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Rüstungskonversion 2013 - ein Neubeginn?

Zum Beispiel das Bremer Konversionsprogramm

Von Andrea Kolling *

Rüstungskonversion war vor über 20 Jahren ein großes Thema im Land Bremen mit einem großen und breiten zivilgesellschaftlichen Bündnis an Unterstützern und Unterstützerinnen, von Friedensbewegten, von Gewerkschaften, politischen Parteien, Betriebsräten, einzelnen Personen der Universität und der Universität als Institution, sowie klaren weitreichenden Forderungen. So wurde am 18.11.1989 zum Beispiel ein großer Kongress unter dem Titel: „Chancen für Rüstungskonversion“ durchgeführt. Es war der Gründungskongress für die Bremische Stiftung für Rüstungskonversion und Friedensforschung, eine logische und sinnvolle Konsequenz nach Glasnost. Sichtbar wurde in Bremen ein Konversionsprozess eingeläutet. Die Forderung nach einem Konversionsprogramm wurde vom Senat eingefordert und der spätere Senatspräsident Henning Scherf war ein Gründungsmitglied der Bremischen Stiftung für Rüstungskonversion und Friedensforschung. Nach dem Fall der Mauer mit dem Ende des Kalten Krieges herrschte Anfang der 90er Jahre großer Optimismus und eine Aufbruchsstimmung. Es wurde eine Friedensdividende gewünscht. Die Rüstungsprofiteure bangten um ihre Pfründe und waren wie selten in einer defensiven Position, wenngleich auch „Schwerter zu Pflugscharen“ nie als eine wirklich umfassende reale Option galt. Heute, über 20 Jahre später, ist eine solche gesellschaftliche Atmosphäre und Konstellation kaum mehr vorstellbar. Und bereits Mitte der 90er Jahre war die Euphorie vorbei und die Rüstungsindustrie zunehmend in einer komfortablen Position. Es gab wieder mehr Rüstungsaufträge der Bundesregierung, obgleich Deutschland als auch Europa weiterhin anerkanntermaßen nur von Freunden umgeben ist. Dazu forderten die Unternehmen mehr Exporte zum Ausgleich der fehlenden inländischen Aufträge. 60% Exporte wurden anvisiert. Heute sind es mehr. So gibt der Bundesverband der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie an, dass der Rüstungsexport schon heute rund 70 Prozent des Umsatzes der wehrtechnischen Industrie in Deutschland ausmacht. Aus den Daten des Arbeitskreises Wehrtechnik der Industrie in Schleswig Holstein geht hervor, dass etliche Betriebe schon heute über Jahre zu 90 oder 100 Prozent vom Export leben. Von 2001 bis 2011 ist der Wert der Rüstungsexporte aus Schleswig Holstein um das Dreifache gestiegen - von 268 Millionen Euro auf knapp 1,1 Milliarden Euro. Das Geschäft mit der Bundeswehr verkommt zu einem Ergänzungsgeschäft. Die vorhandenen Kapazitäten sind hauptsächlich für den Export da. Erleichtert man diesen weiter, so hat das vor allem eine Konsequenz: Die Kapazitäten wachsen und können in Zukunft nur durch noch mehr problematische Exporte in problematische Länder ausgelastet werden.

Zehn Jahre gab es in Bremen ein Konversionsprogramm, das von 1991 bis 2000 galt. In Bremen arbeitete neben Brandenburg der einzige Konversionsbeauftragte. Während in Brandenburg erfolgreiche Flächenkonversion stattfand, gestaltete sich die betriebliche Umwandlung in zivile Produkte in Bremen erheblich schwieriger.

Als Rüstungskonversion bezeichnet man die Umstellung industrieller militärischer Produktion auf eine zivile Fertigung. Dies gilt auch für die Überführung von militärischen Liegenschaften in zivile Nutzung. Der Begriff Rüstungskonversion im Zusammenhang mit einer industriellen Umstellung taucht bereits Ende der 70er Jahre auf, doch seit Anfang der 90er Jahre werden praktische Handlungsoptionen vor allem für die militärisch nicht mehr gebrauchten Liegenschaften von NVA und ehemaligen Besatzungsmächten umgesetzt. Hier konnten beachtliche Erfolge erreicht werden.

