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Wie der Erste Weltkrieg 1914 begann ... und wie das Völkergemetzel 1919 beendet wurde

In zwei Beiträgen befassen sich Gerd Fesser und Erwin Könnemann mit dem Krieg und dem Versailler Vertrag



Die Schüsse in Sarajevo

Wie der Erste Weltkrieg 1914 begann ...

Von Gerd Fesser *


Am 28. Juni 1914 stattete der österreichisch-ungarische Thronfolger, Erzherzog Franz Ferdinand, der Hauptstadt Bosniens, Sarajevo, einen Besuch ab. Das Kaiserreich Österreich-Ungarn umfasste damals das Gebiet der heutigen Staaten Österreich, Ungarn, Tschechien, Slowakei, Slowenien, Kroatien und Bosnien, dazu das östliche Galizien (heute ukrainisch) und Siebenbürgen (heute rumänisch).

An jenem Sommertag vor 95 Jahren herrschte strahlender Sonnenschein. Der Erzherzog fuhr in einem Kabriolett, dessen Verdeck zurückgeklappt war. Gegen 10.45 Uhr bremste sein Chauffeur am Eingang der Franz-Joseph-Straße, um zu wenden. In diesem Augenblick stürzte aus einer Menschenmenge ein junger Mann hervor und zog eine Pistole. Aus kurzer Entfernung feuerte er zweimal. Der Erzherzog und seine Frau Sophie, Herzogin von Hohenberg, wurden tödlich getroffen.

Der Attentäter und die »Schwarze Hand«

Der Todesschütze hieß Gavrilo Princip und war 19 Jahre alt. Er war bosnischer Serbe, Sohn eines Bauern. Seit 1912 besuchte er in Belgrad das Gymnasium und lebte in bitterer Armut. Während des ersten Balkankriegs hatte er versucht, sich den serbischen irregulären Truppen, Komitadschi, anzuschließen, war aber wegen seines kleinen Wuchses abgewiesen worden. Seitdem träumte er mit gleichgesinnten Jünglingen von der Befreiung der südslawischen Gebiete Österreich-Ungarns, von »Tyrannenmord« und Opfertod.

Der Kaiser von Österreich und König von Ungarn, Franz Joseph I., stand 1914 bereits im 84. Lebensjahr. Es war mit einem baldigen Thronwechsel zu rechnen. In dem energiegeladenen Franz Ferdinand sahen Princip und seine Freunde einen gefährlichen Gegner. Als sie erfuhren, dass er zu Manövern nach Bosnien kommen werde, beschlossen sie, ihn zu ermorden. Waffen erhielten sie von dem nationalistischen Geheimbund »Vereinigung oder Tod«, auch »Schwarze Hand« genannt, geführt vom Chef des serbischen Militärgeheimdienstes, Oberst Dimitrijevic. Vertrauensleute der »Schwarzen Hand« schulten Princip und Gefährten im Waffengebrauch und schleusten sie über die Grenze nach Bosnien. Die serbische Regierung stand selbst unterm Druck der »Schwarzen Hand« und war nicht an der Vorbereitung des Attentats beteiligt.

Dieses fiel in eine Zeit, in der sich die Spannungen zwischen dem deutsch-österreichischen und dem Machtblock Großbritannien, Frankreich und Russland, der Entente, zugespitzt hatten. In Österreich-Ungarn wollte eine von Generalstabschef Conrad von Hötzendorf geführte »Kriegspartei« das Attentat als Vorwand benutzen, um gegen Serbien einen Angriffskrieg zu führen und den Staat zu zerschlagen. Doch hinter Serbien stand dessen Schutzmacht Russland. Österreich-Ungarn konnte einen Angriff nur dann wagen, wenn ihm die militärische Hilfe Deutschlands sicher war.

Am 5. und 6. Juli fragten Beauftragte der österreichischen Regierung bei Kaiser Wilhelm II. und Reichskanzler Bethmann Hollweg an, wie Deutschland sich bei einem Angriff auf Serbien verhalten würde. Der Kaiser und die deutsche Reichsregierung stellten den Wiener Regierenden einen riskanten »Blankoscheck« aus – ausdrücklich auch für den Fall, dass Russland in einen österreichisch-serbischen Krieg eingreifen würde. In der trügerischen Hoffnung, ein österreichisch-serbischer Krieg könne »lokalisiert« werden, drängten sie in den folgenden Wochen Österreich-Ungarn zum Angriff. Dabei nahmen sie das Risiko, dass die erhoffte »Lokalisierung« misslingen und der Konflikt in einen großen europäischen Krieg einmünden würde, bewusst in Kauf. Der Kaiser, der Kanzler und die Militärführung gingen davon aus, dass sich in den kommenden Jahren das militärische Kräfteverhältnis zunehmend zugunsten der Ententemächte verschieben würde, im Augenblick aber ein Sieg des deutsch-österreichischen Blocks noch möglich sei.

