Neuer Negativ-Rekord in der Arktis – was bedeutet das Meereis-Minimum für unser Klima?
Pressemitteilung von "KlimaCampus", Universität Hamburg *
Das Meereis der Arktis ist in diesem Jahr so stark geschrumpft wie nie zuvor seit Beginn
zuverlässiger Satellitenmessungen im Jahr 1973 – auf 3,37 Millionen Quadratkilometer Fläche.
(Dieser Wert vom 16. September 2012 könnte in den nächsten Tagen noch leicht unterschritten
werden.) Anderen Abschätzungen zufolge ist dies sogar der geringste Wert seit etwa 1500
Jahren. Der vor wenigen Wochen vorhergesagte Negativ-Rekord wird damit nochmals deutlich
unterschritten, bevor mit dem Ende des arktischen Sommers das Eis anschließend wie jedes
Jahr wieder wächst.
In den vergangenen drei Jahrzehnten ist die Eisdecke damit um mehr als die Hälfte
geschrumpft. Gleichzeitig nimmt auch die Dicke der Eisschicht ab. Aktuelle Studien zeigen
übereinstimmend, dass dieser extreme Eisrückgang in seiner ganzen Ausprägung nur durch den
menschengemachten Klimawandel erklärt werden kann.
„Das arktische Meereis ist ein Frühwarnsignal und gilt als kritisches Element im Erdsystem:
Wenn weniger helles Eis das Sonnenlicht ins All zurückstrahlt und mehr dunkle Ozeanflächen
Wärme aufnehmen, treibt das die globale Erwärmung voran“, sagt Peter Lemke vom
Bremerhavener Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung. Die Arktis spiele eine
zentrale Rolle im weltweiten Klimasystem, „und auch wenn sie weit weg zu sein scheint – die
Veränderungen im hohen Norden werden sich auch in Deutschland bemerkbar machen.“ Für
die Zukunft erwarten Klimaforscher einen noch stärkeren Rückgang des Meereises, sodass der
Arktische Ozean schon in wenigen Jahrzehnten im Sommer weitgehend eisfrei sein könnte.
RÜCKGANG DER EISBEDECKTEN FLÄCHE Seit Anfang der 1970er Jahre messen Satelliten zuverlässig und
kontinuierlich die Ausdehnung von Meereis in den polaren Ozeanen der Erde. Die Daten zeigen
einen klaren Rückgang der arktischen Meereisfläche, der sich im vergangenen Jahrzehnt
deutlich beschleunigt hat. Das bisherige Rekordminimum, eine Meereisausdehnung von 4,3
Millionen km² im Sommer 2007, überraschte damals Öffentlichkeit und Klimaforscher
gleichermaßen, weil die Eisfläche sehr viel schneller schrumpfte, als von Klimamodellen
prognostiziert worden war. Mit 3,37 Millionen km2 (Stand 16. Sept.) ist in diesem Jahr der
bisherige Rekord noch deutlich unterschritten worden.
RÜCKGANG DER EISDICKE Das arktische Meereis ist ein besonders sensibler Indikator für
Klimaänderungen, da sich diese in der Arktis früher und stärker auswirken als in südlichen
Breiten. „Neben der reinen Flächenmessung sind aber auch Änderungen im Eisvolumen von
großer Bedeutung. Der Trend zeigt eindeutig: Das dicke mehrjährige Eis der Arktis wird
zunehmend durch dünnes erstjähriges Eis ersetzt“, sagt Lars Kaleschke von der Universität
Hamburg am KlimaCampus. Die Eisdicke flächendeckend mit Satelliten zu erfassen, ist
technisch allerdings erst seit knapp zehn Jahren möglich. Die entsprechenden Messzeitreihen
sind also deutlich kürzer. Abschätzungen der Dicke ergeben, dass diese sich zum Ende der
arktischen Schmelzsaison in den vergangen Jahrzehnten mehr als halbiert hat: von etwa 2,5
Meter auf heute rund 1 Meter. Aktuelle Daten der ESA Satellitenmissionen SMOS deuten darauf
hin, dass das Meereis im Sommer 2012 im Vergleich zum Vorjahr großflächig dünner geworden ist.