In Bremen zum Beispiel gelang die Umwandlung einer ehemaligen Kaserne in ein neues Polizeipräsidium In der Vahr und aus Teilen der Roland-Kaserne entstand eine neue Wohnsiedlung. Aus der Kaserne Bremen-Grohn entwickelte sich die neue Internationale Jacobs Universität. Erinnert sei auch an die direkte Konversion wie im biblischen Sinne - Schwerter zu Pflugscharen: So wurden nach dem zweiten Weltkrieg Stahlhelme zu Haushaltsdurchschlägen für Gemüse, emaillierte Milchkannen aus Gasmaskenteilen, aus der Not geboren. Gebrauchte Militärgegenstände wurden in zivile Gebrauchsgüter umgearbeitet. Es gab einen umfassenden Alltagsbedarf und Mangel an Rohstoffen. Heute dagegen haben wir seit langem das Problem einer Überproduktion und gesättigter Märkte.

Wie stellte sich die Ausgangslage zu Beginn des Konversionsprozesses in Bremen dar? 1989 galten neun Prozent der Arbeitsplätze des verarbeitenden Gewerbes direkt sowie 16 Prozent direkt und indirekt rüstungsabhängig. Zwölf große und mittelgroße Unternehmen zählten zur Rubrik Rüstungsbetriebe. Der bremische Rüstungssektor bestand zu 40 Prozent aus Elektronik, zu 31 Prozent aus Schiffsbau und Reparatur sowie zu 25 Prozent aus Luftfahrzeugbau und sonstigen Fahrzeugen - nach Wolfram Elsner, ehemaliger Bremer Konversionsbeauftragter in der Broschüre „Rüstungsstandort Bremen“ vom Mai 2009.

Bremen galt als das mit Abstand rüstungsabhängigste Bundesland. Die Forderung nach gesellschaftlich nützlichen Produkten und sozialverträglicher Rüstungskonversion wurden vehement vorgetragen. Der Senat war aufgefordert, Mittel für einen Konversionsprozess zur Verfügung zu stellen, und beschloss ein Programm hierfür, das zur Hälfte aus EU-Geldern gespeist wurde. Das Bremer Konversionsprogramm war eine aktive industriepolitische Konversionsförderung mit EU Mitteln. Die EU Mittel wurden bereitgestellt, weil sich in Bremen auch EU-weit die dritthöchste rüstungsindustrielle Konzentration zeigte und eine Gefährdung der vorhandenen Arbeitsplätze durch einen Rückgang der Bundesaufträge drohte. Für besonders betroffene Regionen gab es regionale Mittel. Instrumente des Bremer Konversionsprogrammes bildeten unter anderem ein breit aufgestellter Beraterkreis, um damit die Einbeziehung einer breiteren Öffentlichkeit für die Umsetzung des Programms zu begleiten sowie eine ressortübergreifende Steuerungsgruppe. Die gesellschaftliche Begleitung der Umstrukturierung ist ein Paradebeispiel einer funktionierenden Zivilgesellschaft, eines in Ansätzen wünschenswerten demokratischen partizipatorischen Prozesses.

Seit den 70er Jahren gab es in Gewerkschaftskreisen bereits eine Konversionsdiskussion im Rahmen der allgemeinen Abrüstungsdebatte. Fachleute aus Wissenschaft, Gewerkschaften und Friedensbewegung erarbeiteten umfangreiche Expertisen. Konkrete Konversionsprojekte mit Verbesserungen im Umsetzungsprozess wurden vorgeschlagen. An der Universität waren überregional bekannte Vordenker führend in die Konversionsdebatte involviert. In einem gesteuerten Strukturwandel sollten technische Fähigkeiten und arbeitsorganisatorische Zusammenhänge erhalten bleiben. In den Bremer Rüstungsunternehmen konnten über 60 betriebliche Umstrukturierungsprojekte zwischen 1992 und 2001 gezählt werden. Von den zwölf Bremer Rüstungsunternehmen bezogen zehn Fördermittel über das Bremer Konversionsprogramm. Als Besonderheiten des bremischen Stadtstaates stellten sich kurze Entscheidungswege sowie starke Gewerkschaften, verankert mit der immer bisher herrschenden SPD, heraus. Dazu hatten die Unternehmen ihren Hauptsitz in Bremen. Damit war für sie ein stärkeres Interesse verbunden, auch weiter in der Region zu bleiben. Die meisten Konversionsprojekte wurden als technologisch innovativ eingestuft. Sie gingen somit mit einem Produktivitätsschub einher, was wiederum zu einer Reduktion der Mitarbeiterzahlen führte – im Endeffekt zu einem ganz und gar nicht intendierten Arbeitsplatzabbau.

