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"Geht nicht in diesen Krieg!"

Die Kirchen und der Terrorismus nach dem 11. September

Von Peter Franz*

Wenn man die Reaktionen von Kirchen, Gemeinschaften und Einzelpersonen aus dem christlichen Überzeugungsspektrum zu den Vorgängen um den 11. September und ihren Folgen untersucht, kommt man zu einem sehr disparaten Bild. Die Verurteilung der massenmörderischen Anschläge ist einhellig. Natürlich lässt auch keine der christlichen Stimmen ein Wort der Trauer, des Mitleids mit den Angehörigen und der Solidarität mit den Betroffenen des Massakers fehlen, aber dabei wird von einem deutlichen Schulterschluss mit der US-Nation oder ihrer Administration ganz offensichtlich abgesehen. Den gleichen Eindruck gewinnt man, wenn man die Stellungnahmen durchforstet im Blick auf die Reaktionen von US-Regierung, NATO-Rat und westlichen Regierungen auf die Ereignisse vom 11.9., darunter die deutsche Reaktion.

Die durch den Anschlag evozierte Ratlosigkeit lässt die Kirchenvertreter - evangelisch wie katholisch - in einer gemeinsamen Erklärung sogleich auf den sattsam bekannten rhetorischen Allgemeinplatz flüchten: «Der Mensch hat eine Fähigkeit zum Bösen, die uns erschauern lässt.»1 Und ein zweiter Zungenschlag fällt in dieser ersten Reaktion deutscher Kirchenvertreter auf: «Terror» wird als Bedrohung der Menschheit angesehen, die «die Staaten der Welt» zum entschlossenen Handeln dagegen aufruft.2 Vor Vergeltung und Rache (dieser Staaten) wird freilich gewarnt und «Nüchternheit» angemahnt. Daraus darf gefolgert werden, dass sie diese staatlichen Mächte ihrerseits zu terroristischem Vorgehen zumindest für fähig halten - wobei sie freilich weit davon entfernt sind, einen Begriff wie «Staatsterrorismus» zu verwenden.

Zwei Wochen später meldete sich der Präses der EKD erneut mit einer Erklärung zu Wort, in der er zur Besonnenheit mahnte.3 Dem US-Präsidenten höchstselbst ins Stammbuch geschrieben waren dabei die Worte: «In diesem Zusammenhang überhaupt von ‹Krieg› oder gar ‹Kreuzzug› zu sprechen, ist falsch und verhängnisvoll.» Als theologischer Spitzensatz seiner Erklärung darf jedoch diese Feststellung gelten: «Terror und Krieg im Namen Gottes sind Gotteslästerung.» Denn damit sind im Grunde beide der infrage kommenden Terrorismen denunziert: der bandenmäßige wie der staatliche.

Mit dem Beginn des «ersten Krieges im 21. Jahrhundert» am 7. Oktober 2001 ergab sich auch für die Kirchen eine Situation intensivierter Bedenken und aktualisierten Mahnens. Die in Gegenwart des Papstes tagende Weltbischofssynode in Rom konnte sich allerdings nur zu einem blumig formulierten Wunsch an die Staatsterroristen aufschwingen: «Möge Gott die Regierenden und die Völker erleuchten, dass sie den Weg des Friedens finden.»4 Zwei Tage später ging eine Meldung durch die deutsche Presse, in der ausgerechnet der katholische Militärbischof Mixa seine Besorgnis über die Militärschläge der Angloamerikaner ausdrückte. Man könne in keiner Religion den Namen Gottes zur Rechtfertigung von Gewalt heranziehen, heißt es in dieser Erklärung.5 Die anhaltenden Bombardierungen veranlassten den Rat der EKD am 16. Oktober zu einer Stellungnahme, die wohl via Bundesregierung Druck auf die verbündeten US-Amerikaner ausüben sollte. Zwar geriet die Lageanalyse mangelhaft, da das Volk der Afghanen als allein in der Geiselhaft der Taliban beschrieben wird und nicht auch zugleich als kollektive Geisel eines Luftkrieges. Aber in den praktisch-karitativen Positionen vertrat EKD-Präses Kock eine anerkennenswerte humanitäre Linie, als er erklärte: «Ich bitte deshalb die Bundesregierung, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, damit die Bombardierungen wenigstens so weit eingeschränkt werden, dass vor dem Wintereinbruch sichere und leicht erreichbare Schutzzonen für die Zivilbevölkerung eingerichtet werden können. Statt Lebensmittel planlos aus der Luft abzuwerfen, ist es sinnvoller, den Hilfsorganisationen umgehend einen gefahrlosen Zugang zu den notleidenden Menschen zu verschaffen.»6

