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Martin Niemöller – Streiten für den Menschen

70 Jahre nach Martin Niemöllers Verhaftung

Anlässlich des 70. Jahrestags der Verhaftung Martin Niemöllers in Dahlem hielt Martin Stöhr am 29. Juni 2007 im Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst im Rahmen der Reihe "Forum Wissenschaft" einen Vortrag, den wir mit freundlicher Genehmigung durch die Martin-Niemöller-Stiftung nachstehend dokumentieren.



Von Martin Stöhr *

Gewissen und Verantwortung

In meinem letzten Semester an der Universität Siegen fragt mich ein Student: „Sie erwähnten den Namen Martin Niemöller. Entschuldigen Sie bitte: Wer war das?“ Es ist gut, dass gefragt wird, denn: Wer kein Gedächtnis mehr hat, verliert die Orientierung – und zwar für die Gegenwart, erst recht für die Zukunft. Solche – in diesem Fall - selbst produzierte Demenz eröffnet Gleichgültigkeit oder Nationalismus, Feindbildern oder Duckmäusertum neue Chancen, weil die vergessen werden, die gegen den Strom zu schwimmen lernten.

Ein Film über Martin Niemöller setzt als Titel über dieses protestantische Leben eine beunruhigende Frage: „Was würde Jesus dazu sagen?“ Den Satz lernt der kleine Junge im Haus eines Textilarbeiters kennen. Er gehört zu den proletarischen Heimarbeitern der Elberfelder Industrie, in der der Unternehmer Friedrich Engels sein großes Geld – auch zur Unterstützung seines Freundes Karl Marx - verdient. Der Satz stammt aus jener pietistischen Tradition des Protestantismus, die damals mehr auf „praxis pietatis“ setzt als auf doktrinärem Christentum bestand. Friedrich Engels schrieb typische Jugendgedichte dieser, dem Nächsten zugewandten, individuellen Frömmigkeit. Bei einem Krankenbesuch mit seinem Vater liest der Junge diese Frage - in Glasperlen auf Samt gestickt. Es ist eine Frage, kein Standpunkt, die für das alltägliche Handeln nach einem ethischen Maßstab sucht. Die Antworten von gestern sind zu überprüfen und nicht einfach zu wiederholen. Ein lebenslanges Gespräch und Lernen über Ziele und Schritte des Lebensweges wird so begonnen. Wie mit einem Kompass, dessen zitternde Nadel immer neu den Weg des Gewissens sucht und sich dabei an einem festen Punkt, genauer an einem Menschen, Jesus, orientiert.

Dieses Erbe verdankt er seinem Elternhaus, gedankt hat er es ihm immer wieder. Aber es gibt ein zweites, ein deutsch-nationales Erbe aus dem Elternhaus, das zu überwinden er ein langes Leben braucht. Es war die Treue zum angestammten preußischen Herrscherhaus und den damit verbundenen Tugenden. Es war nicht der Untertanengeist, den Heinrich Mann in seinem gleichnamigen Roman exzellent beschreibt, auch nicht jene Entmündigung, die ich in einem deutschen Gesangbuch (ausgerechnet aus dem Jahr der Französischen Revolution!) finde:

Jeder Bürger sich bewusst,
dass er nicht regieren kann,
sei ein treuer Untertan.
Schaue Jesum Christum an,
Er war auch ein Untertan.
Tu wie er ohne alle Not
deiner Obrigkeit Gebot.

Nein, so nicht: Seine Haltung ist geprägt von einer Verantwortung für das Volk und von einer souveränen Freiheit, seinem Gewissen zu folgen. Beides nimmt er in den verschiedenen Stationen seines Lebens auf immer neue Weise wahr. Dabei wird sein Verständnis von Volk erweitert und schließt die Völker der Welt und nicht nur das deutsche ein – biblisch gesprochen es bezieht die Oikoumene, den ganzen von Menschen bewohnten Erdkreis mit ein. In der Enge des KZ entdeckt er mit den Mitgefangenen aus allen Ländern Europas, mit Konservativen und Sozialisten, mit Gewerkschaftern und Kommunisten, Christen und Nichtchristen einen weltweiten Horizont in der Wirklichkeitswahrnehmung und einer darauf bezogenen Verantwortung. Sein Gewissen reagiert entsprechend sensibler und schärfer.

