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Geschichtssomnambulismus

Rezension. Früher dachte man, Kriege werden gemacht. Seit dem 9. September wissen wir: Der Erste Weltkrieg brach eines Nachts aus den gefüllten Blasen der europäischen Staatsmänner aus

Von Otto Köhler *

Was nun aber ist »die Aufgabe Deutschlands in Europa und in der Welt?« Kaiser Wilhelm III., der unter seinem bürgerlichen Namen Joachim Gauck als Präsident der von ihm angeführten Bundesrepublik Deutschland dieselbe herrlichen Zeiten entgegenführen will, fragte es am 3. Oktober, dem 23. Jahrestag jener zu feiernden deutschen Einheit. Gewiß, so antwortete er, manche Nachbarländer fürchteten ja – immer noch – »eine starke Rolle Deutschlands«, aber: »Andere wünschen sie sich«. Und die noch Schwankenden im eigenen Land mahnte er: »Weniger Verantwortung, das geht eigentlich nicht länger« – Deutschland ist »keine Insel« – wir müssen uns endlich »an mehr Verantwortung« gewöhnen.

Und uns dafür etwas anderes abschminken. Kürzlich, bei einem Besuch in Frankreich – das war in Oradour – sah er sich mit der Frage konfrontiert: »Erinnern wir Deutsche auch deshalb so intensiv an unsere Vergangenheit, weil wir eine Entschuldigung dafür suchen, den heutigen Problemen und Konflikten in der Welt auszuweichen? Lassen wir andere unsere Versicherungspolice zahlen?«

»Trotzdem«, jetzt sprach der Bundespräsident wieder laut auf der Feier zum Einheitstag: »Es mehren sich die Stimmen innerhalb und außerhalb unseres Landes, die von Deutschland mehr Engagement in der internationalen Politik fordern. In dieser Liste findet sich ein polnischer Außenminister ebenso wie Professoren aus Oxford oder Princeton.«

Mehr Engagement, raunen die Stimmen – das heißt mehr deutsche Soldaten. Ach, und der polnische Außenminister, der uns Mores lehren soll, das ist unser Freund Radoslaw Sikorski, der tut, was er muß – bevor er Chefdiplomat seines Landes wurde, war er in Washington Direktor am neokonservativen Thinktank American Enterprise Institute angestellt. Er unterlag allerdings 2010 – alles lassen sich die Polen doch nicht bieten – bei ihren Präsidentschaftswahlen. Und danach forderte unser bewährter Kollaborateur »deutsche Führung«. Er also gehört zu den »Stimmen«, die unser Präsident hört, die ihn bedrängen: »Engagement! Engagement!«. Und ihnen gilt Deutschland, so klagt er laut und schmerzerfüllt, »als schlafwandelnder Riese oder als Zuschauer des Weltgeschehens«.

Ein schlafwandelnder Riese?

Weiß Gauck Bescheid? Hat er es schon gelesen? Das dicke Buch, das keine vier Wochen vor seiner Rede, am 9. September, erschienen war: »Die Schlafwandler« von dem australischen Historiker Christopher Clark. Frohe Kunde: Es spricht uns frei von der Schuld, ja auch nur der Verantwortung für den Ersten Weltkrieg. Es ermahnt die Deutschen, diese Schuld am Ersten Weltkrieg von Srebrenica aus zu sehen, also aus dem Jahr 1995 zurück auf die Attentäter von 1914. Dieses staatspolitisch wertvolle Buch wurde schon zwölf Tage nach Erscheinen auf den zweiten Platz der – wie auch immer zustandekommenden – Bestsellerliste des Spiegel geschubst. Und danach – diese und letzte Woche – auf den ersten Platz, den es noch lange ehern halten wird.

Nun will Clark mit seinem Buch Preußen und Deutschland von dem Ruf befreien, sie hätten mit einem »Griff nach der Weltmacht« – so der Titel von Fritz Fischers dokumentengesättigter Untersuchung von 1961 – den Ersten Weltkrieg verursacht. Fischer widerlegte damit ein leichtfertiges Wort des britischen Premierministers David Lloyd George von 1920: »Keiner der führenden Männer jener Zeit hat den Krieg tatsächlich gewollt. Sie glitten gewissermaßen hinein, oder besser, sie taumelten oder stolperten hinein, vielleicht aus Torheit«.