Der Statistik nach haben laut Wolfram Elsner zwischen 1992 und 2000 fast ein Drittel der Rüstungsbeschäftigten ihren Rüstungsarbeitsplatz verloren. Sie konnten jedoch durch innerbetriebliche Konversion in den zivilen Bereich überführt werden. Nach Elsner bedeutet dies, dass in Bremen fast 15 Prozent aller rüstungsabhängigen Arbeitsplätze von 1990 bis zum Jahr 2000 konvertiert wurden. Ein Erfolg? Zumindest sind in der zweiten Hälfte der 90erJahre durch das Konversionsprogramm weniger Rüstungsarbeiter entlassen wurden.

Es gab aber noch mehr Probleme und Hindernisse, sodass dem Programm im Nachhinein kaum ein nachhaltiger Erfolg beschieden werden kann. Eines der größten Probleme im Hinblick auf die Umstellung der industriellen Militärproduktion waren die geringen Marktchancen für die Produkte. Hinzu kamen die spezifischen Qualitätsanforderungen, die in der Rüstungsproduktion üblich sind, was eher Klasse statt Masse und geringe Stückzahlen bedeutet. Der Preis wird üblicherweise verhandelt, das heißt zur Not auch nachverhandelt und Geld nachgeschoben. Rüstungsprodukte sind bei Lieferung meist teurer als bei Auftragsvergabe beschlossen. Hinzu kommt, dass Rüstungsunternehmen von ihrer inneren Struktur her prinzipiell nicht auf einen allgemeinen Markt ausgerichtet sind. Der Käufer – also in der Regel Regierungsvertreter- sagt, was er will, und das wird gebaut.

Eine Zielsetzung der Umstrukturierungen war es, vor allem von Seiten der Gewerkschaften arbeitsorganisatorische Zusammenhänge zu erhalten. Konkret heißt das: gleiche Firma, gleiche tarifliche Absicherungen - eine Forderung, die heute kaum durchsetzbar ist, auch nicht in Rüstungsunternehmen, es sei denn sie wären verstaatlicht.

Eindeutiges Desinteresse zeigten die Handelskammer und Arbeitgeberverbände. Sie hielten sich heraus und warteten ab – gliederten zivile Entwicklungsbereiche aus und setzten sukzessive auf Exportchancen. Jedes Unternehmen, das Fördermittel beantragte, sollte ein mittelfristiges Konversionskonzept liefern. Auch daran gab es kein Interesse seitens der Unternehmer, denn unternehmerische Strategien sind daran nicht ausgerichtet. Unternehmerisches Handeln läuft anders – Kooperationen, nur wenn es zwingend nicht anders geht und diese eng zielgerichtet ausgelegt sind. Eine interaktive Wirtschaftspolitik ist nicht im Sinne der Unternehmer. Wahrscheinlich sind sie dazu auch nicht in der Lage.

Und heute? In Bremen wird nach wie vor Rüstung in großen Umfang produziert. Das Militärische ist dominant. Der ehemalige Konversionsbeauftragte Wolfram Elsner zieht ein bitteres Fazit. Er bezeichnet die heutige Situation als völlig unvergleichbar mit dem Umstrukturierungsdruck Anfang der neunziger Jahre, einer Zeit der ideologischen Suche und relativen Schwäche der Produzenten, welche die Konversion punktuell hat Realität werden lassen, die aber heute keine zugestandene Option mehr ist.