Zur Biographie

Am 14. Januar 1892 wird er in einem Pfarrhaus in Lippstadt geboren. Von dort geht er seinen Weg:
  • als Matrose ab 1910, der sich im kaiserlichen Marinedienst einen Jugendtraum erfüllt und zum erfolgreichen U-Bootkommandanten wird, auf dessen Funkspruch über die versenkten feindlichen Schiffe, der entzückte Kaiser persönlich „sehr gut!“ schreibt,
  • als Noch - Kapitän einer zur Abwicklung bestimmten deutschen U-Bootflotte verweigert er 1918 den Befehl, die Schiffe an England auszuliefern,
  • als 1918 entlassener U-Bootkapitän, dem die demokratische Staatsform der Weimarer Republik missfällt und der andere Formen sucht, „seinem Volk zu dienen“ (wie er formuliert), auf keinen Fall als Offizier oder Beamter,
  • 1919 als Knecht auf einem Bauernhof, wo er sich zur Theologie entschließt, weil in der protestantischen Kirche er die größtmögliche Freiheit sieht – gemäß Luthers Verbindung von Freiheit und Nächstenliebe: Ein Christenmensch ist ein freier Herr aller Dinge und niemandem untertan; ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan – in der Liebe.
  • als Student der Theologie bis 1923, der dann auch ein paar Wochen mit der „Akademischen Wehr“ den Aufstand der Ruhrarbeiter gegen den Rechtsputsch bekämpft und dabei mit ihren Schiesseisen, die sie zum Glück nicht anwenden mussten, von Gustav Heinemanns Tante verjagt wurde: „Lasst meinen Garten in Ruhe, macht euren Krieg woanders!“
  • als Bürger, der sich im katholischen Münster für eine konservative evangelische Partei in den Stadtrat wählen lässt und vor allem Bildungs- und Sozialpolitik betreibt,
  • als Pfarrer und Geschäftsführer der Inneren Mission in Westfalen, der nicht nur deren Sozialeinrichtungen verbessern hilft, sondern auch eine Bank der Diakonie gründet, weil er nicht einsieht, dass die Zinsen der kirchlichen Spareinlegen den Banken zugute kommen müssen, sondern den eigenen diakonischen Einrichtungen helfen müssen,
1931 wählt ihn die Ev. Kirchengemeinde Berlin-Dahlem zu einem ihrer Pfarrer. In dem eher konservativen Villenvorort findet er grossen Anklang als Prediger und Seelsorger. Sicher hat dazu auch beigetragen, dass er 1934 einen Bestseller veröffentlichte „Vom U-Boot zur Kanzel“, ein Buch, das die Abenteuer eines erfolgreichen U-Bootkommandanten schildert, wenig berührt von kritischer Reflexion seines Kriegshandwerks. Der Versailler Vertrag, der die deutsche Niederlage besiegelte, bestimmt weithin seine nationale Sicht und Hoffnung auf eine Erneuerung des Deutschen Volkes. Noch 1933 wählt er deshalb NSDAP, die mit der Deutschnationalen Volkspartei in einer grossen Koalition die Macht sich vom deutschen Volk hatte geben lassen. Stand nicht im Parteiprogramm der NSDAP, dass man ein „positives Christentum“ vertrete? Überlesen oder mit Zustimmung gelesen wurde die antisemitische Rassentheorie, ein Grundpfeiler des sozialdarwinistischen Weltbildes der Nazis.

Zur radikalen Gewissenserforschung Niemöllers gehört später seine ebenso radikale Erkenntnis der Schuld, die er mir anderen z.B. dem späteren Bundespräsidenten Gustav Heinemann, den Bischöfen Lilje und Wurm im Stuttgarter Schuldbekenntnis von 1945 vor internationalen Besuchern aussprach. Dessen entscheidender Satz, von ihm formuliert, heisst: „Durch uns ist unendliches Leid über viele Länder und Völker gebracht worden!“ Gerade die, die im Widerstand waren, stellten sich „mit unserem Volk … in die Solidarität der Schuld.“ Ich komme darauf zurück.

Ein Kampf für Freiheit und Recht der Kirche

Der Konflikt mit Partei und Staat lässt 1933 nicht lange auf sich warten. Anlass ist die antijüdische Gesetzgebung, die alle Juden betrifft, nicht nur die liberalen, die konservativen oder orthodoxen, auch die säkularisierten, die keinerlei Verbindung zur jüdischen Gemeinde mehr hatten, auch die das rassistische System als Juden definiert. Aber diese Gesetzgebung trifft auch jene Juden, die Mitglieder der christlichen Gemeinden sind, meist der protestantischen, oft seit Generationen. Neben den etwa 500 000 Juden im damaligen Deutschland stammen aus jüdischen Familien etwa 300 000 bis 400 000 Menschen. Nicht wenige leben als Gemeindglieder in Dahlem. Wachsam reagiert sein Gewissen, realistisch und früh nimmt er wahr, was ihnen droht. Aber er sieht nur die, die zur Kirche gehören. Die jenseits seines Arbeitsplatzes Kirche Bedrohten, auch die gefährdete rechtsstaatliche Demokratie, löst noch kein darüber hinaus gehendes Engagement aus. Der junge Kollege Dietrich Bonhoeffer ist da entschiedener. Er verlangt 1933, den Staat nach der Legitimität seines Handelns zu fragen, nicht nur für die Bedrohten innerhalb der Kirche einzutreten, sondern für alle von staatlichem Handeln Bedrohte und schließlich „dem Rad in die Speichen zu fallen“.

Das Ermächtigungsgesetz beendet bis 1945 in Deutschland Menschenrechte, Rechtsstaat und Demokratie. Im nationalen Rausch stimmen das Zentrum, aber auch die Demokraten Theodor Heuss und Reinhold Mayer zu, nicht aber die SPD. Nach dem Reichstagsbrand ist die Fraktion der KPD bereits zerschlagen. Zu Niemöllers offenem Protest und Handeln führt der staatlich angeordnete Boykott jüdischer Geschäfte am 1.4.1933. Die Familie kauft weiter in jüdischen Geschäften. Als sein Sohn für die Schule eine Spende für den Tierschutz haben will, plädiert Niemöller für Menschenschutzvereine, in Deutschland eine Rarität. Am 7. April wird das Berufsverbot im öffentlichen Dienst für Juden erlassen, das sog. Gesetz zur „Wiedereinführung des Berufsbeamtentums“. Dieser Arierparagraph mit seiner rassistischen Diskriminierung großer Teile der deutschen Gesellschaft und der Christenheit soll auch in der Kirche wirksam werden, ebenso das Führerprinzip, um nicht nur Partei und Staat, sondern auch die Kirche zu beherrschen. Also weg mit dem biblischen Grundsatz, dass verantwortliche Liebe und Freiheit sich nicht vom Staat seine völkischen Grenzen setzen lässt, weg mit den parlamentarisch verfassten Synoden, hin zu monarchisch installierten Bischöfen.