Am 23. Juli richtete die österreichische Regierung an Serbien ein Ultimatum. Es war bewusst so formuliert, dass die serbische Regierung es nicht annehmen konnte. So wurde gefordert, dass Organe der österreichischen Regierung berechtigt sein sollten, in Serbien an der Unterdrückung der großserbischen Bewegung und an den Untersuchungen gegen Beteiligte am Attentat mitzuwirken. Die serbische Regierung antwortete sehr entgegenkommend, lehnte aber die beiden genannten Forderungen ab.

Berlins Ultimatum an Moskau

Daraufhin erklärte die österreichische Regierung am 28. Juli Serbien den Krieg. An diesem Tag lief das Räderwerk der Militärbündnisse und militärischen Planungen an. Die russische Regierung befahl am 30. Juli als erste die Mobilmachung ihrer Streitkräfte. Daraufhin richtete die deutsche Reichsregierung am 31. Juli an Russland ein Ultimatum, in dem sie verlangte, die Mobilmachung rückgängig zu machen. Das Ultimatum blieb unbeantwortet.

Am 1. August ordneten Frankreich und Deutschland die Mobilmachung an, und am gleichen Tage erklärte die deutsche Reichsregierung Russland den Krieg. Am 3. August folgte die deutsche Kriegserklärung an Frankreich. Einen Tag später überfielen deutsche Truppen das neutrale Belgien, und Großbritannien erklärte dem Deutschen Reich den Krieg. Das Völkermorden nahm seinen Lauf.

* Aus: Neues Deutschland, 27. Juni 2009


Das Diktat von Versailles

... und wie das Völkergemetzel 1919 beendet wurde

Von Erwin Könnemann **


»Die Stunde der schweren Abrechnung ist gekommen«, ließ der Präsident der Friedenskonferenz in Versaille, der französische Ministerpräsident Clemencaeau, am 7. Mai 1919 im Spiegelsaal des Schlosses bei Paris wissen. »Sie haben uns um Frieden gebeten. Wir sind geneigt, ihn Ihnen zu gewähren«, so der »Vater des Sieges«, wie er in Frankreich genannt wurde. Sodann übergab er dem deutschen Außenminister Graf von Brockdorff-Rantzau, Leiter der deutschen Delegation, das 80 000 Wörter umfassende Buch, das die Friedensbedingungen enthielt.

»Mörderischster Hexenhammer«

Die deutschen Versuche, eine Milderung der Bedingungen unter Hinweis auf die revolutionären Kämpfe in Deutschland zu erreichen, waren gescheitert. Der Graf wählte daher die schärfere Fassung der beiden Reden, die er für die Entgegennahme des Vertrages ausgearbeitet hatte. Er wies die Alleinschuld Deutschlands am Ausbruch des Krieges zurück, denn auf dieser These beruhte der moralisch-politische Anspruch der Sieger für die harten Gebietsabtretungen und hohen Wiedergutmachungsleistungen. Dann streifte der Aristokrat seine weißen Glacéhandschuhe über, signierte die Entgegennahme und ließ sie auf seinem Platz liegen. Eine unmissverständliche Geste – er wollte sich die Hände nicht beschmutzen.

Durch alle Schichten der deutschen Bevölkerung ging eine Welle der Empörung, die durch die rechten Parteien und die nationalistische Presse noch geschürt wurde. Am 12. Mai bezeichnete in der neuen Aula der Berliner Universität der sozialdemokratische Reichskanzler Philipp Scheidemann das dicke Buch, in dem hundert Absätze mit den Worten »Deutschland verzichtet ...« begannen, als »schauerlichsten und mörderischsten Hexenhammer«, mit dem einem »großen Volk das Bekenntnis der eigenen Unwürdigkeit, Zerstückelung, Versklavung und Helotentum abgepresst werden soll«. Das waren starke Worte. Scheidemann und die ihm folgenden Redner der anderen Parteien waren sich einig: »Der Vertrag ist unannehmbar.« »Undurchführbar« wäre eine klügere Formulierung gewesen. Emphatisch rief Scheidemann zum Schluss seiner Rede aus: »Die Hand müsste verdorren, die sich und uns in diese Fessel schlägt!«

Emotionen wirken in der Politik nur für den Augenblick, sind aber auf die Dauer gesehen ein schlechter Ratgeber. So kam es, dass die Regierung Scheidemann am 20. Juni 1919 zurücktreten musste, als der Beschluss zur Unterzeichnung des »Versailler Diktats«, allen Bedenken zum Trotz, in die Tat umgesetzt werden musste. Sie erfolgte acht Tage später, am 28. Juni 1919, womit formell der Erste Weltkrieg beendet wurde. De facto war er mit dem Waffenstillstand von Compiègne am 11. November 1918 zu Ende gegangen.

