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Das Chaos wird Normalität

Kongress in Bonn: EU-Experten berieten über Katastrophenschutz und zeichneten düstere Bilder / Über Egoismen und den Ernst der Lage

Von René Heilig, Bonn *

Der Vertrag von Lissabon räumt den Gremien der EU eigentlich neue, erweiterte Kompetenzen ein – auch auf dem Gebiet des Katastrophenschutzes. Für weltweite Einsätze. Dass die Diskrepanz zwischen reichen und armen Teilen der Welt größer wird, ist auch messbar an den Folgen von Desastern. Auf dem gestern in Bonn beendeten 6. Europäischen Bevölkerungs- und Katastrophenschutzkongress war wenig Erfreuliches zu hören.

Es gibt Statistiken in Hülle und Fülle. Oft widersprechen sie sich, doch in der Tendenz bestätigen alle das, was jedermann ahnt: Die Katastrophen, seien sie nun natürlicher oder gesellschaftlicher Art, nehmen zu. In den letzten zehn Jahren haben sie sich verdoppelt, der finanzielle Aufwand zur Minderung ihrer Folgen hat sich verzehnfacht.

Rund 80 Prozent aller derartigen Ereignisse sind durch das Wetter bedingt, die Erderwärmung liegt derzeit bei rund einem Grad. Die Veränderung der Lufttemperatur führt zur Veränderung der Niederschläge. Der Mittelmeerraum trocknet aus, Nordeuropa leidet insbesondere im Winterhalbjahr unter zu viel Nässe. Die globale Erwärmung greift die Gletscher an, in den Alpen nehmen sie jährlich um zwei bis drei Prozent ab. An den Polen schmilzt das Eis. Pro Jahr steigt der Meeresspiegel daher um vier Millimeter. Eigentlich nicht viel, doch die errechnete Kurve besagt, dass unsere Nachkommen im Jahr 2100 mit einem Anstieg von 50 bis 100 Zentimeter leben müssen. Ganz düstere Prognosen lässt das Abschmelzen zu. Fließt die Antarktis davon, steigt der Meeresspiegel sogar um 80 Meter. Selbst wenn die Menschheit schlagartig zur Vernunft kommen würde und keine Treibhausgase mehr in die Luft pustet – der Klimawandel schreitet voran. Erst in 100 Jahren würde sich ein Gleichgewicht einstellen.

Angesichts solcher Fakten muteten die vor der Stadthalle in Bad Godesberg ausgestellten modernen Gerätschaften des Technischen Hilfswerkes und der Feuerwehr geradezu lächerlich an. Doch nicht die Technik ist das Problem. Schon gar nicht die, die in Deutschland vorgehalten wird. Innerhalb der EU mangelt es an geeigneten Strategien und am gemeinsamen Willen zur Zusammenarbeit. Da mag Kristalina Georgieva, die gerade zur Großmutter gewordene EU-Kommissarin für humanitäre Hilfe und Krisenbekämpfung, noch so charmant für ihr neu geschaffenes Amt werben. Ein deutscher Innenstaatssekretär blockt ihren Optimismus gnadenlos ab, obwohl er immer wieder betont, dass man »gar nicht so weit auseinander liegt«.

Im Dialog zwischen Klaus-Dieter Fritsche und Kristalina Georgieva lernte man mal wieder, wie auslegungsfähig Verträge sein können. Auch der von Lissabon, der zumindest an drei Stellen und besonders im Artikel 196 einen Zwang zum solidarischen Miteinander bei der Abwehr von Katastrophen ausüben soll. Nichts da mit einer zentralen Leitung des Katastrophenschutzes in Brüssel, Stand-by-Einheiten wird es nicht geben, sagt Staatssekretär Fritsche. Und das mit dem freiwilligen Anti-Katastrophen-Korps mag ja im Vertrag so stehen, doch das fehlte noch, dass dann deutsche Profis auch noch die jungen Idealisten retten müssen ... Fritsche sagt, Vorsorge sei wichtig und es könne doch nicht angehen, dass man Hilfskräfte zur Hochwasserabwehr nach Polen schickt und die Tschechen, die dort auch helfen, ganz andere Schlauchkupplungen haben.