Es bildeten sich sofort kleine Gruppen von Opposition in der zersplitterten evangelischen Kirche. Nach dem Berufsverbot für Juden im öffentlichen Dienst wird Niemöller einer der Wortführer, der sich gegen die Einmischung des Staates in die Freiheit der Kirche wendet. Niemöller wird das später die erste „contra-antisemitische Aktion“ nennen. Er begründet sein Handeln mit dem Satz „Wenn die Welt fordert, was Gottes ist, dann müssen wir mannhaft Widerstand leisten.“ Noch zielt der Protest gegen die NS- Ideologie, kaum gegen den NS-Staat, doch ist beides schon nicht mehr getrennt Die Menschen mit ihrer als Ebenbilder Gottes gegebenen Würde sind keine Verfügungsmasse staatlicher Ideologien.

Mit den Deutschen Christen greifen die Nazis auf eine Gruppe von Christinnen und Christen zurück, die ihre Rassenideologie vertreten. Bei manipulierten Wahlen für die Kirchenvorstände – der Katholik Hitler hielt über den sofort gleichgeschalteten Rundfunk für diese evangelische Gruppe eine Wahlrede – marschierten geschlossene Kolonnen der NS-Organisationen in die Kirchen, um ihre Stimmen abzugeben. In Preußen erreichen sie in den Juliwahlen die Mehrheit in den Synoden, ausgenommen in Westfalen und in Niemöllers Dahlemer Gemeinde. Die meisten ChristInnen – egal ob nazinahe oder nicht – wünschten sich zwar eine geeinte ev. Kirche anstelle der Zersplitterung in 22 Landeskirchen, waren über den Weg dahin sich uneinig. Niemöller gründete mit Kollegen den Pfarrernotbund als protestantisch-protestierende Bewegung, er wird ihr Vorsitzender. Bald gehört ihm über ein Drittel der 18 000 ev. Pfarrerschaft an. Er wird der Vorläufer der Bekennenden Kirche. Aber der als Minderheit begonnene Widerstand bröckelt, vor allem im Krieg. Daran ist nicht nur die Minderheit der DC schuld, sondern die Mehrheit der Protestanten, die neutral zu bleiben versucht. Gerade mit ihrem vermeintlichen unpolitischen Verhalten wirkt sie eminent politisch: Sie lässt die Dinge laufen, genauer, sie überlässt sie den Machthabern.

Dem Vatikan war es gelungen, mit der Reichsregierung am 20. Juli 1933 ein Konkordat abzuschließen, das man der Weimarer Republik immer verweigert hatte. An dieser Front herrscht offiziell-institutionell Ruhe, etwas, was im protestantischen Bereich nicht erreicht wird. Man muss allerdings sagen, dass der Widerstand in allen Kirchen eine Sache von zivilcouragierten Einzelnen und kleinen Gruppen bleibt. Das erhöht den Respekt, den wir ihnen schulden, kämpfen sie doch gegen den nationalsozialistischen Feind und gegen Taktieren der Institutionen sowie gegen die Gleichgültigkeit und Anpassung der Mehrheit. Zu einer gerechten Würdigung der grossen und kleinen Tapferkeiten derer, die - wie auch immer - widerstanden, gehört auch der Hinweis darauf, dass sich in den ersten Monaten eine rasche Gleichschaltung vollzieht, die in ihrem Erfolg erschreckend ist. Medien und Kulturinstitutionen, Schulen und Hochschulen, Ärztekammern und Industrie- und Handelskammern, Verwaltungen und Justiz, Sport- und Gesangvereine, Industrie und Gewerkschaften funktionierten nahezu wie gewünscht: Juden und Oppositionelle werden hinausgedrängt.

Dietrich Bonhoeffer nennt dieses Verhalten in einer Analyse „Nach 10 Jahren“, geschrieben 1943, „Dummheit“, die kein intellektuelles Defizit, sondern ein moralisches Defizit sei, an dem viele kluge Leute in der Rolle der Mitläufer oder Gleichgültigen leiden. „Die Macht der einen braucht die Dummheit der anderen!“.

Innenpolitisch zieht das durch Rüstung und öffentliche Bauten belegte Arbeitsplatzargument. Außenpolitisch der Austritt aus dem Völkerbund, die Besetzung des Ruhrgebiets, der Anschluss des Saarlandes, die Olympiade. Später werden die frühen Siege über östliche und westliche Nachbarn bejubelt. Siege. Erfolge scheinen NS-Partei und NS-Staat Recht zu geben. Umso erstaunlicher ist es, dass jemand gegen Tradition und Erziehung seinen einsamer werdenden Weg geht. Niemöllers Gewissen muss sich zu Dingen neu und anders verhalten als es ein traditionelles Verständnis des Staates zulässt. Das war durch einen aus dem Zusammenhang gerissenen Halbsatz wie „Seid untertan der Obrigkeit“ eingeübt. Erst langsam wird der apostolische Satz gelernt „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen!“.