Der in historischen Dimensionen denkende Theoretiker der Sozialdemokratie Karl Kautsky verwies in der Diskussion um den Versailler Vertrag auf den Wiener Kongress 1815, in dem selbst Graf Metternich und die monarchischen Diplomaten zwischen dem französischen Volk und Napoleon unterschieden hätten. Später fanden viele Kritiker, auch im alliierten Lager, die Härte des Friedensvertrages verantwortlich für das Aufkommen der Nazibewegung. In der Tat bildete die Aufpeitschung der nationalen Leidenschaften gegen die »Schmach von Versailles« in Verbindung mit der Dolchstoßlegende des »vom Feinde unbesiegten Heeres«, Hetze gegen die »Novemberverbrecher«, die ideologische Klammer für alle nationalistisch-revanchistischen Kräfte.

Der erste Teil des Vertragswerkes enthielt die Satzungen des Völkerbundes. Es folgte die Regelung um Grenzfragen. Deutschland musste u. a. Elsaß-Lothringen zurückgeben, auf Westpreußen, Oberschlesien und Teile Ostpreußens verzichten. Die Gebietsabtretungen betrafen ein Achtel des Territoriums und ein Zehntel der Bevölkerung. Fixiert wurden der Verzicht auf Kolonien, die Auslieferung von Teilen der Kriegs- und Handelsflotte, den Verzicht auf schwere Waffen, Tanks und U-Boote, die Reduzierung des Heeres auf 100 000 Mann, die Auflösung des Großen Generalstabes, die Ablieferung des gesamten Kriegsmaterials sowie die Auslieferung der Kriegsverbrecher, zu denen auch Kaiser Wilhelm II. und Generalfeldmarschall Hindenburg gehörten. Die Reparationszahlungen wurden auf ungeheure 132 Milliarden Goldmark festgesetzt.

Bereits damals gab es Einsichtige, die auf den Vertrag von Brest-Litowsk verwiesen, in dem Deutschland Sowjetrussland im Frühjahr 1918 die Daumenschrauben aufgesetzt hatte. Man erinnerte sich auch an die Kriegszieldiskussionen der Jahre 1914/15, als deutsche Annexionspolitiker, Großindustrielle und Großgrundbesitzer abenteuerliche Forderungen erhoben. Damals schrieb ein Alldeutscher: »Der künftige Frieden darf dem Gegner nichts lassen als die Augen zum Weinen über sein Unglück.« Nun triumphierten die anderen.

Die Intentionen der Generäle

Gegen den Versailler Vertrag votierten vor allem die Angehörigen der Reichswehr und der Freikorps, die sich besonders durch die Heeresreduzierung betroffen fühlten. Die Generäle kalkulierten sogar die Wiederaufnahme des Krieges ein, bereiteten unterm Code »Operation Frühlingssonne« einen Angriff von Schlesien und Ostpreußen auf den neu geschaffenen Staat Polen vor.

Die gesamte Geschichte der Weimarer Republik ist eine Geschichte der Revision des Versailler Vertrages. Von welchen Intentionen sich die hohen Militärs leiten ließen, geht aus den Darlegungen des preußischen Kriegsministers, des württembergischen Obersten Walter Reinhardt, gegenüber seinem Vertrauten, Generalstabsoffizier Albrecht von Thaer, im Frühjahr 1919 hervor: »Das Ziel bleibt ein freies Deutschland, möglichst wieder in den alten Grenzen, mit den neuesten Waffen ... Bei dem jetzt so rasend schnellen Tempo des Veraltens jeder Waffe, wird der zuletzt gerüstet Habende immer der Bestgerüstete sein.« Thaer meinte, dieses Ziel vielleicht in 30 Jahren erreichen zu können. Reinhardt erwiderte: »Weit gefehlt. Wir müssen und werden in 15 Jahren dazu in der Lage sein.« Eine realistische Prophezeiung, allerdings zum Schaden der Völker, die glaubten, der Erste Weltkrieg sei auch der letzte gewesen. 1935 führte Hitler die Allgemeine Wehrpflicht ein. Und 1940 flogen deutsche Stukas und rollten deutsche Panzer über die Maginotlinie.

** Aus: Neues Deutschland, 27. Juni 2009


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