Eine grundsätzliche Orientierung in der Friedensfrage bot die am 17. Oktober bekannt gemachte Zwischenbilanz, die die Kammer für Öffentlichkeitsarbeit der EKD vorgelegt hatte und in der Forderung gipfelte: «Politik muss Vorrang vor militärischen Maßnahmen zur Konfliktlösung haben.»7 Die EKD zieht darin eine Zwischenbilanz ihrer nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation entwickelten friedensethischen Grundpositionen. Diese Schrift unter dem Titel «Friedensethik in der Bewährung» knüpft dabei an die «Schritte auf dem Weg des Friedens» von 1994 an. Darin werden militärische Mittel prinzipiell als untauglich zur Herstellung und Bewahrung einer Friedensordnung angesehen: Terrorismusbekämpfung müsse sich auf «eine Kombination politischer, wirtschaftlicher, polizeilicher, geheimdienstlicher und möglicherweise auch militärischer Maßnahmen» stützen.8 Nach eigenen Worten orientiert sich darin die EKD «...ebenso wie die römisch-katholische Kirche am Leitbild eines gerechten Friedens. Dem entspricht ein erweiterter Sicherheits- und Friedensbegriff, der unter anderem rechtsstaatliche, ökonomische, soziale und kulturelle Komponenten beinhaltet. Die internationale Friedensordnung bedarf einer Stärkung als Rechtsordnung. Der Einsatz militärischer Gewalt bleibt im Rahmen einer als Rechtsordnung zu verstehenden internationalen Friedensordnung eine ‹äußerste Möglichkeit› (‹ultima ratio›).»9 Zugleich wird die neuen NATO-Strategie zur weltweiten Sicherung von «Bündnisinteressen» zurückgewiesen, die Herstellung des Gewaltmonopols der UNO eingefordert und die Einrichtung eines internationalen Strafgerichtshofes verlangt.

Die römische Kirche in Deutschland ließ durch ihren Weihbischof Schwarz eine gute Woche später ähnliche Überlegungen für die Öffentlichkeit folgen. In diesem Papier10 wird zwar verkündet, «dass wir unseren Reichtum und Wohlstand letztlich auch auf Kosten der Millionen Armen leben und dass grundlegende Änderungen der Weltwirtschafts- und Finanzordnung dringend notwendig sind», ohne jedoch durchblicken zu lassen, welche Mechanismen die weltweiten Verelendungs- und Zerstörungsvorgänge verursachen.

Die turnusmäßige EKD-Synode vom 4. bis 6. November in Amberg wurde ebenfalls stark von den terroristischen Ereignissen und ihren kriegerischen Folgen bestimmt. Präses Kock beklagte, dass die schmalen Lebensgrundlagen der afghanischen Bevölkerung durch die Bombardements weiter zerstört würden.11 In die Beratungen «platzte» am 6. November die Nachricht, der Bundeskanzler beabsichtige, der Anforderung der USA nach einer Beteiligung deutscher Soldaten zu entsprechen und damit den Bundestag zu befassen. Daraufhin sprach Kock von seinen «schwerwiegenden Zweifeln» in Bezug auf die angegebenen Ziele der Militärschläge. Dennoch konzedierte er Synodalen wie Parlamentsabgeordneten die Wahl, über den Einsatz deutscher Truppen auch zu gegensätzlichen Entscheidungen gelangen zu können und diese dann auch respektieren zu wollen.12

Ganz anders klang es aus den Beratungen der großen katholischen innerkirchlichen Friedensbewegung PAX CHRISTI am gleichen Wochenende in Mainz: «Der Internationale Rat der katholischen Friedensbewegung Pax Christi hat die Vereinigten Staaten von Amerika und Großbritannien aufgefordert, die Bombardierungen in Afghanistan zu beenden.»13 Der Krieg als Mittel der Politik habe ausgedient. Die UNO sei als internationale Rechtsordnung der Völker zu stärken und mit der Durchführung von Polizeiaktionen zur Durchsetzung internationalen Rechts zu betrauen.