Gefördert wurden eindeutig Dual-Use-Technologien. Sie galten als zukunftsträchtiger High-Tech-Bereich quasi systemrelevant für Bremen. Dual-Use muss genau definiert werden, denn sehr vieles, was zum Dual-Use-Bereich zählt, ist für das Militär entwickelt und nur dort genutzt worden. Offiziell wurde das Meiste jedoch zivil entwickelt, wurde gar als „Spin-in“ mit öffentlichen Geldern zuerst die Umstellung in den zivilen Bereich finanziert und dann wieder - technisch erneuert - in den militärischen Bereich integriert, also im Grunde genommen doppelt finanziert.

Die Frage ist, was die Rüstungsbetriebe heute genau entwickeln und produzieren, mit welchen Geldern, mit wie vielen Arbeitsstunden, zu welchen Konditionen? Was ist heute wirklich noch eine militärisch erforderliche Kernkompetenz in Europa und mit welchem Ziel? Ist eine Verstaatlichung der Kriegswaffenhersteller erforderlich? Wozu die Sensor- und Simulationstechnologie? Was wird wozu genutzt? 1992 waren mehr als 50 Prozent der Forschung und Entwicklung in den Bremer Rüstungsbetrieben angesiedelt. Und heute? Was ist davon noch vorhanden oder ausgegliedert? In die Uni vielleicht? Mehr Fragen als Antworten.

Zeit also eine neue breite Diskussion zu beginnen. Rüstungskonversion sollte neu belebt werden, auch wenn sie schon früher eher ein Dasein im Schatten der mächtigen Rüstungshersteller fristen musste. Welche Konversion wollen wir heute? Wie sollte sie aussehen? Wer sind die Bündnispartner? Wer sind die Bremser und Boykotteure? Wer sollte wie mit einbezogen werden? Ein neues Konversionsprogramm sollte die Unzulänglichkeiten des alten Programms vermeiden, z.B. sollten nur Gelder zur Entwicklung dauerhaft rein ziviler Produkte gegeben werden, sonst muss das Geld zurückgegeben werden. Ein dauerhafter Ausschluss von Staatsaufträgen kann kein Tabu sein, dabei muss die Beweislast beim Hersteller liegen.

In Bremen war der Konversionsprozess trotz allem ein kleiner Leuchtturm eines zivilgesellschaftlichen Prozesses: eine geordnete Umstrukturierung und ein weit und breit einzigartiges Beispiel und Beweis kollektiver Handlungskompetenz gegen individuelle kurzfristige Unternehmerentscheidungen, aktuell leider wenig öffentlich präsent, denn rein faktisch - quantitativ und nachhaltig - gibt es keine Konversionserfolge.

Eine breite gesellschaftliche Verankerung des Prozesses ist nötig, u.a. durch die Schaffung eines Konversionsbeirates, der nicht nur beratende Funktion, sondern auch ein Vetorecht mit einem wirklichen Mitspracherecht hat, was die Produkte und die Förderbedingungen betrifft. Transparente, überprüfbare Verträge müssen sicherstellen, dass die Ergebnisse nicht zurück in den militärischen Bereich fließen, sondern zivil bleiben. Nebenabsprachen müssen ausgeschlossen werden.

Ein aktuelles Beispiel von Konversion im engeren Sinne, also der Produktion ziviler statt militärischer Güter, und dazu noch ohne staatliche Finanzmittel, können wir in Emden sehen: Dort gab Thyssen den Kriegsschiffbau zugunsten von ziviler Windkraft-Offshore-Anlagen auf. Ein guter Schweißer bleibt ein guter Schweißer, heißt es, gleicher Lohn und ohne Umschulung. Geht doch! Der Spiegel 38/2010 titelte: „Wind statt Waffen! Nach 106 Jahren Militärproduktion“. Eine konkrete Konversion im Sinne von „Schwerter zu Pflugscharen“ gab es dennoch nicht, denn die Rüstungsarbeitsplätze wurden nach Hamburg verschoben. Arbeitsplätze wurden abgebaut und die neue Betreiberfirma Siag musste letztes Jahr Insolvenz anmelden. Unklar ist, ob das Unternehmen und die verbliebenen Arbeitsplätze erhalten werden können.