Das kommt auf einem Treffen von evangelischen Kirchenführern mit Hitler in der Reichskanzlei zutage. Niemöller nimmt als einziger Gemeindepfarrer teil. In die Runde platzt in dramatischer Pose Göring. verliest ein frisiertes Telegramm über ein abgehörtes Niemöller-Telefongespräch. Da geht es um eine der - wie immer - unfrisierten Äußerungen Niemöllers: Bald werde man dem Staatspräsidenten Hindenburg die letzte Ölung verpassen, dann würden sich die Dinge ändern. Hitler tobt, die Kirchenkollegen verstummen peinlich berührt. Dann kommt es zum Abschied, Niemöller sagt zu Hitler: „Sie haben gesagt: Die Sorge um das deutsche Volk überlassen Sie mir. Dazu muss ich erklären, dass weder Sie noch sonst eine Macht in der Welt in der Lage sind. Uns als Christen die uns von Gott auferlegte Verantwortung für unser abzunehmen!“ Hier wird ein staatlich und ideologisch total beanspruchtes Verantwortungsmonopol des Staates in Frage gestellt und auch eine christliche Verantwortung für die Mitmenschen beansprucht. Hitler wird sich diese Insubordination merken, bis er durch die persönlich angeordnete Einweisung ins KZ seine Wut in die Wort fasst: „Der Pfaffe soll sitzen bis er schwarz wird!“

1934 entsteht dann die Bekennende Kirche. Mitgliedsausweise sind Selbstverpflichtungen. Deren vierte – von Niemöller formuliert – verpflichtet die Inhaber zu dem Zeugnis, dass die Einführung des Arierparagraphen in der Kirche das christliche Bekenntnis verletzt. Das entscheidende Gründungsdokument ist die von einer frei gewählten Synode verabschiedete Barmer Theologische. Erklärung. Einer ihrer Kernsätze verwirft die falsche Lehre, als hätten die Christen neben dem einen Wort Gottes, dass in Jesus Christus sich menschlich verkörpert, auch andere „Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung anzuerkennen“ – also z.B. eine Rassenlehre, eine Stimme von Blut und Boden, einen Führer, Deutschlands große Stunde oder Wiedergeburt. Als Thomas Mann im Exil die Dahlemer Predigten des inhaftierten Niemöller veröffentlicht, tut er das unter dem Titel „God is my Führer“. Er trifft damit die Intention der Rede von Christus als dem Herrn, die feministisch inkorrekt, aber biblisch die Bestreitung des göttlichen Herren-Anspruchs der Römischen Kaisers aufgreift und aktualisiert. Er nennt sich Kyrios kai Theos, Herr und Gott - Titel, die Juden wie Christen niemals einem Menschen zuerkennen können. Eberhard Bethge erzählt von einem Gestapo - Vernehmer in seiner Haft, der ihm sagte: „Wir wissen schon, ihr redet immer von römischen Kaiser Nero und meint uns!“

Die BK baut eigene Strukturen auf, Ausbildungsstätten, Finanzierungen und Leitungen, die sich gegen jedes Führerprinzip „Bruderräte“ nennen. Als Deutschland und die Welt von dem Sommermärchen der Olympiade 1936 berauscht sind. veröffentlich der Bruderrat der BK einen Brief an Hitler, der gekürzt auch als Abkündigung von vielen Kanzeln verlesen wird und zur Verhaftung von über 500 Pfarrern führt.

In diesem Brief heisst es: „Wenn hier Blut, Volkstum. Rasse und Ehre den Rang von Ewigkeitswerten erhalten, so wird der evangelische Christ durch das erste Gebot gezwungen, diese Bewertung abzulehnen. Wenn der arische Mensch verherrlicht wird, so bezeugt Gottes Wort die Sündhaftigkeit aller Menschen, wenn den Christen im Rahmen der nationalsozialistischen Weltanschauung ein Antisemitismus aufgedrängt wird, der zum Judenhass verpflichtet, so steht dagegen das Gebot der Nächstenliebe.“ Weiter wird von der „schweren Gewissensbelastung“ gesprochen, die in der Tatsache besteht, dass „es in Deutschland, das sich selbst als Rechtsstaat versteht, immer noch Konzentrationslager gibt und dass alle Maßnahmen der Geheimen Staatspolizei jeder richterlichen Nachprüfung entzogen sind.“ Kritisiert wird der Personenkult um Hitler, die Verführung der Jugend sowie die „Wahl“ vom März 1936, die Hitler 99% Zustimmung bringt. Unter dem Brief steht neben anderen Niemöllers Unterschrift, der Name jenes Menschen, der es gewagt hatte, dem „Führer“ in der Reichskanzlei zu widersprechen.

Seine letzte öffentliche Rede hält er in Wiesbaden, dreimal in hiesigen überfüllten Kirchen am 29. Juni 1937, heute genau vor 70 Jahren. Ein Spitzel schreibt sie – wie die meisten Predigten und Vorträge - für die Gestapo mit, so bleibt sie uns erhalten. Ich nenne nur drei Argumente, die er vorträgt: Einmal macht er deutlich, dass eine Bindung an Christus eine Freiheit gegenüber allen Autoritäten bedeutet. Zum anderen weist er darauf hin, dass Jesus wie die Verfasser des neuen Testamentes und die Apostel Juden sind. Diese streng theologische Aussage hat, wie sein erster Punkt, eine ungeheure politische Brisanz, unterläuft sie mit der Hochschätzung der Juden den staatlichen Judenhass. Er spricht von der „Arierfrage“ und nicht von der „Judenfrage“, wie es notorischer Brauch der Antisemiten aller Zeiten ist. Die Arier sind ihm das Problem. Zum Dritten beruft er sich auf das Recht, dass in den Verhaftungen von widersetzlichen Christen gebrochen wird. Er nennt die Namen der zu Unrecht Verhafteten. Auf eine ähnliche Tonart ist sein letzter Brief (vom 16.6.37) an den Reichsjustizminister gestimmt. Niemöller nennt beim Namen, was Recht ist und fordert dieses Recht von dem Minister ein, der für das Recht zuständig ist, es aber nicht ausübt.