Doch jetzt wird noch nicht mal mehr hineingeschlittert, sondern – so will es Clark – schlafgewandelt. Das erläutert der Titel seines Werks, das erzählt, »wie der Krieg nach Europa kam«. Er, der Krieg, hatte, wie der Autor wiederholt unterstreicht, einen »Ausbruch« und dieser »Ausbruch war eine Tragödie, kein Verbrechen«.

Für solchen Freispruch hätte dieser Historiker weitestgehender deutscher Unschuld den letztmals 1944 von unserem damaligen Staatsoberhaupt verliehenen höchsten deutschen, den Adlerorden verdient. Aber man tat, was man in der Eile unserer Entwicklung tun konnte: Der extra neugegründete »Braunschweiger Geschichtspreis« ging vergangene Woche schnurstracks an »Die Schlafwandler«. Denn Clark hat »mit diesem Werk zur Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges einen herausragenden Beitrag zur Geschichtsforschung und zur Geschichtsvermittlung geleistet« (feierliche Verleihung im Braunschweiger Altstadtrathaus am Montag, dem 14. Oktober, um 19 Uhr).

Unschuldig ist, wer schläft

Wie aber kam das Buch zu seinem Titel? Der Spiegel fragte: »Herr Professor Clark, schlafwandeln Sie manchmal?« Clark antwortete: »Nein, aber ich habe oft einen Schlafwandler beobachtet: meinen Bruder, als kleines Kind. Zum Glück ist nie etwas Schlimmes passiert.« Der Spiegel insistierte: »Wenn Ihr Bruder sich oder anderen etwas angetan hätte: Hätten Sie ihn dafür verantwortlich gemacht?« Der Professor beruhigte: »Natürlich nicht. Wer schlafwandelt, macht sich nicht schuldig.«

Früher glaubte man, daß ein allzu heller Mond die Schlafwandelei verursache. Heute weiß man, daß es oft eine allzu gefüllte Blase ist, die die Somnambulen im Nachthemd aufs Dach treibt. Hätten die drei Kaiser und die Staatsmänner aller beteiligten Staaten sich einen Nachttopf unters Bett gestellt, dann wäre der Erste Weltkrieg nach der reinen Lehre Clarks nicht »ausgebrochen«.

Clark ist Wiederholungstäter. Für eine andere Ehrenrettung – »Preußen. Aufstieg und Niedergang. 1600–1947« erhielt er im November 2010 den Preis des Historischen Kollegs. Dort, in der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, würdigte der mancherorts angesehene damalige Bundespräsident Christian Wulff in einem Grußwort die hohen Verdienste, die sich der australische Historiker mit seinem einnehmenden Buch über »Preußen« um Deutschland erworben hat: »In jedem Fall sensibilisiert Ihre facettenreiche Betrachtung der preußischen Geschichte, lieber Professor Clark, auch für die Umbrüche der Gegenwart – wie jede gute historische Arbeit.« Aufgabe des Historikers sei ja nicht allein, das Vergangene für die Gegenwart begreifbar zu machen. Er muß mehr leisten: »Er sollte auch das Gegenwärtige ins klärende Licht geschichtlicher Erfahrungen rücken.«

Und da hatte der liebe Professor – Wulff, noch als Ministerpräsident Freund ostdeutscher Großgrundbesitzer, konnte das beurteilen – gerückt und geruckelt, bis alles im richtigen Licht stand. Er hatte die ostelbischen Gutsherren aus dem falschen Licht geholt, in dem sie seit dem Sozialhistoriker Hans Rosenberg standen. Der sprach von »Lokaltyrannen«, die darin geübt waren, »respektlosen und ungehorsamen« bäuerlichen Leibeigenen »den Rücken auszupeitschen, ins Gesicht zu schlagen und Knochen zu brechen«.

