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"Das Imperium nimmt eine zunehmend aggressivere Haltung ein"

Gespräch mit dem lateinamerikanischen Soziologen Prof. Atilio Boron über den Klimawandel, den Putsch in Honduras und die Politik der USA

Prof. Dr. Atilio Borón ist einer der bedeutendsten Politologen und Soziologen Lateinamerikas. Er unterrichtet politische Theorie an der Universität Buenos Aires, ist Mitglied des Nationalen Wissenschafts- und Technischen Forschungsinstituts Argentiniens und leitet das Lateinamerikanische Fernstudienprogramms für Sozialwissenschaften. Er ist Gastprofessor u.a. an den Universitäten Columbia, MIT, Notre Dame, UCLA (USA), Warwick und Bradford (England). Für sein Engagement um die Integration der Länder Lateinamerikas erhielt Prof. Atilio Borón 2009 den UNESCO-Preis "José Martí ".
Mit ihm sprach Manola Romalo, die uns das Interview zur Verfügung stellte. Das Gespräch fand bereits im Dezember 2009 statt.



Herr Professor Borón, obwohl die Industrieländer das verbindliche Ziel des Kyoto-Protokolls, den Anstoß von Treibhausgasen um 30 Prozent zu reduzieren nicht erreicht haben, verlangten sie auf dem UN-Klimagipfel in Kopenhagen weitere Anstrengungen von den Entwicklungsländern. Worum geht es in Wirklichkeit?

Das Hauptproblem wurde durch einen vollkommen irrationales und räuberisches Konsummuster verursacht: Dieses Muster ist dem kapitalistischen System inhärent. Es zu ändern setzt voraus den Kapitalismus aufzugeben und ein ethisches, soziales und ökonomisch höheres System zu konstruieren, was aber nicht im Entferntesten in den Köpfen der Leader der entwickelten Ländern reinpasst.

Was muss getan werden?

Solange das ökonomisch-soziales System Männer, Frauen und die Natur nur als simple Objekte einer ständigen Suche nach Gewinne betrachtet, kann es keine Lösung geben. Diese historisch-ökologische Krise führt unseren Planeten am Rande eines kollektiven Selbstmordes. Ein solches System ist nicht lebensfähig. Seine Aufgabe zugunsten eines humaneren ist nur eine Frage der Zeit. Man muss der Konsum und die Verschwendung des Nordens einschränken ohne jedoch zu verhindern, dass die Afrikaner, die Völker aus Mittelasien und aus Lateinamerika zu einem größeren Wohlbefinden kommen. Unter den jetzigen Umständen, wenigsten solange der Kapitalismus noch existiert, bedeutet das einen notwendigen größeren Energiekonsum.

Nachdem die USA den Putsch gegen Präsident Manuel Zelaya unterstützt haben, erkannte Nobelpreisträger Obama die illegalen Präsidentschaftswahlen in Honduras an. Was bedeutet sein Zurückkehren zu der herkömmlichen US-Politik in der Region?

Ein wahres Unglück für Lateinamerika und die Welt. Das bedeutet, dass Washington seine zögerliche und zähneknirschend adoptierte Politik, de-Fakto-Regimes in Lateinamerika nicht mehr anzuerkennen - Dank der großen sozial-politischen Umwandlungen von Hugo Chávez in Venezuela, Evo Morales in Bolivien und Rafael Correa in Ecuador und selbstverständlich dem Weiterleben der kubanischen Revolution -, aufgibt.

Honduras bedeutet die erste Generalprobe. In dem "Todestrakt" befinden jetzt Guatemala und Paraguay, zwei Länder mit einer ähnlichen institutionellen Situation wie Honduras: Eine von der Legislative und der Judikative in die Zange genommenen Exekutive, Regierungen die sich an dem von Chávez initiierten ALBA-Bündnis annähern, etc. Bald werden andere Staatstreiche folgen. In der aktuellen Situation lädt sich das Imperium neu auf. Es nimmt jedes Mal eine zunehmend aggressivere Haltung ein: Die sieben Militärbasen in Kolumbien, die Aktivierung der Vierten Flotte, die Unterstützung von Staatsstreiche, die Billigung von gefälschten Wahlen und neuerdings die Drohungen von Hillary Clinton an lateinamerikanische Staaten die mit Washington "nicht genehmen Partnern" Handel treiben, wie Iran. Es kommen schlechte Zeiten auf Lateinamerika zu und indirekt auf die restliche Welt. Das Imperium fühlt sich bedroht, deshalb antwortet es mit zunehmender Gewalt.

Obwohl der US-Kongress 2008 befand, dass der zehnjährige »Plan Colombia« den Drogenhandel und den Terrorismus nicht eingeschränkt hat, firmierten Washington und Präsident Álvaro Uribe im Oktober einen Vertrag, um sieben US-Militärbasen in Kolumbien aufzustellen, angeblich für den gleichen Zweck. Was ist der wahre Grund?

Der Grund ist nicht der Kampf gegen den Drogenhandel wie behauptet wird. Die zwei Länder wo Produktion und Export von Rauschmitteln am meisten anwuchsen sind Afghanistan und Kolumbien! Beide von den USA militärisch besetzt. Diese von den Vereinten Nationen herausgegebene Information haben wir in unserem mit Andrea Vlahusic verfassten Buch »Die dunkle Seite des Imperiums« (Buenos Aires, 2009) veröffentlicht. Wenn die Präsenz Nordamerikas in diesen Gegenden etwas bewirkt hat, dann ist es die größere Drogen-Produktion und Export, nicht aber deren Bekämpfung. Es ist das gleiche Muster wie beim Opiumkrieg der Engländer im 19. Jahrhundert in China. Das wahre Ziel ist den südamerikanischen Kontinent zu kontrollieren: Hier befindet sich die Hälfte der Trinkwasserreserven des Planeten, die Hälfte aller Biodiversität, große Öl- und Gasvorräte, alle Sorten kostbarer und strategischer Mineralien, große Flächenkapazität für die Lebensmittelproduktion, etc.

Indem sie ihren Völkern weitgehende politische Entscheidung - und Teilnahmemöglichkeiten geben, praktizieren die ALBA-Regierungen eine in der Welt einzigartige Linkswende. Welche Elemente rettet der Sozialismus des 21. Jahrhunderts im Gegensatz zu den sich wiederholenden Krisen des Kapitalismus?

Der Sozialismus des 21.Jahrhunderts hat Weichen aufgestellt, mit denen die lang anhaltende Systemkrise überwunden werden soll, indem die Gesellschaft auf ein neues Fundament gestellt wird: Zuerst geht es darum, eine ökologisch nachhaltige Produktionsweise aufzubauen. Deshalb die Forderung nach Respektierung der »Mutter Natur«, die »Pachamama« von Evo Morales. Und aus diesem Grund hat Ecuador in seiner Verfassung festgelegt, dass die Natur ein Rechtssubjekt ist, was eine radikale Innovation in der juristischen Denkweise bedeutet. Zweitens geht es um die Neubildung der Gesellschaft durch radikale politische Maßnahmen der Umverteilung des Besitzes, des Reichtums und der Einnahmen. Keine Gesellschaft ist auf lange Sicht lebensfähig, wenn sie in eine soziale Schicht von zehn Prozent Superreichen und eine von 90 Prozent extrem arme, bedürftige und unter erbärmliche Umstände lebende Menschen polarisiert wird. Und schließlich geht es darum, eine genuin demokratische Ordnung neu zu errichten die die Farce der liberalen Demokratien überwindet. Eine teilnehmende Demokratie wo die Menschen die Haupthandelnden sind, ist unabdingbar.


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