Beide Aktivitäten werden zum letzten Anstoß, ihn zu verhaften. Bis zu diesem Zeitpunkt sind schon an die 40 Strafverfahren gegen ihn anhängig. Jetzt ist er, was er bis 1945 bleiben wird, Hitlers persönlicher Gefangener. Die Anklage lautet auf politische Hetze gegen Volk und Staat. Nach langer Untersuchungshaft in Moabit kommt es im Februar/März 1938 zum Prozess. Zu seinen Gunsten sagen Besucher seiner Gottesdienste aus, z.B. der Mediziner Sauerbruch, Görings Schwester Olga Rigele, Staatssekretär von Bismarck, Botschafter von Hassell, Generaloberst von Hammerstein. Der Prozess endet mit einem Urteil von 7 Monaten Festungshaft für den ehemaligen Offizier. Voller Freude warten am Hauptausgang die Familie und viele Gemeindeglieder mit Blumen. Währenddessen transportiert ihn vom Hinterausgang des Gerichts ein Wagen direkt nach Sachsenhausen ins KZ. Hitler hatte das angeordnet. Isolierhaft und schließlich seine Verlegung nach Dachau folgen. Von dort wird er mit anderen Gefangenen nach Süden in die sog. Alpenfestung verschleppt. Ein Trupp von Wehrmachtsoffizieren, darunter ein Hörer seiner Dahlemer Predigten, erkennt ihn, befreit ihn aus den Händen der SS und übergibt ihn und sich selbst der US-amerikanischen Armee. Niemöller entging somit Dietrich Bonhoeffers Schicksal, in den letzten Tagen des Krieges noch auf Todesmärschen oder am Galgen zu enden.

Die Auseinandersetzung mit der Schuld der Kirche und der Deutschen

Was in vielen Schulbüchern, gerade auch im angelsächsischen Bereich steht, blickt selbstkritisch auf diese Engführung seiner Zivilcourage zurück:

Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen;
Ich war ja kein Kommunist.
Als sie die Sozialdemokraten einsperrten, habe ich geschwiegen;
Ich war ja kein Sozialdemokrat:
Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich geschwiegen,
ich war ja kein Gewerkschafter.

Als sie mich holten, gab es keinen mehr,
der protestieren konnte.


So oder so ähnlich formuliert er oft unmittelbar nach seiner Rückkehr nach Deutschland seine Schuld. Das hört sich im Sommer 1945 so an: „Nein, die eigentliche Schuld liegt auf der Kirche; denn sie allein wusste, dass der eingeschlagene Weg ins Verderben führte, und sie hat unser Volk nicht gewarnt, sie hat das geschehene Unrecht nicht aufgedeckt oder erst, wenn es zu spät war. Und hier trägt die Bekennende Kirche ein besonders großes Maß von Schuld; denn sie sah am klarsten, was vor sich ging…. Wir haben jetzt nicht die Nazis anzuklagen, die finden schon ihre Kläger und Richter, wir haben allein uns selber anzuklagen und daraus die Folgerungen zu ziehen.“ Und dann konkretisiert er die Schuld, die darin besteht, dass wir uns nur um die Kirche gekümmert haben. Als Konsequenz formuliert er: „Wir haben eine andere Stellung zu unseren Mitmenschen; wir wissen, dass sie gleich uns einen Anspruch auf Recht und Freiheit haben und darum niemals für uns und für andere zum Gegenstand der Ausbeutung werden sollten.“ Die Kirche hat nur dazu einen Platz in dieser Welt, dass allen „Menschen Recht und Freiheit auch im öffentlichen und staatlichen Leben gegeben werde. Deshalb ist uns aber die Staatsform und deshalb sind uns die Grundsätze, nach denen das öffentliche Leben gestaltet wird, nicht gleichgültig; und deshalb können uns Staatsformen und Gesetze nicht einfach als gegebene Tatsachen erscheinen, mit denen wir uns abzufinden haben. Die Demokratie, wie sie in der abendländischen Welt seit dem Eintritt des Christentums in die Geschichte gewachsen ist, hat nun einmal mehr mit dem Christentum zutun als irgendeine autoritäre Form der Staatsführung, die das Recht und die Freiheit für den Einzelnen verneint.“

Gegen Unrecht und Unfreiheit und die damit verbundene Gewalt einzutreten, die andere und nicht nur die Kirchenmitglieder treffen – das bestimmt sein Denken und Handeln nach dem Zweiten Weltkrieg. Und die anderen, die stehen ihm ständig vor Augen: In vielen anschließenden Vorträgen in Universitäten erntet er Buhrufe, Scharren und Zwischenrufe, wenn er im Hungerwinter 1945/46 ausführt: „Dreißig bis vierzig Millionen Tote durch die Hände deutscher Menschen… Es gibt viel Jammer über unser Elend, über unseren Hunger, aber ich habe in Deutschland noch nicht einen Mann sein Bedauern aussprechen hören…. über das furchtbare Leid, das wir, wir Deutsche, über andere Völker gebracht haben, über das was in Polen passierte, über die Entvölkerung von Russland und über die 5,6 Millionen toten Juden! (Buh, Scharren Zwischenrufe: Und die Schuld der anderen?). Das steht auf unseres Volkes Schuldkonto.“ Er spricht von Umkehr und Neuanfang, die allein Gottes Vergebung sich verdanken. „Wir sind unserer Verantwortung nicht gerecht geworden!“ Niemöller spricht wie ein biblischer Prophet, der Erkenntnis und Bekenntnis von Irrwegen als Voraussetzung eines Neuanfangs kennt. Der polnische Leiter der des Staatlichen Museum in Maidanek, Thomasz Kranz, hält dieses Schuldbekenntnis ebenso singulär wie wichtig für einen moralischen Neuanfang des deutschen Volkes wie das von Karl Jaspers oder Alexander und Margarete Mitscherlichs. Diese Intellektuellen stoßen aber nach dem Krieg auf das, was Niemöller „Organisierte Unbußfertigkeit“ nennt. Man denke nur stellvertretend an das Schweigen bei Martin Heidegger, Ernst Jünger oder Carl Schmitt.