Das stimmt zwar, doch ist das gewiss nicht der Grund für die Ablehnung einer EU-Kompetenz, die über Koordinierung zur Beladung von Hilfsflugzeugen hinaus geht. Es geht schlicht ums Geld. Deutschland habe schließlich ein Sparprogramm zu erfüllen, wie andere Länder auch. Offenbar hat man noch immer nicht begriffen, dass die aktuellen Katastrophen nur Vorboten eines »normalen« Chaos sind. Altes Denken dominiert.

Seltsam, EU-Gemeinsamkeiten funktionieren doch auch, wenn es ums Militär geht. Seit zehn Jahren unterhalten die Mitgliedsstaaten – neben der NATO – sogenannte Battle-Groups, also klar definierte Stand-by-Truppen, die von Brüssel kommandiert rasch einsetzbar sind. Überall auf der Welt. Und das soll im Kampf gegen Katastrophen nicht möglich sein?

Vieles beim globalen Katastrophenschutz ist ungeklärt und birgt Gefahren. Vor allem dann, wenn sich Naturkatastrophen mit politischen Katastrophen paaren. So wie derzeit in Pakistan. Grundsätzlich wurde auf dem Kongress wieder einmal die Frage debattiert, wie sehr sich Hilfsorganisationen mit dem Militär einlassen dürfen. Zum Beispiel in Afghanistan.

Dass Katastrophen aber auch ihr »Gutes« haben, zeigte sich in Bonn gleichfalls. Profit stellt sich ein, wenn man das herstellt, was zur Abwehr des Schreckens geeignet ist. Oder zumindest als geeignet gepriesen wird. Die Industrie stellte vielerlei aus und ihre Vertreter redeten vom Podium herab Wunderdinge ins staunende Auditorium. Beispielsweise, wie toll die Post-Firma DHL das Transport- und Verteilungsmanagement gerade in entlegenen Gebieten der Welt beherrscht. Man wünschte sich das im eigenen Land. Doch dort werden ja Schalter geschlossen.

2010: Eine Bilanz des Schreckens

  • Januar. Erdbeben in Haiti: Die Opferzahl schwankt zwischen 250 000 und 300 000. Mindestens 1,2 Millionen Haitianer wurden obdachlos.
  • Februar. Erdbeben und Tsunami in Chile: Wissenschaftler stellten danach eine Verschiebung der Erdachse fest.
  • März. Orkantief »Xynthia«: 60 Tote sind in Westeuropa zu beklagen. Allein in Frankreich sterben 48 Menschen.
  • Vulkan-Ausbruch in Island. Die Aschewolke legt über Tage Europas Flugverkehr lahm.
  • Zyklon in Australien. »Ului« wütet, 60 000 Menschen sind tagelang ohne Strom.
  • April. Ölpest im Golf von Mexiko: Die Explosion der Ölplattform Deep Water Horizon ist das schlimmste Öl-Unglück in der Geschichte.
  • Erdbeben in China: 2220 Menschen kommen um.
  • Erdrutsche und Überschwemmungen in Rio de Janairo.
  • Mai. Sturm »Agatha« trifft Guatemala und El Salvador. Dadurch werden Sturzfluten und Erdrutsche ausgelöst.
  • Juli. Loveparade-Katastrophe in Duisburg. Bei einer Massenpanik sterben 21 Menschen.
  • Juli/August. Über 7000 Waldbrände fressen sich durch Russland.
  • Flutkatastrophe in Pakistan: Über drei Millionen Menschen sind betroffen.
  • Hochwasser in Sachsen und Brandenburg. Starke Regenfälle verwandeln Oder und Neiße in reißende Gewässer.
  • Erdrutsch in China. Mindestens 700 Tote, über 1000 Verletzte sind zu beklagen.
  • September. Bei einem Schiffsunglück in der Demokratischen Republik Kongo kommen bis zu 200 Menschen ums Leben.


* Aus: Neues Deutschland, 10. September 2010


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