Gegenwärtig, so wurden Clarks Preußen-Forschungen gewürdigt, »sehen die Junker und ihre Untertanen aber ganz anders aus. Die ostelbischen Großgrundbesitzer erscheinen heute weniger als ›Lokaltyrannen‹ denn als vielfach geplagte Arbeitgeber, die sich oft nur mit Mühe gegen eine selbstbewußte und einfallsreiche Bauernschaft durchsetzen konnten«. Der Laudator meinte die preußische Vergangenheit. Oder doch wohl die Gegenwart der unter den wieder eingefallenen Nachfahren blühenden Landschaften? Clark: »Die Ländereien der Junker gelten nicht mehr als nachlässig geführte Getreidemonokulturen, sondern als komplexe Agrarunternehmen, die mit beträchtlichen Betriebskosten einhergingen und hohe Investitionen erforderten.«

Und die Zwangsarbeit der Bauern für die Junker? Das muß man heute ganz anders sehen, Clark: »Frondienste – also die Arbeitspflichten der untertänigen Bauern – werden heute nicht mehr als feudaler Zwang, sondern als Pachtleistung, quasi als Miete, angesehen. Und die preußischen Bauern sind auch nicht mehr jene abgestumpften bevormundeten Untertanen, die sie einst waren. Inzwischen betont man ihre beeindruckende Fähigkeit zu Widerstand und konzertiertem Handeln und ihr sehr ausgeprägtes Gedächtnis für die gewohnheitsmäßigen Grenzen ihrer Arbeitspflichten.« Preußen muß schon damals ein Arbeiter-und-Bauern-Staat gewesen sein – mit fortschrittlichen Junkern als Betriebsdirektoren.

Shitstorm der Zeit-Leser

Clarks neues Buch über die Schlafwandler, die unschuldig daran waren, daß der Erste Weltkrieg »ausbrach«, hat in den großen Redaktionen der gegenwärtigen Republik fast ausnahmslos Begeisterung ausgelöst. Nur der Zeit-Historiker Volker Ullrich, der mutmaßlich dachte, er könne in seinem einstigen Blatt noch so frei und unbefangen schreiben, wie er es aus dem letzten Jahrhundert – vor dem Schröder/Fischer-Krieg – gewohnt war, übte vorsichtig Kritik, auch an der »jubelnden Zustimmung einiger deutscher Fachkollegen«. Doch die verbindliche Linie der Zeit bestimmt heute das bei Rowohlt erschienene Lehrbuch (»Wofür Deutschland Krieg führen kann. Und muß.«) ihres Politik-Ressortleiters und stellvertretenden Chefredakteurs Bernd Ulrich (siehe jW-Thema vom 26.4.2013). Und die Leserschaft hat sich längst entsprechend umgeschichtet.

So setzte am 17. September gegen Volker Ullrich ein wahrer Shitstorm der Zeit-Leser ein, der inzwischen fast 100 Beiträge erreicht hat: Ullrich sei »Fischer-fixiert«, warum solle man »Deutschland die Alleinschuld am Ersten Weltkrieg« geben. Die Rezensoren in der FAZ, in der Welt und im Tagesspiegel schilderten dies unvoreingenommener als der Rezensent der Zeit, der eifersüchtig über die deutsche Schuld wache. Wer sich auch nur dem Verdacht aussetze, in der Geschichtsforschung irgendwie als »deutschfreundlich« oder gar »latent rechts« dazustehen, katapultiere sich als Historiker schnell ins akademische Abseits und in Richtung Endstation Hartz. Die Geschichtsschreibung des Ersten Weltkrieges habe immer noch eine klar vorherrschende antideutsche Tendenz. Und so fort. Und so fort. Die neuen Zeit-Leser können sich nicht beruhigen.

