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Verständigung der Nachkommen

Zukunftsprojekt: "Ferien vom Krieg" hilft, Konflikte mit den Augen der Anderen zu sehen

Von Hans-Gerd Öfinger *

Als in den frühen 1990er Jahren die kriegerische Zerstückelung von Jugoslawien einsetzte, wurden Vertreter des Komitees für Grundrechte und Demokratie bei Besuchen vor Ort mit dem großen Flüchtlingselend konfrontiert. Sie sahen, wie Kinder notdürftig in Eisenbahnwaggons hausten, ergriffen die Initiative und luden Jugendliche aus den verschiedenen Kriegs- und Krisengebieten in leerstehende Hotels an der kroatischen und montenegrinischen Adriaküste ein. Zu »Ferien vom Krieg«. »Das fing mit 60 Jugendlichen aus den verschiedenen Republiken an«, erinnert sich die Frankfurterin Helga Dieter an die Pionierarbeit im Sommer 1994. Diese Begegnungen sind inzwischen zu einer festen Einrichtung geworden und haben Jugendliche zusammengebracht, die sich sonst wohl nie im Leben begegnet wären. Aus der akuten Nothilfe für Kriegskinder aus Flüchtlingslagern hat sich ein erfolgreiches Projekt für zivile Konfliktbearbeitung auf Graswurzelebene entwickelt, das sich ausschließlich über Spenden finanziert.

Seit 2002 heißt es auch »Ferien vom Krieg« für palästinensische Jugendliche aus der Westbank und jüdische Heranwachsende aus Israel. Dabei stellen junge Menschen mit Erstaunen fest, wie wenig sie über die Lebensumstände der anderen Bescheid wissen und wie sehr sich die Sehnsucht nach einem dauerhaften Frieden gleicht. Höhepunkt der jüngsten Begegnung von je 30 Gleichaltrigen von beiden Seiten der Mauer war eine mehrwöchige Tour auf einem Kreuzfahrtschiff der japanischen Friedensbewegung quer durch das Mittelmeer. In Frankfurt wurde dieser Tage über die Eindrücke berichtet.

Schon vor Beginn der Reise müssen die Teilnehmer in ihrem Umfeld einige Hürden überwinden, etliche Teilnehmer wurden gemobbt oder als »Verräter« denunziert, erzählt Helga Dieter. Aber auch die Ferien spielen dann keine heile Welt vor, sondern sind zum Teil harte Arbeit. »Die Begegnungen sind kein harmonisches Kaffeekränzchen, sondern ein schmerzhaftes Ringen«, so Dieter. Denn es kommen gerade auch die heiklen Themen zur Sprache. Gezielt werde die Perspektive »der Anderen« vermittelt. So wurde diskutiert, ob die von Israel gebaute Mauer Landraub oder Schutzwall darstelle oder ob die Alternative in einer Mehrstaatenlösung, einem gemeinsamen Land oder einem geteilten palästinensischen Staat liegen könne. Auch die einem dauerhaften Frieden im Wege stehenden politischen und ökonomischen Interessen der Kriegsparteien standen auf der Tagesordnung.

Dazwischen ging es immer wieder an Land. In Athen, Dubrovnik, Tunis, Marseille oder Las Palmas lernten die Jugendlichen neues über Konflikte in anderen Regionen der Erde, etwa über den spanischen Bürgerkrieg vor 75 Jahren oder die Kriege in Ex-Jugoslawien. »Fast alle Teilnehmer erklären, es habe ihr Leben verändert«, sagt Friedensaktivistin Helga Dieter. So schrieb ein Teilnehmer aus Palästina nach der Begegnung: »Wenn wir hier in der Lage sind, ein gemeinsames Leben in Frieden zu führen, warum nicht auch dort – in Israel/Palästina?« Und ein isrealischer Teilnehmer meint, ihm sei zum ersten Mal gelungen, Dinge mit palästinensischen Augen zu sehen. »Ich hoffe sehr, dass das auch umgekehrt so war.«

Der Austausch ist mit den Ferientagen nicht zu Ende. »Viele Gruppen treffen sich, wo immer das möglich ist«, freut sich Dieter. Wo die Barrieren zu hoch sind, trifft man sich eben in Jordanien oder nimmt moderne Kommunikationstechnik zu Hilfe. »Internet und Facebook sind für die Fortsetzung des Dialogs ein Segen«, weiß die Frankfurterin. Manche in der Nahostregion hätten aus Anlass von Hochzeiten auch schon das Wagnis einer illegalen Einreise auf sich genommen.

Helga Dieter ist selbstbewusst: Die Regierungen behaupteten, in Bosnien hielten 5000 EU-Soldaten den brüchigen Frieden aufrecht. Sie verweist darauf, dass die von ihr mit organisierten Begegnungen schon über 20 000 Menschen aus Ex-Jugoslawien zusammengeführt hätten. »Wenn davon jeder auch nur zehn Leute in seinem Umfeld beeinflusst hat, dann geht das in die Hunderttausende.«

* Aus: Neues Deutschland, 22. Juni 2011


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