Wie muss ein rein ziviles technologisches Innovationsprogramm für die Zukunft aller Menschen aussehen? Welche arbeitsorganisatorischen Zusammenhänge wollen wir in Zukunft? Welche sollen erhalten bleiben? Gleiche Firma, gleiche tarifliche Absicherungen? Welche Rolle spielt die IG-Metall in dem Prozess? Und ver.di? Wie viele IG-Metall-Mitglieder sind heute in den klassischen Rüstungsunternehmen noch tätig?

Ein erster kleiner Schritt ist die Bildung einer bundesweiten Arbeitsgruppe mit Vertretern aus den Gewerkschaften, der Friedensbewegung, sowie den „Zivilklausel“-Aktivisten der Universitäten, um das Anliegen einer erneuten Konversionsdiskussion verstärkt in die Öffentlichkeit zu tragen und das Thema der Rüstungsproduktion und des Exportes mit den Auswirkungen in Deutschland zu thematisieren und Alternativen auf zu zeigen. Grundsätzlich jedoch gilt: Ohne staatliche Rüstungsaufträge bei gleichzeitigem Verbot von Rüstungsexporten gäbe es in allen Rüstungsunternehmen nur zivile Produktionen!

Seit Jahren wird die Zahl der Rüstungsarbeitsplätze in Deutschland mit 80.000 angegeben. Seit Jahren wird diese Zahl von Rüstungskritikern für überzogen gehalten. Eine sehr grob geschätzte Zahl, die nicht überprüft werden konnte, aber gebetsmühlenhaft immer wiederholt wurde, von Journalisten sowie von Seiten der Bundesregierung. Im Dezember 2012 veröffentlichte der Bundesverband der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie (BDSV) eine interessante Studie unter dem Titel: „Quantifizierung der volkswirtschaftlichen Bedeutung der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie für den deutschen Wirtschaftsstandort“. Hier wird die Zahl derjenigen, die im Kernbereich der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie 2011 tätig waren, mit nunmehr lediglich 17.260 Menschen (S.44) angegeben – unter den Kernbereich fallen nach der Studie Waffensysteme, Waffen und Munition, Panzer, Kriegsschiffe. Folglich fallen die Rüstungsarbeitsplätze im engen Sinne, d.h. diejenigen, die Kriegswaffen produzieren, von ihrer Zahl her sehr bescheiden aus. Sie sind gesamtgesellschaftlich vernachlässigbar. Eine Diskussion über eine neue Konversion kann die Frage der Rüstungsarbeitsplätze als unangemessenes Totschlags-Argument aus dem letzten Jahrtausend ad acta legen. Im Bereich von erneuerbarer Energie und Umwelttechniken sind weit mehr Arbeitsplätze möglich und sinnvoller.

Die Studie des BDSV gibt zwar die Zahl der klassischen Rüstungsarbeitsplätze ungewöhnlich niedrig an, aber sie rechnet im erweiterten Bereich der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie - wie Einsatzbereitschaft, Analysesoftware, Überwachung, Aufklärung, Einsatzmobilität, Simulationen u.ä. - 2011 mit 80.720 Erwerbstätigen. Laut der Studie wurden im Untersuchungszeitraum von 2005 bis 2011 in diesem Bereich neue Arbeitsplätze geschaffen. Das ist der Bereich, der als zukunftsfähig bewertet wird, insbesondere was den Export in Schwellenländer betrifft. Hier will der Verband den Export steigern und mit den Ergebnissen der Studie bei der Bundesregierung um Unterstützung für die Erleichterung von Exportgenehmigungen von Rüstungsgütern dieses Bereichs werben. Der BDSV gibt somit Lobbytätigkeiten im Bereich der alten klassischen Rüstungsarbeitsplätze auf, ein Rückzug zugunsten des High-Tech- Kriegsmaterials.