Niemöller stellt sich in die Solidarität der Schuld. Im Blick auf das Zitat „Als sie die Kommunisten …“ erinnert er an die ersten Massenverhaftungen der Linken nach dem Reichstagsbrand, erinnert sich an die Juden, die außerhalb der Hilfe ihrer christlichen Nachbarn und der Kirchen blieben. Das sagt er, der kirchlich-selbstkritisch die „Judenfrage“ zur „Aríerfrage“ macht, der in seiner Gemeinde ein Netz von ehrenamtlichen und hauptamtlichen HelferInnen für die sog. Judenhilfe aufbaut. Dazu gehören Charlotte Friedenthal, Gertrud Staewen, Helene Jacobs und Marga Meusel u.a. Er hat seine erste, von ihm nicht befolgte Entlassung aus dem Pfarramt seiner Weigerung zu verdanken, aus den Kirchenbüchern Ariernachweise zu bescheinigen. An dieser Stelle ist zu sagen, dass Niemöller nicht am rassistischen Judenhass Teil hatte, wohl aber in der Tradition christlicher Judenverachtung stand. 1963 von Günter Gaus nach seiner Abneigung gegen Juden gefragt, antwortete er ehrlich, dass ihm erst im KZ aufgegangen sei, „dass ich als Christ nicht nach meinen Sympathien oder Antipathien mich zu verhalten habe, sondern dass ich in jedem Menschen den Menschenbruder zu sehen habe.“ Das schließt „jedes Antiverhalten gegen eine Gruppe von Menschen irgendeiner Rasse, irgendeiner Religion, irgendeiner Hautfarbe aus.“ Mit dieser Erfahrung wird er in den achtziger Jahren gegen die Berufsverbote für Linke in der Bundesrepublik auftreten.

Für Frieden und Versöhnung zwischen den Völkern

Ein neues Antiverhalten, genauer ein altes Antiverhalten fordert ihn bald heraus. Es ist die Wiederbelebung des kommunistisch-sozialistischen Feindbildes. Dem Kampf gegen den jüdisch-bolschewistischen Untermenschen stimmten viele Deutsche zu. Gegen die Russen die. gegen die Slawen alte Vorurteile weiter zu kultivieren, scheint der Kalte Krieg vielen zu erlauben. Die Truman-Doktrin hatte 1947 das Programm des „Containment“, der Eindämmung des kommunistischen Machtbereiches auf die zwischen den Alliierten in Jalta und Potsdam gezogenen Grenzen mitten durch Europa festgelegt. Hier, wo die grossen Technik- und Industriepotentiale der einen wie der anderen Seite in Ost- und Westeuropa unangetastet bleiben sollten, entbrannte der Kalte Krieg, der in heissen Stellvertreterkriegen in der sog. Dritten Welt ausgefochten wurde.

Niemöllers Entscheidung war ebenso klar für den freiheitlichen und demokratischen Rechtsstaat wie für eine Nichtteilnahme am Kalten Krieg. Ost und Westdeutschland sollten Brücken über den Graben des Kalten Krieges und nicht Brückenköpfe des einen gegen das andere Lager sein. Das vertritt er mit seinen Freunden dem früheren Reichskanzler Wirth, Helene Wessel, Gustav Heinemann, Dieter Posser, Johannes Rau, Ludwig Metzger, Erhard Eppler mit Leidenschaft. Maßgebend ist die Einsicht: „Wer den Frieden will, der muss die Verständigung mit seinem Gegner wollen!“ (1953)

Er wird zum Pazifisten. Er kann sich keinen Jesus vorstellen, der ihm auf die Frage, „Was soll ich tun?" antwortete: "Nimm und wirf eine Atombombe!“ Für ihn ist dieses ethische Postulat der Bergpredigt zugleich ein Postulat der Vernunft sowie der historischen Erfahrung zweier von Deutschland ausgehenden Weltkriegen.

Hatte man nicht genau vor 60 Jahren in Darmstadt das Darmstädter Wort des Bruderrates der Bekennenden Kirche verabschiedet, das das Stuttgarter Schuldbekenntnisses präzisieren will und vor der Teilnahme an der Frontenbildung des kalten Krieges warnen will? In Darmstadt 1947 hatte man die Irrwege Deutschlands benannt:
  1. Wir haben die Nation auf den Thron Gottes gesetzt; das ist eine Warnung vor einem neuen Nationalismus, der jetzt zum Feldzug gegen den „Osten“ ziehen will. Wir haben der Gewalt statt dem Recht vertraut. Der einst begeisterte U-Bootkapitän hatte im ersten Weltkrieg seine Skrupel verdrängt mit dem bis heute hörbaren Argument: Wenn wir es nicht schießen, dann tun es die anderen. Nach Versenkung eines Truppentransporters, als andere britische Schiffe zur Hilfe eilten, fragt er: Sollen wir die im Wasser schwimmenden Überlebenden retten? Nein, wenn wir sie retten, dann töten sie unsere Kameraden. Die Logik der Gewalt lässt keine Ethik zu.
  2. Wir haben uns an der Frontbildung der Guten gegen die Bösen beteiligt und entsprechende Feindbilder geschaffen und ihnen geglaubt.
  3. Wir haben am Überkommenen gehängt, statt neue Lebensformen zu entwickeln.
  4. Wir haben die Sache der Armen und Entrechteten dem marxistischen Materialismus überlassen statt sie – gemäß dem Evangelium - zur Sache der Christen zu machen.
In den Auseinandersetzungen um die Aufstellung der Bundeswehr, der die Aufstellung der NVA in der DDR folgt, entwickelt sich eine „Ethik“, die das Völkerrecht und die Menschenrechten immer stärker als Alternative zur traditionellen Konfliktlösung durch Kriege stärker ins Gespräch bringt. Mitstreiter sind der aus Adenauers Kabinett aus Protest ausgestiegene Jurist und Krupp-Manager Gustav Heinemann sowie der Bundesverfassungsrichter Helmut Simon, dazu größere Gruppen der ev. Kirchen. Als sich die Debatte nicht mehr nur um Wiederaufrüstung dreht, sondern um Massenvernichtungsmittel, gewinnt er neben vielen internationalen Wissenschaftlern weitere Mitstreiter.