Das alles nur, weil Ullrich auffiel, wie verständnisvoll, ja geradezu nachsichtig Clark über die deutsche Vorkriegspolitik urteilt. Dem Kaiser Wilhelm II., der mit seinen martialischen Auftritten die Welt ein ums andere Mal schockierte, bescheinige Clark die Allüren eines »aufgeregten Teenagers«; dessen rhetorische Entgleisungen werden als »albernes Geplauder« abgetan. Der Bau einer großen Schlachtflotte sei nicht nur gerechtfertigt gewesen, er habe die britische Regierung auch gar nicht besonders alarmiert, weil die Deutschen das Wettrüsten zur See ohnehin von vornherein verloren hätten. Kurzum, so Ullrich über Clark: »Nicht durch seinen eigenen weltpolitischen Aktionismus habe sich das wilhelminische Deutschland in die außenpolitische Isolierung manövriert, vielmehr hätten die germanophoben Politiker in London, Paris und St. Petersburg der stärksten Wirtschaftsmacht auf dem Kontinent den legitimen Bewegungsspielraum nicht gegönnt.«

Ullrichs Wort hat hier Gewicht. Er war an der Universität Hamburg Assistent von Egmont Zechlin, dem entschiedenen Gegner Fritz Fischers, der nach Jahren deutschen Unschuldsgeschreis mit einer Fülle von Dokumenten die deutsche Schuld am Ersten Weltkrieg bewies. Beide widerstreitenden Professoren hatten ihre Räume Tür an Tür, die Assistenten, so auch Ullrich, diskutierten unbefangen miteinander und wurden so Experten in der Frage nach der Verantwortung Deutschlands für den Krieg. Für Ullrich muß Clark wie ein Widergänger seines einstigen Chefs scheinen. Der hatte Fischer vorgeworfen, Wertvorstellungen und politische Bräuche der wilhelminischen Zeit auszuklammern.

Zeitplan für Kriegsbeginn

Darüber ist Ullrich hinweg, doch das ändert nichts daran, daß er in einer entscheidenden Frage genau so heftig, wenn auch weniger zielstrebig, irrt wie Clark: dem Kriegsrat vom 8. Dezember 1912. Wilhelm II. war am Morgen mit dem festen, wenn auch irrsinnigen Glauben aufgestanden, England werde neutral bleiben, wenn die Deutschen wieder in Frankreich einmarschierten. Doch dann wurde ihm ein Brief seines Botschafters in London, Fürst von Lichnowsky, vorgelegt. England, so berichtete dieser von einem Gespräch mit Lord Haldane, dem Sprecher des Foreign Office, werde »unter keinen Umständen eine Niederwerfung der Franzosen dulden können«. Wütend schrieb der Kaiser an den Briefrand: »Sie werden es doch müssen«.

Empört über die perfide Drückebergerei Albions, wenn denn das Schwert sprechen müsse, kritzelte Wilhelm ans Ende des Lichnowsky-Briefes: »weil England zu feige ist, Frankreich und Rußland offen in diesem Falle sitzen zu lassen, und zu sehr neidisch ist auf uns und uns haßt, desswegen sollen andre Mächte ihre Interessen nicht mit dem Schwert vertheidigen dürfen, da es dann trotz aller Versicherungen (…) doch gegen uns gehen will. Das richtige Krämervolk! Das nennt es Friedenspolitik! Balance of Power! Der Endkampf der Slaven und Germanen findet die Angelsachsen auf seiten der Slaven. (nd) Gallier.«

Und dann berief er für elf Uhr seine höchsten Militärs zum »Kriegsrat« ein, wie es der bewußt nicht hinzugezogene Zivilist und Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg später nannte. Helmuth Graf von Moltke, der Chef des Großen Generalstabs, hielt einen Krieg für unvermeidlich: »je eher, je besser«. Admiral Georg Alexander von Müller empfahl gegen England den »Unterseebootkrieg« und »Minen in der Themse«. Doch Alfred von Tirpitz, einer der schärfsten Kriegstreiber brachte das Problem vor. Der Nord-Ostsee-Kanal werde erst im Sommer 1914 ausgebaut sein. Vorher könnten darum die Großkampfschiffe der Kaiserlichen Marine nicht in die Nordsee stechen zum Kampf gegen die Briten. Diesem bitteren Sachzwang beugten sich der Kaiser und seine Runde. Der Termin aber – Sommer 1914 – wurde eingehalten. Das mörderische Attentat auf den – ohnedies etwas reformsüchtigen – Erzherzog Franz Ferdinand und seine Frau am 28. Juni 1914 eignete sich vorzüglich als Kriegsgrund: Der Erste Weltkrieg wurde pünktlich nach dem vorgegebenen Termin des Kriegsrats ausgebrochen.