Ein neues Konversionsprogramm darf nicht den Fehler haben, Kommunikations- und Informationstechnologien für militärisch nutzbare Aufklärung und Führung unbemannter Flug- und Fahrzeuge zu fördern. Datenaustausch in Echtzeit, Zuwachs an Präzision, Geschwindigkeit, Effizienz, Technologien also, die militärisch nutzbar sein könnten, dürfen nicht mit öffentlichen Geldern gefördert werden. Selbst Materialforschung muss unter ökologischen, ökonomischen, alltagstauglichen Gesichtspunkten beurteilt werden. Die berühmte Teflonpfanne als Spin-off hat sich als Legitimation für öffentliche Forschungsgelder im Militärbereich schon lange ad absurdum geführt. Mit direkten Forschungsgeldern für den zivilen Alltagsgebrauch kann mehr, sinniger und günstiger erforscht werden.

Befürchtet werden muss allerdings, dass das Gegenteil der Fall ist, denn die Rüstungsunternehmer formulieren genau, welche Studiengänge für ihre militärisch orientierten Forschungs- und Entwicklungsabteilungen nützlich sind. Dies sind fast alle - abgesehen von den klassischen Geisteswissenschaften. Neue Arbeitsplätze gibt es nur im Bereich der zukunftsfähigen neuen Kriegstechnologien.

Gleichzeitig forciert die derzeitige schwarz-gelbe Bundesregierung unter der Führung von Angela Merkel die Rüstungsexporte in skandalöser Weise. Man kann es kaum glauben, aber was schickt Angela Merkel als Antwort auf die Arabellion im Nahen Osten? – Panzer, und nochmals Panzer! Die Genehmigungen zahlreicher Kriegswaffen in Gebiete, die man als gravierende Konfliktregionen bezeichnen kann, sind Ausdruck einer qualitativen Wende in der deutschen Rüstungsexportpolitik. Laut dem Mitte November veröffentlichten Rüstungsexportbericht der Bundesregierung für 2011 stiegen die Einzelausfuhrgenehmigungen an Drittstaaten – d.h. außerhalb von NATO und EU auf satte 42 Prozent gegenüber 29 Prozent im Vorjahr. Nur ein Ausrutscher? Oder ein deutliches Indiz für die Abkehr vom Grundsatz einer restriktiven Rüstungsexportpolitik? „Deutsche Waffen – deutsches Geld morden mit in aller Welt“ skandierte man öffentlichkeitswirksam auf der Straße in den 70er und 80er Jahren in Westdeutschland. Eine zugespitzte Parole damals, denn die Liste mit Ländern, in die im Kalten Krieg keine Rüstung geliefert werden durfte, war lang. Heute ist diese Länderliste auf ein Minimum geschrumpft. Seit 2006 steht Deutschland nach den USA und Russland auf dem dritten Platz in der Weltrangliste der Rüstung exportierenden Staaten des Stockholmer Friedensforschungsinstitut SIPRI und ist somit „EU-Meister“. Offiziell jedoch gilt von Seiten aller Bundesregierungen seit den siebziger Jahren eine restriktive Rüstungsexportpolitik, festgeschrieben u.a. in verschiedenen Koalitionsverträgen bis zur schwarz-gelben Koalitionsvereinbarung im Herbst 2009. Dort wurde das Wort „restriktiv“ durch „verantwortungsvoll“ ersetzt. Und wie heißt es so schön: ein Schelm der Böses dabei denkt.

Drei Jahre später sind erhebliche Veränderungen in der Rüstungsexportpolitik der schwarz-gelben Regierung gegenüber den Vorgängerkoalitionen sichtbar. Ein Paradigmenwechsel von Angela Merkels Regierung in der deutschen Rüstungsexportpolitik scheint sich zu vollziehen. Von einer Merkel-Doktrin ist die Rede. Gemeint ist: Partnerstaaten, aufstrebende Staaten, Regionalorganisationen sollen mehr Verantwortung übernehmen, als regionale Garanten für Frieden und Stabilität. Deshalb müssen sie fähig sein, in Konflikte eingreifen zu können, sprich: selbst militärische Interventionen führen zu können. Laut Spiegel online vom 22.10.12 zählt Merkel Ausrüstungsgüter – also Kriegswaffen und Rüstungsgüter ausdrücklich dazu. Besser Waffen liefern als das Leben deutscher Soldaten zu riskieren ist das Kalkül Merkels.