Einer davon ist z.B. Albert Schweitzer, den er vor dem westafrikanischen Hafen Dakar 1917 beinahe versenkt hätte. Ein französisches Schiff mit Zivilinternierten, darunter A. Schweitzer, wartete im Hafen auf eine Ausfahrt. Vor dem Hafen lauert ein deutsches U-Boot unter dem Kommando von Niemöller. Schweitzers Schiff gelingt der Ausbruch und damit die Chance, mit Niemöller zusammen gegen Massenvernichtungswaffen zu kämpfen. Schweitzer schreibt an Niemöller: „Lieber Herr Niemöller; Sie haben mir also tatsächlich nach dem Leben getrachtet, wenn es ihnen geglückt wäre, hätten sie jetzt einen braven Kumpan weniger im Anti-Atom-Kampf. Da es sich schon so gefügt hat, wollen wir umso besser zusammenarbeiten!“

Aber Niemöller gewinnt noch andere Bundesgenossen, die er auch zum Teil aus seiner Dahlemer Gemeinde kennt. Seit 1947 Kirchenpräsident der Ev. Kirche in Hessen und Nassau und Bürger in Wiesbaden, trifft er sich 1954 im Nassauer Hof hier in Wiesbaden mit Werner Heisenberg, Otto Hahn und Carl Friedrich von Weizsäcker. Sie gehören zu den Göttinger 18, die scharfen Einspruch gegen die atomare Bewaffnung erhoben hatten. Adenauer hatte diese als eine „Weiterentwicklung der Artillerie“ verniedlicht. Niemöller liegt daran, dass nicht nur die christliche Ethik den Einsatz von Massenvernichtungsmitteln verbietet. Auch die Vernunft spricht dagegen. Hahn – mit Lisa Meitner der Entdecker der Atomspaltung - nennt die Atomwaffen die „absolute Absage an die Menschenwürde.“ Alle Staaten könnten jetzt Atombomben bauen, die die Menschheit vernichten können. Ihre Entwicklung, Verbreitung und Anwendung ist ebenso unvernünftig wie unmoralisch. Wir können unseren Globus wieder in den Zustand des Anfangs versetzen: Die Erde war wüst und leer. Waffen machen die Welt nicht sicherer. 1958 beschließt der Bundestag die Bewaffnung der Bundeswehr mit atomaren Waffen – gegen die Stimmen der SPD.

1959 erregt Niemöller die Öffentlichkeit mit einem Satz aus seiner Kasseler Rede: Im Krieg gebe es keine Begrenzung der Mittel gegen den Gegner. „Jedes Mittel ist heute recht, catch as catch can; womit man den Gegner kleinkriegen kann. Und darum ist heute die Ausbildung zum Soldaten, die Ausbildung der Kommandos im zweiten Weltkrieg, die hohe Schule der Berufsverbrecher!“ F. J. Strauss verklagt ihn, das Verfahren wird eingestellt. Wie Tucholskys Wort „Soldaten sind Mörder“ ist durch die Meinungsfreiheit eine pazifistische Kritik gedeckt.

Verantwortung im internationalen Horizont

Niemöller, ab 1945 sozusagen Außenminister der EKD, (Leiter des kirchlichen Außenamtes), oft als „guter Deutscher“ „vorgeführt“, war zu zahllosen Vorträgen und Predigten oft wochenlang in westlichen und Drittweltländern unterwegs. Er trifft Präsident Eisenhauer, der ihm die Warnung vor dem „militärisch-industriellen Komplex“ mitgibt, worin die beiden alten Soldaten eine Triebfeder für die laufenden Rüstungsspiralen in allen Ländern sehen. Er trifft sich mit Indira Gandhi. Die Frage der internationalen Gerechtigkeit ist drängend. Er bringt es auf die Formel: „Eine Welt oder keine!“ Nur gemeinsam können wir Sicherheit und Gerechtigkeit erreichen, nicht gegeneinander. 1954 beschreibt er die heute dauernd beschworene Globalisierung so: „Unser Planet ist klein geworden…. Wir leben noch in Nationalstaaten, aber die Grenzen hören auf, Grenzen zu sein. Nachrichten wandern von Land zu Land und radioaktive Niederschläge auch. Das Schicksal auf dem Globus ist einziges, gemeinsames Schicksal geworden. Es geht nicht mehr, dass eine Gruppe von Menschen sich das eigene leben auf Kosten anderer sichert!“ Die weißen Völker ernten, was sie gesät haben, in Zukunft bestimmen China, Indien und Afrika die Welt.

