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Schlafwandlerisch in den Krieg?

Christopher Clarks missglückte Geschichte des Ersten Weltkrieges. Von Kurt Pätzold *

Jahrestage werfen ihre Bücher voraus. So auch der 100. Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkrieges. Vorgestellt wurde jüngst in Berlin, Leipzig und im TV-Talk ein Buch, das der Verlag mit den Worten anpreist, es stelle infrage, »was bisher als Konsens unter Historikern galt, dass Deutschland die Hauptschuld am Ausbruch des Krieges trägt«. Sein Autor ist der australische, in England lebende und lehrende Historiker Christopher Clark, der u. a. mit einer Biografie Kaiser Wilhelms II. hervorgetreten ist. Sein neues Werk erschien im Original unter dem Titel »The Sleepwalkers. How Europe Went to War in 1914«. Den übernahm die deutsche Ausgabe. Mit Somnambulismus bekommt demnach zu tun, wer sich in die Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges vertieft. Nach Auskunft von Neurologen wird bei Schlafwandlern aggressives Verhalten nur selten angetroffen. Davon aber kann bei den Akteuren, die in diesem Buch vorgestellt werden, freilich die Rede nicht durchweg sein.

Clarks Buch ist schon nach seinem Erscheinen in London in der deutschen Presse begrüßt worden, so von dem Historiker Gerd Krumeich, der bis zur seiner Emeritierung an der Universität Düsseldorf lehrte. Seiner Meinung nach ist die von Fritz Fischer in den 1960er Jahren verfochtene These, wonach Deutschland »aus verantwortungslosen Weltmachtambitionen diesen Krieg gezielt vorbereitet habe«, hierzulande noch viel zu lebendig. Er freut sich vorsichtig, dass man mit Clarks Untersuchung nun wohl »tatsächlich Abschied nehmen kann von der so lange quasi sakrosankten These, dass in erster Linie die Weltmachtambitionen Deutschlands Europa in den Abgrund gestoßen hätten«.

Clark fragt, ob es überhaupt nötig sei, die Frage nach der Kriegsschuld eines einzelnen oder mehrerer Staaten zu stellen. Er warnt vor Irrwegen, die dadurch beschritten werden können. Indes, die Frage nach kollektiver oder individueller Verantwortung oder Schuld wird nicht von Historikern in die Geschichte hineingetragen. Menschen sind für den Verlauf historischer Prozesse selbst verantwortlich und können vor allem an der Spitze von Staaten oder als deren willige Instrumente schuldig werden. Doch ohne die Frage nach Verantwortung und Schuld versinken alle Kriege, auch die aktuellen, hinter einem nebulösen Schleier. Clark bekennt offen, dass ihn das Warum weniger interessiert habe als das Wie.

Der Autor hat durchaus Neues zu bieten. Er hat sich durch Berge von Akten gearbeitet, sich in Archiven in Moskau, London, Berlin, Rom und Belgrad umgetan. Sein Buch bewegt sich in der wohltuenden Erzähltradition britischer Geschichtsschreiber, von akademischem Stuck unbelastet und dadurch auch für Laien ansprechend. Da dicht beschriebene politische Geschehnisse mit der Schilderung, wie beispielsweise Schriftsteller die Nachricht vom Kriegsbeginn aufnahmen, wechseln, werden dem Leser gleichsam Pausen zum Luftholen gelassen.

Die Personage im Buch bilden gekrönte und ungekrönte Staatsoberhäupter, Regierungschefs und Minister, Staatssekretäre und Diplomaten, Militärs, Militärattachés und insbesondere Generalstäbler. Die sortiert der Autor quellengestützt zu den »Falken« oder »Tauben«, Zweiflern und Schwankenden. Akribisch wird rekonstruiert, wer was gesehen, erkannt und gedacht und wem gesagt oder pflichtgemäß gemeldet hat. Wem was absichtsvoll verschwiegen und welche Entscheidung getroffen oder welche vermieden wurde. Erörtert wird ebenso, was in dieser oder jener Lage besser oder zweckdienlicher gewesen wäre. Die Entschlüsselung von Verhaltensweisen der Akteure führt zu vielen anregenden individual- und gruppenpsychologischen Porträts. So entsteht ein Bild jener, die »Geschichte gemacht« haben. Doch tun Menschen das bekanntlich nicht aus »freien Stücken«. Und darauf kommt die Rede kaum. So plätschert die Darstellung des Geschehens im Spiegel diplomatischer Papiere, von Sitzungsprotokollen, Notizen nach offiziellen und privaten Gesprächen, Tagebucheintragungen und Erinnerungen dahin.

Schwerer wiegt indessen, dass Clark die Vorgeschichte des Weltkrieges 1911 mit Italiens Eroberung der libyschen Wüste beginnen lässt, wodurch die Morschheit des Osmanischen Reiches auch für die unterdrückten Balkanvölker ermutigend zutage getreten sei. Nun wird keine Weltkriegsforschung altersschwächelnde Vielvölkergefängnisse und die ihren Bestand verteidigenden Machthaber in Wien und Konstantinopel außer Acht lassen. Doch geschichtlicher Ausgangspunkt und Kern der sich entwickelnden Widersprüche und wachsenden Konflikte war die Entstehung eines neuen Staates im Zentrum Europas, der rasch eine ökonomische und militärische Großmacht wurde, aber bei der Aufteilung zu spät kam. Gemeint ist das 1871 gegründete Deutsche Reich, das Weltmacht werden wollte und dabei auf Kräfte stieß, die seine Ambitionen einzuhegen oder zu durchkreuzen trachteten. Dies musste in einen Krieg münden, was wiederum nicht heißt, dass er alternativlos war. Clark machte sich auch auf die Spuren jener in Regierungsapparaten, die wider den Krieg sprachen. Dabei geraten allerdings zu viele Personen als friedfertig, denen einzig daran gelegen war, öffentlich nicht als Kriegstreiber und Kriegsschuldige dazustehen.

Clarks Buch demonstriert, wohin Geschichtsanalyse minus Wirtschaftsgeschichte führt. Verwundert reibt sich der Leser die Augen, wenn er erst auf der letzten Seite des Buches die Bemerkung liest, dass es Kräfte gab, die an Kriegsvorbereitung und Krieg verdienten. Wirtschaftliche Eliten erscheinen nur in Nebenbemerkungen, schlicht und dürftig. Gustav Krupp wird einzig als Zeuge dafür zitiert, dass Wilhelm II. versicherte, er werde in der Krise nicht umfallen. Schließlich heißt es generalisierend, die Politiker hätten ihre verhängnisvollen Entscheidungen im Juli und August 1914 weniger unter dem Druck von »Industrie- und Finanzlobbygruppen« getroffen, sondern unter dem ihrer Gegner in den eigenen Apparaten. So erscheint der Eilmarsch in das Völkermorden als Resultat von Rivalitäten in Gremien, Zirkeln und Cliquen von Politikern und Militärs.

Schade, dass Clark, der die von ihm genutzte Literatur auf 36 Buchseiten ausweist, nicht auf die dreibändige Geschichte »Deutschland im Ersten Weltkrieg« gestoßen ist, die Fritz Klein mit Joachim Petzold und Willibald Gutsche und weiteren Mitstreitern verfasst hatte – eines der wenigen Werke aus DDR-Zeit, das nach 1990 eine Wiederauflage erfuhr.

Christopher Clark: Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog. DVA, München 2013. 895 S., geb., 39,99 €

* Aus: neues deutschland, Samstag, 2. November 2013


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