UNSICHERHEITEN DER MESSREIHEN Da die eingesetzte Satelliten-Technik noch relativ jung ist, müssen
entsprechende Messungen der Eisdicke zurzeit noch zusätzlich durch direkte Beobachtungen
bestätigt werden. Messungen vom Forschungsschiff Polarstern aus ergeben in der zentralen
Arktis eine aktuelle mittlere Meereisdecke von nur noch etwa 90 Zentimetern – was gut mit den
Satellitendaten übereinstimmt.
Auch die Messreihen zur Ausdehnung des Eises sind mit Unsicherheiten behaftet. Zum Beispiel
interpretieren Satelliten Gebiete mit Meereis teilweise als offenes Wasser, wenn sich im
Sommer auf der Oberfläche größere Tümpel mit Schmelzwasser bilden. Um diese Fehler
abzuschätzen, werden verschiedene Algorithmen auf die Satelliten-Messwerte angewendet. „Es
ist nicht erstaunlich, dass bei einer Fläche von mehreren Millionen Quadratkilometern die
Messungen etwas differieren. Aber ausnahmslos alle Zeitreihen zeigen in diesem Jahr eine
rekord-niedrige Eisbedeckung – insbesondere auch jene eher konservativen Algorithmen, die
zur Einschätzung offener Schifffahrtsrouten verwendet werden“, sagt Georg Heygster von der
Universität Bremen.
URSACHEN DES EISRÜCKGANGS Der beobachtete Eisrückgang lässt sich nach derzeitigem
Forschungsstand in seiner ganzen Ausprägung nur durch den menschengemachten
Klimawandel erklären. "Erdgeschichtlich gesehen gibt es eine Vielzahl von Faktoren, die in der
Vergangenheit das Arktiseis reduziert haben. Für den derzeitigen Rückgang können diese jedoch
weitgehend ausgeschlossen werden", sagt Dirk Notz vom Hamburger Max-Planck-Institut für
Meteorologie am KlimaCampus. Zum Beispiel führten Schwankungen in der Erdumlaufbahn vor
6.000 bis 10.000 Jahren dazu, dass die Arktis im Sommer mehr Sonneneinstrahlung erhielt als
heute: Das Meereis ging ebenfalls stark zurück. In den letzten Jahrzehnten ist die Strahlung in
der Arktis durch eine generelle Abschwächung der Sonne aber eher schwächer geworden, so
dass sich das Meereis eigentlich hätte ausdehnen müssen. Auch natürliche Schwankungen in
den Windströmungen können das Meereis reduzieren, wie zuletzt in den 1930er Jahren. Ein
durch Windänderungen hervorgerufener Eisrückgang ist aber jeweils lokal begrenzt und betraf
damals insbesondere die Gewässer nördlich von Europa und vor West-Russland. Für den
derzeitigen – arktisweiten – Rückgang kommt ein ähnlicher Mechanismus daher kaum in Frage.
Auch weitere Faktoren wie Änderungen in der kosmischen Strahlung oder natürliche
Schwankungen in der Ozeanzirkulation konnten von entsprechenden Studien als Erklärung für
den Eisrückgang ausgeschlossen werden.
FOLGEN DES EISRÜCKGANGS Die Folgen eines dauerhaften Eisrückgangs können aufgrund der
komplexen Wechselbeziehungen nur exemplarisch dargestellt werden. „Durch den
Flächenverlust des weißen Meereises wird unter anderem weniger Sonnenenergie ins Weltall
reflektiert“, sagt Anders Levermann vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung. „Dies hat
sowohl globale als auch konkrete regionale Auswirkungen, zum Beispiel für das Schmelzen des
Grönländischen Eisschildes." Möglicherweise tauen die Permafrostböden schneller. Messungen
und Simulationen zeigen außerdem, dass sich die vorherrschenden Luftdrucksysteme verändern
könnten. "Der Eisrückgang erhöht den Wärmeaustausch zwischen Ozean und Atmosphäre. Das
hat nicht nur regional große Auswirkungen, sondern beeinflusst auch die großräumigen
Windfelder. Extreme Winter in Europa können dadurch häufiger werden", sagt Rüdiger Gerdes
vom Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven. Die gleichzeitige Erwärmung des Meerwassers
beeinflusst das arktische Ökosystem und wird dadurch auch die Lebensgrundlage der indigenen
Bevölkerung verändern.