Für Christopher Clark blieb dieser Kriegsrat vom Dezember 1912 nur »eine Episode« ohne Folgen (ähnlich auch Volker Ullrich in »Die nervöse Großmacht 1871–1918«, 1997). Beweis: Das Tagebuch des beteiligten Admirals Müller: Das Ergebnis des Treffens sei »so ziemlich 0 (null)« gewesen. Null für ein sofortiges Losschlagen. Aber an den Vorbereitungen für den beschlossenen Termin beteiligte sich der Admiral noch am selben Nachmittag mit Anweisungen an die Presse.

Clark meint, daß Wilhelm nach dem Kriegsrat »weiterhin alle Schritte ablehnte, die dazu geeignet waren, einen Krieg auszulösen« – er bezieht sich dabei auf die Krise wegen der »serbisch-montenegrinischen Besetzung der albanischen Stadt Scutari« im April/Mai 1913. Pünklichkeit ist die Höflichkeit auch der Kaiser. Wilhelm wollte nicht über ein Jahr früher als beschlossen in den Krieg ziehen.

»Herren werden und bleiben«

Der Kriegsrat war keine »Episode«. Auch wenn Clark behauptet: »Es begann weder ein landesweiter Propagandafeldzug, noch wurde eine konzertierte Anstrengung gestartet, um die deutsche Wirtschaft auf den Krieg vorzubereiten.« Unsinn. Die deutsche Wirtschaft tat alles um den Krieg vorzubereiten. Aber das scheint Clark nie interessiert zu haben. Die deutschen Industriellen, die – wo es ihnen noch nötig schien – den Kaiser und seine Militärs zum Krieg drängten, sie existieren für Clark nicht. Alfred Hugenberg, 1891 Mitbegründer des Alldeutschen Verbandes, in der Weimarer Republik Chef der Deutschnationalen Volkspartei und 1933 Koalitionär von Hitler – er existiert nicht. Und doch kümmerte Hugenberg sich in Absprache mit der kaiserlichen Generalität als »maßgebender Kenner« um die »Grenzerweiterung im Osten« und war dann später wie Hugo Stinnes 1916 bei der großen Kriegszielbesprechung dabei.

Heinrich Claß, der Führer der Alldeutschen kommt bei Clark auch nicht vor – er war allerdings nicht somnambul, er wußte, was er tat. Der Alldeutsche Verband wurde von den nach Rüstungsaufträgen gierenden Metallindustriellen gegründet. In ihrem Auftrag schrieb er im September 1914 seine Kriegszieldenkschrift, in der er gegen das von Deutschland überfallene Belgien dekretierte: »Wir wollen Herren in dem mit dem Blute der Gefallenen und Ermordeten erworbenen Lande werden nicht nur, sondern bleiben – beides geschieht nur, wenn die Bewohner politisch rechtlos bleiben, sagen wir es ruhig und klar: Unterworfene werden.«

Bei Clark steht auf Seite 705 nur etwas von einer edelmütigen deutschen Note an die belgische Regierung: »Nunmehr, da die belgische Armee ihre Waffenehre durch den heldenhaften Widerstand gegen eine weit überlegene Streitmacht gewahrt habe, flehe die deutsche Regierung den König der Belgier und die belgische Regierung an, weitere Schrecken des Krieges zu ersparen. (…) Deutschland versichert einmal mehr, daß es nicht die Absicht hat, sich Belgien anzueignen und daß ihm diese Ansicht fernliege.«