Aber er besucht 1952 auch auf Einladung des Patriarchen die Russisch-Orthodoxe Kirche Moskau. Herbert Wehner wird ihn deswegen einen „politischen Niemand“ nennen, Konrad Adenauer wirft ihm vor, der Bundesregierung in den Rücken zu fallen. „Ich kann nur sagen, dass Herr Niemöller dem deutschen Volk schwersten Schaden zugefügt hat!“ Er selbst wird 1955 fahren und die SU diplomatisch anerkennen (Hallsteindoktrin). Die FDP lässt durch ihre Jugendorganisation vor dem Wohnhaus in der Brentanostrasse 3 ein Spruchband aufhängen „Zurück nach Moskau, Towaritsch Niemöller!“ In einigen Medien ist zu lesen, man solle ihn ausweisen, nennt ihn eine Puppe an „Moskaus Drähten“. Sein Programm heisst: Um der Menschen willen Löcher in den eisernen Vorhang bohren. Natürlich hat der kirchliche Besuch eines Menschen, der gegen Hitler gefochten hatte und nicht mit Hitlers Armeen Russland in verbrannte Erde verwandelt und Menschen millionenfach vernichtet hatte, eine politische Dimension. Er besucht deutsche Kriegsgefangene, als Spezialisten zurückgehalten, stellt mit ihnen einen ersten Kontakt her, bekommt einige frei, fragt nach den über 100 000 noch in der SU Vermissten. Die Klärung der Gefangenenfrage nennt er die Voraussetzung für Frieden und Verständigung. Er pocht nicht auf das Völkerrecht – von Deutschland so mit Stiefeln getreten. Er plädiert für einen Neuanfang in den Beziehungen. Er versichert, dass die als kriegslüstern geltenden Amerikaner keinen Krieg wollen. Er bringt eine weithin orthodoxe und eine baptistische Kirche in die Öffentlichkeit, die Jahre brutaler Verfolgung mit millionenfachen Blutopfern erlitten hatte. Er schafft es, die zarte Pflanze Vertrauen zu implantieren anstelle von Hass und Verachtung.

Als er 1961 einer der Präsidenten des Weltkirchenrates ist, zahlt sich dieses Vertrauen auch so aus, dass die Russisch-Orthodoxe Kirche Mitglied in diesem Zusammenschluss aller nichtkatholischen Kirchen werden kann und so ihre Isolierung durchbrechen kann, denn eine neue Verfolgungswelle setzte ein. Bis dahin gilt der ÖRK in der kommunistischen Propaganda als eine blutgierige, kapitalistenhörige Organisation. Niemöller hält die Parole „Lieber tot als rot“ für eine widerliche Diffamierung der Christen im Osten in schwierigen Situationen durch Mitchristen in einer eher bequemen, westlichen Lage.

Den Unterschied in der Kirchenpolitik zwischen NS-System und Sowjetkommunismus sieht er nicht einer messbaren Zahl gleicher oder unterschiedlicher Brutalitäten. Das NS-Regime will aus Kirchenmitgliedern gute Nationalsozialisten und Deutsche mit der entsprechenden rassistischen Weltanschauung machen, das Sowjetsystem will sie mit staatlicher Hilfe absterben lassen. Er resümiert nach seiner Rückkehr: „Ich glaube nicht, dass der Kommunismus sich durchsetzen wird.“ Eine Gefahr sieht er in dem, was er „Mammonismus“ nennt, die Herrschaft des Geldes in allen menschlichen Beziehungen. Hier hält er sich an das, was ein urchristlicher Kommunismus der Bibel und ihre Reichtumskritik an Gefahren nennt: Soziale, menschliche Beziehungen werden in Warenbeziehungen verwandelt.

Er weiss wie Thomas Mann, dass der Antikommunismus die „Grundtorheit des 20. Jahrhunderts ist“ – nicht weil der Kommunismus keine Kritik verdient, sondern weil seine Ablehnung nicht mit einer ihn überbietenden Bemühung um eine bessere Gerechtigkeit und um mehr Frieden kreativ umgesetzt wird.

In den Worten von Thomas Mann: „Die bürgerliche Revolution muss sich ins ökonomische fortentwickeln, die liberale Demokratie zur sozialen werden“. Er fordert die Abkehr vom „Aberglauben, man müsse überall den Sozialismus niederhalten und lieber sich mit dem Faschismus verbünden, als zuzulassen, dass irgendwo free enterprise Schaden nehme.“

Er bekommt das Grosse Bundesverdienstkreuz wie den Leninorden. Seine Heimatstadt lehnt die Ehrenbürgerschaft mit der Begründung ab „Wer sein Vaterland beschimpft, kann kein Ehrenbürger werden!“ Wiesbaden ernennt ihn zum Ehrenbürger. Nach zahllosen USA-Reisen reist auch in die östlichen Nachbarländer, noch häufiger in westliche. Ihm wird die Einreise in die DDR gelegentlich verwehrt und ein Vortrag verboten, weil ein „Pazifist“ dort keine Festrede halten dürfe. Er kämpft für die Freilassung des nach Ostberlin verschleppten Gewerkschafters Heinz Brandt bei der DDR-Regierung. Kurzum: Er ist nicht fehlerfrei, aber er sucht immer wieder sich an der Kompassnadel des christlich geprägten Gewissens und einer entsprechenden Verantwortung zu orientieren. Thomas Mann charakterisiert ihn, „den tapferen Bekenner Gottes und der Freiheit eines Christenmenschen“ im Vorwort zu Niemöllers Predigten so: Er dachte nicht an sich, verhielt sich nicht neutral und schaute nicht zu – anders das Verhalten, das ein Naziregime möglich machte: „Jeder dachte nur an sich, versteckte sich hinter dem elenden Fetzen seiner Neutralität und sah zu, wie der andere ans Kreuz geschlagen wurde, einer nach dem anderen.“

Bei der Einweihung der Gedenkstätte des KZ Bergen-Belsen: „Jeder ist für das, was er tut, verantwortlich. Leistet immer und überall Widerstand, wenn es um den Menschen geht!“

Quelle: Website der Martin-Niemöller-Stiftung:
www.martin-niemoeller-stiftung.de



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