Biologische Untersuchungen bilden einen Schwerpunkt auf der gegenwärtigen Expedition des
Forschungsschiffs Polarstern. „Wir sehen deutlich, wie abhängig die Lebensgemeinschaften im
Nordpolarmeer vom Eis sind“, sagt Fahrtleiterin Antje Boetius vom Bremerhavener Alfred-
Wegener-Institut nach sieben Wochen auf See. Gerade das mehrjährige Eis ist ein spezielles
Habitat für viele Lebewesen, die sich möglicherweise nicht so schnell an den Eisschwund
anpassen können. Die im Eis lebenden Eisalgen spielen darüber hinaus eine zentrale Rolle für
die Nahrungsnetze im arktischen Ozean. „Unter den Eisflächen sehen wir – nicht nur an der
Meeresoberfläche, sondern auch am Meeresboden in 4000 Meter Tiefe – viel mehr wohl
genährte Meerestiere als in Bereichen, die schon zwei Monate in offenem Wasser liegen.“ Was
die Forscher besonders beschäftigt, ist die Geschwindigkeit, mit der sich das Ökosystem hier zu
ändern scheint. „Hier könnte uns ein faszinierender Teil des Weltnaturerbes buchstäblich unter
den Händen wegschmelzen, ohne dass wir jemals vollständig wissen werden, welche
biologischen Schätze wir dadurch verlieren“, sagt Antje Boetius.
Ökonomisch erleichtert der Eisrückgang die Nutzung von Bodenschätzen an Land und im Meer
und erhöht die Schiffbarkeit der Arktis. „Um die jetzige und zukünftig noch anwachsende
Schifffahrt in der Arktis möglichst sicher zu gestalten, werden bereits neue Produkte und
Dienste von den Eisdiensten der Welt angeboten. Mit der Entwicklung eines neuen
verbindlichen Regelwerks, des „Polar Code“, stellt sich auch die International Maritime
Organization auf eine steigende Anzahl von Schiffen in polaren Gewässern ein“, sagt Jürgen
Holfort vom Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie. Die Arktis bekommt damit
gleichzeitig eine wachsende geopolitische Bedeutung, die in den letzten Jahren durch eine
Reihe von Eingaben zur nationalen Aufteilung des arktischen Ozeans deutlich wurde.
DIE WEITERE ENTWICKLUNG Seit Beginn der 1960er Jahre wird der Kohlendioxid-Gehalt der
Atmosphäre regelmäßig gemessen. Seitdem geht der kontinuierlich steigende CO2-Gehalt mit
einer weiter abnehmenden Meereisbedeckung einher. Diesen Zusammenhang bestätigen auch
Klimasimulationen. Deshalb erwarten wir, dass das arktische Meereis bei steigenden CO2-
Konzentrationen noch weiter zurückgehen wird. Natürliche Schwankungen können dabei für
einige Jahre zwar immer wieder zu einer vorübergehenden Zunahme von Meereis führen –
umgekehrt können solche Schwankungen das Abschmelzen des Eises jedoch auch
beschleunigen. Neueste Klimasimulationen zeigen, dass die Arktis bis Mitte dieses Jahrhunderts
im Sommer komplett eisfrei sein könnte, wenn die globalen CO2-Emissionen nicht bis dahin
drastisch reduziert werden.
Bild-/Filmmaterial unter: www.klimacampus.de [Externer Link!]
* Quelle: KlimaCampus, Universität Hamburg, 19. September 2012; www.klimacampus.de
Kontakt: Stephanie Janssen, Ute Kreis, CliSAP-Öffentlichkeitsarbeit
Was ist das KlimaCampus?
Der KlimaCampus bündelt und vernetzt seit 2007 die erfolgreiche Hamburger Klimaforschung. Beteiligt sind 18 universitäre Institute, außeruniversitäre Partner wie das Max-Planck-Institut für Meteorologie, das Helmholtz-Zentrum Geesthacht und das Deutsche Klimarechenzentrum.
Keimzelle des KlimaCampus ist der Exzellenzcluster "Integrated Climate System Analysis and Prediction" (CliSAP) der Universität Hamburg, der im Rahmen der Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder gefördert wird.
Darüber hinaus liefern starke Services vor Ort weitere Bausteine für das Netzwerk der Klimaforschung: der Deutsche Wetterdienst, das Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrografie sowie das Climate Service Center.
Quelle: Eigentext von KlimaCampus; Internet: www.klimacampus.de ("Wer wir sind")
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