ›gescheiterte Attentat‹« wurde 1996 erstmals veröffentlicht, fand aber in der Fachwelt bedauerlicherweise nur geringe Beachtung. Der ostdeutsche Historiker und profunder Kenner der Materie Professor Kurt Finker gab immerhin im ND zu bedenken: »Der Reiz dieses Buches liegt darin, dass der Verfasser seine Fragen grundsätzlich anders stellt, als sie die bisherige Geschichtsschreibung zu stellen gewohnt war.« Und es sei legitim, über scheinbar längst gesicherte Fakten und Interpretationen neu nachzudenken. Schmidt-Hackenberg meint, das Attentat auf Hitler sei »nichts geringeres als ein symbolischer Akt gewesen« und insofern auch nicht als »gescheitert« anzusehen.

Erinnern wir uns noch einmal der Vorgeschichte: Die militärische Fronde hatte sich trotz Hitlerbegeisterung sehr früh um Generaloberst Beck formiert, ging es doch um die Verhinderung eines voreilig auszulösenden Krieges gegen die Tschechoslowakei, für den sie Deutschland noch nicht ausreichend gerüstet glaubten. Doch die bedrohliche Lage für Deutschland konnte durch die Intrige von Hitler gegenüber der Tschechoslowakei abgewendet werden. Erst im Krieg, vor allem nach der Aggression gegen die Sowjetunion, verstärkte sich wieder die Bereitschaft der Militärs, gegen Hitler vorzugehen. Nach der Niederlage vor Moskau und der Entlassung einiger Feldmarschälle wie Brauchitsch, Leeb und Witzleben sowie der Übernahme der Kommandogewalt über das Heer durch Hitler begannen sich die Verschwörer insbesondere im Mittelabschnitt der deutsch-sowjetischen Front ernsthaft zu formieren.

Zur treibenden Kraft wurde Generalmajor Henning von Tresckow, Generalstabsoffizier. Um ihn gruppierten sich bekannte Militärs wie Graf von Hardenberg und Graf von Lehndorf. Diese hatten auch Kontakte zu Beamten im Reich, die in Opposition zu Hitler standen und die die Verbindung zu dem sich in Ruhestand befindlichen Generaloberst Ludwig Beck und dem Leipziger Oberbürgermeister Carl Friedrich Goerdeler aktivierten. Letzterer suchte über den schwedischen Bankdirektor Jacob Wallenberg und dessen Bruder Marcus Sondierungsgespräche für einen Frieden mit Großbritannien. Die erhofften Zusagen blieben wegen der harten Haltung Churchills aus. Inzwischen brachte der Kriegsverlauf bedrohliche Veränderungen.

Die Niederlage bei Stalingrad traf das faschistische Regime hart. Es folgte die Schlacht bei Kursk mit einem beachtlichen Territorialgewinn der Roten Armee. In dieser Periode forderten die Führer der Verschwörung ihre Gesinnungsgenossen auf, zum entschlossenen Handeln überzugehen. Ende Februar 1943 waren die Pläne für ein Attentat auf Hitler im Detail ausgearbeitet. Der Stab des Ersatzheeres wurde zum Führungszentrum der Verschwörung bestimmt und der Plan »Walküre« gab die Handlungsanweisung nach einem erfolgreichen Anschlag auf Hitler.

Im Oktober 1943 stieß Stauffenberg zu den Verschwörern und übernahm wichtige Aufgaben in Vorbereitung des Anschlages. Zu ihm gesellte sich Generalmajor Stieff, Chef der Organisationsabteilung im Oberkommando des Heeres, der eine nicht unwichtige Rolle – nicht nur bei der Beschaffung von Sprengmitteln – spielen sollte. Die Illusion eines Teilfriedens mit den Westen zerschlug sich mit der Konferenz in Teheran im November 1943, auf der die Alliierten ihre Entschlossenheit bekräftigten, die Kampfhandlungen gegen die deutschen Streitkräfte bis zur bedingungslosen Kapitulation zu führen. Dies zwang die Verschwörer umzudenken. Die Bereitschaft, Hitler zu töten, wurde nun Gegenstand ernsthafter Diskussionen. Vor allem war es Generalmajor Stieff, der gegen dessen Tötung argumentierte. Er gab zu bedenken, dass dabei auch kriegserfahrene Generäle mit in den Tod gerissen werden könnten. Stieff befürchtete »italienische Verhältnisse« wie nach dem Sturz von Mussolini im Juli 1943. Die militärische Führungsfähigkeit Deutschlands stünde auf dem Spiel. Überleben sollte in jedem Falle Generalleutnant Adolf Heusinger, Chef der Operationsabteilung im Generalstab des Heeres. Beachten wollten die Verschwörer zudem den Ratschlag von Generaloberst von Hammerstein-Equord an seine mitverschworenen Söhne, nicht zu früh den Anschlag durchzuführen, weil sie sonst Gefahr laufen würden, Opfer des »Volkszornes« zu werden. Nahrung für eine neue Dolchstoßlegende, diesmal zu ungunsten der Militärs, wollten sie keinesfalls bieten.

