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Tiefwurzelndes Gras

Im hohen Norden tauen Permafrostböden. Wie sehr beschleunigt das den Klimawandel?

Von Wolfgang Pomrehn *

Die Eiskappe auf dem arktischen Ozean treibt seit einigen Jahren die Klimawissenschaftler um. Als in den 80ern die Diskussionen über einen Klimawandel zunahmen, gingen die meisten dieser Wissenschaftler davon aus, daß das Eis auf dem Nordmeer vielleicht im 22. Jahrhundert verschwinden könnte, nicht aber schon zu unseren Lebzeiten. Die Entwicklung der letzten Jahre hat sie eines Besseren belehrt: Das Eis schwindet deutlich schneller, als die meisten Klimamodelle vorhersagen.

Ursächlich sind, wie seit langem bekannt, Emissionen einiger Spurengase, die bei verschiedenen, meist industriellen Aktivitäten der Menschen entstehen. Etwas über 50 Prozent trägt das Kohlendioxid (CO2) zum Problem bei, das durch die Verbrennung fossiler Energieträger wie Kohle, Benzin, Diesel und ähnlichem freigesetzt wird. Auch bei der Verbrennung von Holz und beim Vermodern toter Pflanzen und Tiere wird das Gas freigesetzt. Letzteres ist aber nur dann von Belang, wenn nicht im gleichen Maße neue Pflanzen nachwachsen, die das CO2 wieder binden und der Atmosphäre entziehen.

Genau da liegt in punkto Arktis der Haken. Unter dem Boden Nordsibi­riens, Alaskas und Kanadas liegen seit rund 120000 Jahren große Mengen Tierkadaver und abgestorbene Pflanzen, Überreste einer eisigen Steppe, die sich während der letzten Eiszeit über weite Teile Eurasiens und Nordamerikas ausdehnte. Anders, als man vielleicht meinen könnte, war diese biologisch ziemlich produktiv. Tiefwurzelndes Gras ernährte sogar riesige Pflanzenfresser wie die Mammuts und entsprechend reichhaltig und vielfältig war auch die übrige Tierwelt.

Deren Hinterlassenschaften sind bisher im dauerhaft gefrorenen Boden des hohen Nordens konserviert, und die große Frage ist, was passiert, wenn diese Böden in einem wärmeren Klima auftauen. Durch den Zerfall der Tier- und Pflanzenreste könnten immense Mengen von Treibhausgasen in die Atmosphäre gelangen, was den Treibhauseffekt weiter verstärken würde. Wissenschaftler sprechen in diesem Fall von einer positiven Rückkopplung. Erste Anzeichen dafür, daß die Permafrostgrenze nach Norden wandert, gibt es bereits. In den vergangenen Jahren wurden wiederholt entsprechende Studien publiziert. Sie decken sich mit Berichten aus russischen und nordamerikanischen Siedlungen am und hinter dem Polarkreis.

Wissenschaftler des US-Zentrums für Schnee- und Eisdaten haben kürzlich genauer untersucht, wieviel organisches Material freigesetzt und wieviel Treibhausgas dadurch in die Atmosphäre gelangen würde. Ihre Ergebnisse haben sie in der renommierten Fachzeitschrift Tellus veröffentlicht. Wie den gängigen Projektionen des Weltklimarates liegen auch ihren Untersuchungen verschiedene Szenarien zugrunde, die die künftigen Emissionen beschreiben. Vorausgesetzt wird immer, daß es zu keiner aktiven Klimaschutzpolitik kommt.

Heraus kam, daß die Permafrostzone je nach Entwicklungspfad der Weltwirtschaft und der eingesetzten Technik in den nächsten 190 Jahren um 29 bis 59 Prozent schrumpfen wird. Dabei würden 190 (plus minus 64) Milliarden Tonnen Kohlenstoff freigesetzt, ungefähr 50 Prozent aller seit Beginn der Industrialisierung in die Luft geblasenen Emissionen. Der Klimawandel würde durch das Auftauen also auf jeden Fall erheblich beschleunigt.

Wie stark genau, hängt auch davon ab, wieviel der Biomasse unter Luftabschluß in Sümpfen vermodert. Dabei entsteht nämlich nicht CO2, sondern Methan, das ein etwa 20mal so effektives Treibhausgas wie CO2 ist. Dieser Frage wollen sich die Wissenschaftler in ihrer nächsten Untersuchung widmen.

* Aus: junge Welt, 3. März 2011


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