Das war am 8. August, wenige Wochen vor dem alldeutschen Anspruch auf belgische Unterwerfung, und Clark nennt dies den deutschen »Appell an die belgische Vernunft«. Schon gar nicht wird von ihm die Denkschrift von August Thyssen aus den gleichen Tagen erwähnt, die anhebt: »Unsere Armee ist geradezu großartig. Sie stellt alles in den Schatten. Ich sehe ein, wie groß und kühn man in Berlin alles plante, überdachte und durchführte (…).« Weiterhin wurden noch auf einigen Seiten Sonderwünsche geäußert, wie ein Eisenbahnnetz von Calais/Ostende über Brüssel, Berlin, Königsberg nach Petersburg, das »durch Einverleibung Belgiens« sowie französischer Industriegebiete ermöglicht werden soll.

Und wer – wie Clark – erzählen will, »wie der Krieg nach Europa kam«, darf auf keinen Fall die alldeutsche Agitationsschrift von 1912 unterschlagen – Clark kann –, die Vorsitzender Heinrich Claß unter dem Pseudonym Daniel Frymann mit großem Erfolg in Berlin veröffentlichte: »Wenn ich der Kaiser wär«. Wilhelm II. konnte dort, beispielsweise im dritten Kapitel (»Von den Grundzügen deutscher Machtpolitik«), nachlesen: »Also wirklich, wer Holland und Belgien kennt, « – minderwertiges »Menschenmaterial« – »wird sich nicht um sie reißen – wenn wir beide Länder trotzdem in der oder jener Form unserem Staatswesen angliedern müssen, so geschieht es nicht wegen ihrer Bewohner, sondern trotz ihnen unter dem Zwang der Notwendigkeit.«

»Serbien muß sterbien«

Das Wichtigste aber: die Anwendung auf unsere Zeit. Das ganze erste Kapitel bis Seite 99 widmet der gewissenhafte Historiker serbischer Mordlust. Und man sieht es ja heute, daß die Serben schon immer schuld am Ersten Weltkrieg waren. Clark sagt es vornehm: »Seit Srebrenica und der Belagerung Sarajevos fällt es schwerer, Serbien als reines Objekt oder Opfer der Großmachtpolitik zu sehen, statt dessen kann man sich leichter den serbischen Nationalismus als eigene historische Kraft vorstellen.« Richtig, deshalb mußte Slobodan Milosevic in Den Haag sterben, während die kroatischen Kriegsverbrechergenerale frei herumlaufen – unbehelligt von Resteuropa. Und genau darum waren die Serben schon immer ein bösartiges Freiwild. »Ser­bien muß sterbien« lernte schon der österreichische Schulbub. Der deutsche Außenminister Joseph Fischer erkannte richtig »Nie wieder Auschwitz« und ließ zusammen mit Kanzler Gerhard Schröder Belgrad dort weiterbombardieren, wo Hitler aufgehört hatte. Das war der Anfang von Deutschlands neuer Größe.

Zurück also zur Einheitsrede dieses Bundespräsidenten, der nicht länger dulden will, daß »Deutschland sich klein macht«. Gauck: »Wir, zusammen einzigartig, schauen uns an diesem Festtag um.« Ja. »Wir sehen, was uns in schwierigen Zeiten gelungen ist.« Gern, zwei Weltkriege haben wir erfolgreich begonnen. Und nun? Unser Präsident: »Eine Verheißung kann uns zur Gewißheit werden: Wir müssen glauben, was wir konnten.« Aha! »Dann« – beim dritten Mal – »werden wir können, woran wir glauben«.

Christopher Clark: Die Schlafwandler - Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2013, 896 Seiten, 39,99 Euro

* Otto Köhler ist Kurt-Tucholsky-Preisträger. Er hält auf der Tagung »Schriftsteller und Revolution« am Samstag, dem 19.10., um 15 Uhr einen Vortrag zum Thema »Was bedeutet heute der Begriff ›Revolution‹?« im Russischen Haus für Kultur und Wissenschaft (Friedrichstraße 176–179, 10117 Berlin)

Aus: junge Welt, Mittwoch, 9. Oktober 2013



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