Ungeachtet dieser Bedenken und der veränderten politischen Lage – keine Bereitschaft der Alliierten zu Seperatfrieden – war Stauffenberg entschlossen, das Attentat durchzuführen, zumal er nach seiner Beförderung zum Oberst jetzt Zutritt zum engsten Kreis in der »Wolfsschanze« hatte. Zwei Sprengstoffladungen, je 975 Gramm, waren mit entsprechenden Zündmitteln beschafft worden und durch den Adjutanten Oberleutnant von Haeften an Stauffenberg in der »Wolfsschanze« übergeben. Dieser konnte jedoch nur eine für die Explosion scharf machen und mit der Aktentasche unter dem Kartentisch im »Führerhauptquartier« abstellen; die zweite Charge verblieb bei Haeften. Während der Rückfahrt zum Flugplatz warfen die Attentärer diese aus dem Auto; die Kriminalpolizei fand den Sprengstoff später.

Bei aller erdenklichen Hektik vor dem Lagebericht bei Hitler – hätte sich diese zweite Charge auch ohne Zünder in der Aktentasche von Stauffenberg befunden, sie wäre mit der ersten Ladung zur Explosion gekommen. Sarkastisch kommentierte damals ein an der Untersuchung des Anschlags beteiligter Kriminalist im badischen Dialekt: »Hätten die (Stauffenberg und Haeften) des Zeigs mit hochgehe lasse, da lebte kei Ratt mehr.« Es bestand offensichtlich die Absicht, die Wirkung der Sprengladung zu verringern, sodass mit Hitler hohe Offiziere, darunter Heusinger, überlebten.

Es kann angenommen werden, dass auf Stauffenberg die Gespräche mit Generalmajor Stieff während des Fluges von Zossen zur »Wolfsschanze« nicht ohne Wirkung geblieben sind. Dessen Bedenken könnten letztlich Stauffenberg überzeugt haben. Definitiven Aufschluss werden wir leider wohl nicht mehr erhalten, da alle Hauptakteure dem Rachefeldzug Hitlers zum Opfer fielen. Im sogenannten »Kaltenbrunner-Bericht« gibt es nur geringfügige Hinweise für diese Vermutung.

Aus höherer Vernunft

Wenn sich das Attentat so vollzogen hat, wie hier behauptet, dann ist auch allen Vorwürfen dilettantischer Vorbereitung und Durchführung mit Recht zu widersprechen. Es war wichtig, »dass die deutsche Widerstandsbewegung vor der Welt und vor der Geschichte den entscheidenden Wurf gewagt hat«, ist von Tresckow überliefert. Die Opferbereitschaft und der Heldenmut von Stauffenberg sind nicht in Frage zu stellen. Im Gegenteil – egal welchen Ausgang das Attentats auf Hitler nehmen würde, war mit einem unerbittlichen Rachefeldzug des Regimes zu rechnen. Wer sehenden Auges sich der möglichen Gefahr aussetzt, verdient Hochachtung.

Das Attentat auszuführen und »aus höherer Vernunft Hitlers Tötung auszusparen«, schreibt Schmidt-Hackenberg, für dieses »Kunststück« habe sich Stauffenberg als »der richtige Mann zur richtigen Stunde am richtigen Ort« erwiesen: »Welch Missverständnis, seine Tat als bedauerlichen Fehlschlag anzusehen!«

* Aus: Neues Deutschland, 18. Juli 2009


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