Die Bundeskanzlerin betonte laut Handelsblatt vom 22.10.2012 : „Wer sich der Friedenssicherung verpflichtet fühlt, aber nicht überall auf der Welt eine aktive Rolle in der Friedenssicherung übernehmen kann, der ist dazu aufgerufen vertrauenswürdigen Partnern zu helfen, damit sie entsprechende Aufgaben übernehmen.“

Kriegswaffen dürfen an Drittländer, also außerhalb von Nato und EU, nicht geliefert werden, es sei denn, dass im Einzelfall besondere Interessen für eine ausnahmsweise zu erteilende Genehmigung sprechen. Ein grundsätzliches Verbot also mit Genehmigungsvorbehalt! Nach den geltenden Richtlinien für Rüstungsexporte von 2000 dürfen Waffen weiterhin nicht in Spannungsgebiete geliefert werden. Über die konkrete Definition von Spannungen lässt sich streiten. Ein Tabubruch jedoch sind Rüstungsgenehmigungen in Konfliktregionen. Damit wird eine veränderte Außen- und Sicherheitspolitik definiert. Zweifelsohne sind regionale Aufrüstungen absehbar, die weniger Stabilität, dagegen eher Leid und Zerstörung bringen. Gerade die jüngste Geschichte im Nahen Osten zeigt, dass auch mit Waffen an autoritäre Regime deren Niedergang nicht aufzuhalten ist. Das Kriegsgerät schafft, wie z.B. in Libyen nach dem Regimewechsel, neue Opfer. Die Waffen landen in unkontrollierbaren Händen und an neuen Kriegsschauplätzen.

Sichtbares Indiz der Merkel-Doktrin war im Sommer 2011 die geplante Lieferung von 200 bzw. 270 Leopard 2 Panzern nach Saudi-Arabien; ein Bruch mit der bisherigen Linie in den letzten Jahrzehnten, kein schweres Kriegsgerät an das autoritäre Regime in Saudi-Arabien zu genehmigen. Und nun will Saudi-Arabien das Prunkstück der deutschen Panzerbauer gegen den Iran in Stellung bringen?

Im Frühjahr 2011 half Saudi-Arabien Bahrain mit deutschem Rüstungsgut und amerikanischen Panzern die Straßenproteste blutig niederzuschlagen. Saudi-Arabien möchte eine spezielle Variante des Leopard, den 2A7+, der besonders zur Aufstandsbekämpfung geeignet ist. Diese Spezialversion für den „urbanen Einsatz“ gilt als sehr wendig, mit verkürztem Geschützrohr, Räumschild und Nebelgranaten. Der Hersteller Krauss Maffei Wegmann nennt diese Version: „Leopard Revolution“! Im Juni diesen Jahres wurde bekannt, dass Saudi-Arabien nicht nur 200 Leos, sondern 600 bis 800 Panzer erwartet. Es scheint sicher, dass es einen unterschriftsreifen Vertrag über 200 bis 300 Panzer in einer ersten Tranche gibt. Von einem Wert von bis zu 10 Milliarden Euro oder Dollar wird gesprochen. Ein sehr lukratives Geschäft für den Hersteller Kraus-Maffei Wegmann, der damit seine Position im europäischen Konkurrenzkampf verbessern kann.

Auch Katar möchte 200 neue Leopard 2A7+ aus Deutschland beziehen. Der Panzer wurde dort bereits im März 2011 getestet. Katar gilt ebenso wie Saudi-Arabien als strategisch wichtiger Partner der deutschen Regierung und kann das Kriegsgerät mit Petrodollar zahlen. Eine Region, die weltweit die höchste militärische Konzentration hat.

Auch Indonesien erwartet 100 oder 130 Leopard -2-Panzer aus Bundesbeständen für 217 Millionen Euro. Es sind widersprüchliche Meldungen im Umlauf und im Augenblick scheint das Geschäft zu ruhen. In der indonesischen Presse wurde im Sommer 2012 davon ausgegangen, dass im Oktober die ersten 15 Leopard 2A6 Panzer und die restlichen 85 Stück bis 2014 geliefert werden. Auch in Indonesien besteht die Gefahr, dass die Panzer zur Bekämpfung von Aufständischen und Oppositionsgruppen eingesetzt werden. Und die Bundesregierung forciert das Geschäft, obgleich das niederländische Parlament das Ansinnen der niederländischen Regierung gestoppt hat, Leopard-Panzer aus Beständen der niederländischen Armee an Indonesien zu liefern. Hintergrund sind schwere Menschenrechtsverletzungen in Indonesien. Auch Indonesien gilt als strategischer Partner – Menschenrechtsverletzungen hin oder her.

Laut UN-Waffenregister - dorthin melden die Staaten die Stückzahlen ihrer Großwaffenexporte seit Beginn der 90er Jahre – gab es vor 2007 keine deutschen Exporte von Kampfpanzern an Drittstaaten Seit 2007 hat Deutschland an folgende Drittländer geliefert: 277 Leopard 2 an Chile, an Singapur 146 Leopard 2 und nach Brasilien 230 Leopard 1. Und für das Jahr 2011 kamen noch 114 Leopard 1 an Brasilien dazu und 59 Leopard 2 an Singapur. 2007 regierte in Deutschland die große Koalition. Kommerzielle Kriegswaffenausfuhren an Drittländer stiegen 2011 um fast das Doppelte gegenüber dem Vorjahr. Brunei, Singapur und der Irak mit Kampfhubschraubern waren die Hauptprofiteure.

Das Tabu, keine Kampfpanzer zu exportieren, weil sie auch im Innern zur Aufstandsbekämpfung eingesetzt werden können, wurde unter Angela Merkel gebrochen. Seit Mitte der 70er Jahre galt die Devise für den Export von Kriegsgerät: Alles was schwimmt, geht – da ja U-Boote und andere Kriegsschiffe nicht im Innern eingesetzt werden können. Auch das ist heute durch den Beschuss von Zielen auf dem Festland durch moderne U-Boot-Torpedos nicht mehr gültig. Nichttolerable U-Boot-Lieferungen gab es nach Kolumbien, Südafrika, Südkorea und Israel. Mögliche Verkäufe deutscher U-Boote nach Pakistan, Thailand, Indonesien, Indien und Ägypten stehen an. Besonders fragwürdig ist der Verkauf von drei U-Booten im Wert von 1,2 Milliarden Euro nach Pakistan, der derzeit allerdings noch auf Eis liegt. Im September 2012 wurden Berichte öffentlich, denen zufolge Ägypten mit Deutschland ein Abkommen über den Kauf von zwei neuen U-Booten geschlossen hat. Im Februar 2013 wird erneut ein geplanter Deal der Bremer Kriegsschiffwerft Lürssen mit Patrouillenbooten für Saudi-Arabien im Wert von 1,5 Milliarden Euro bekannt.

* Andrea Kolling, Studium der Politikwissenschaft und Geographie, seit 2007 Vorsitzende der Bremischen Stiftung für Rüstungskonversion und Friedensforschung, seit 1994 Delegierte im europäischen Netzwerk gegen Rüstungsexporte - European Network Against Arms Trade - ENAAT- und seit 1997 Mitglied der GKKE-Fachgruppe Rüstungsexporte.



Dieser Beitrag von Andrea Kolling erscheint in Bd. 20 der "Kasseler Schriften zur Friedenspolitik:

Die Rückkehr des Krieges in die Politik

Außen-, Sicherheits- und Rüstungspolitik zwischen Völkerrecht, Menschenrechten und Machtinteressen
hrsg. von Peter Strutynski.
Verlag Winfried Jenior, ca. 250 Seiten, 14,90 EUR; ISBN 978-3-928172-13-4
Mit Beiträgen von:
Ercan Ayboga * Matin Baraki * Christine Buchholz * Sevim Dagdelen * Eugen Drewermann * Alexander Flor * Bernd Hahnfeld * Lühr Henken * Felix Klickermann * Andrea Kolling * Karin Leukefeld * Matthias Leupold * Norman Paech * Hermannus Pfeiffer * Werner Ruf * Lena Sachs * Ulrich Sander * Conrad Schuhler * Michael Schulze von Glaßer * Ingar Solty * Peter Strutynski * Rolf Verleger * Achim Wahl




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