Eine Tagung der katholischen Domschule in Würzburg - um einmal Überlegungen aus der innerkatholischen Basis zu Wort kommen zu lassen - kam zu ähnlichen Ergebnissen. Sie nahm auch zu den Vorwürfen des «Antiamerikanismus» Stellung: «Die Wurzeln des Anti-Amerikanismus sind nach den Worten von Dr. Michael Rosenberger in der US-amerikanischen Politik der vergangenen Jahrzehnte zu suchen. Die Außenpolitik sei oft unter dem Aspekt des Eigennutzes geführt worden. Mit vielen der heutigen ‹Schurken› hätten die USA über Jahre hinweg zusammengearbeitet und ihnen Waffen geliefert. Hinzu komme, dass Amerika viele Vereinbarungen nach persönlichem Ermessen halte oder breche.»14

In der Abschluss-Kundgebung der EKD-Synode vom 9. November bezogen die Synodalen bei aller Solidarisierung mit den zivilen Opfern und der Einrede auf die humanitäre Verantwortung der Entscheidungsträger letztlich eine für ihre innere Verfassung typische Sowohl-als-auch-Position: Bei-de Optionen (für oder gegen den Militärein-satz) werden der individuellen Gewissensentscheidung anheim gestellt und damit kirchlich legitimiert. Ein Antrag von 14 pazifistischen Synodalen fand keine Mehrheit. Sie hatten sich auf eine Erörterung Dietrich Bonhoeffers bezogen: «Die Kirche muss im Entscheidungsfall eines Krieges nicht nur sagen: es sollte eigentlich kein Krieg sein, aber es gibt auch notwendige Kriege, und nun jedem einzelnen die Anwendung dieses Prinzips überlassen, sondern sie sollte konkret sagen können: geh in diesen Krieg oder geh nicht in diesen Krieg.» Nach einer kritischen Überprüfung von fünf gebräuchlichen Kriterien für einen «erlaubten Krieg» heißt es in ihrer Stellungnahme am Schluss: «Folglich: Unsere Kirche kann nach der Forderung Bonhoeffers zu keiner anderen Schlussfolgerung kommen als zu sagen: ‹Geht nicht in diesen Krieg!›»15

In einer fast zeitgleich ergangenen Erklärung des Vorsitzenden der (katholischen) Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Lehmann, werden wiederum sowohl die Bedenken wie auch die Anerkenntnis eines «ultima ratio»-Handelnmüssens der Staaten zum Schutze ihrer Bürger vor terroristischen Anschlägen in ein verbales Gemenge eines von Zweifeln zerfurchten Einerseits-andererseits und Sowohl-als-auch gegossen.

In den darauffolgenden Tagen kam es zu weiteren Stellungnahmen kirchenleitender Personen, hauptsächlich aus dem protestantischen Bereich, die mehr ihre Zweifel an dem terroristischen Vorgehen der reichen Nationen ausdrücken und den Schutz der Zivilbevölkerung vor den absehbaren grausamen Folgen des Krieges anmahnen.

Ein schlüssiges Fazit zu den kirchlichen Kundgebungen zu ziehen, bleibt nach diesen - in Auswahl vorgetragenen - Positionen von Kirchenleitungen und Kirchenbasis schwierig. Deutlich ist: Je dichter die Anbindung der agierenden Personen an die staatliche Macht ist, umso eher sind sie bereit, die olivgrüne Kröte des Krieges zu schlucken.

Fußnoten

1 Präses Kock/Kardinal Lehmann: Gemeinsames Wort zu den Terroranschlägen in den Vereinigten Staaten von Amerika, 12. September 2001
2 ebda.
3 «Terrorismus ist mit Krieg nicht zu besiegen», Erklärung des EKD-Ratsvorsitzenden, Präses Manfred Kock vom 24. September 2001
4 08.10.2001: Weltbischofssynode ruft zum Frieden auf . Papst Johannes Paul zeigte sich besorgt über die aktuelle Weltlage
5 10.10.2001: Militärbischof Mixa besorgt über Angriffe der USA auf Afghanistan
6 «Schutzzonen für die Zivilbevölkerung in Afghanistan einrichten», Erklärung des EKD-Ratsvorsitzenden, Präses Manfred Kock vom 16. Oktober 2001
7 Rat der EKD legt Zwischenbilanz «Friedensethik in der Bewährung» vor, 17. Oktober 2001
8 ebda.
9 ebda.
10 23.10.2001: «Ethische Kriterien für militärische Intervention», Weihbischof Schwarz zu den Militäraktionen in Afghanistan
11 Kock äußert starke Zweifel an Militäraktionen gegen Afghanistan = 6. Tagung der 9. Synode der EKD vom 4.11.2001
12 ebda.
13 07.11.2001: Pax Christi fordert ein Ende des Kriegs in Afghanistan. Abschluss der fünftägigen Beratungen des Internationalen Rates in Mainz
14 08.11.2001 «Frieden lässt sich nicht herbei bombardieren». Bericht über den Verlauf der internationalen Tagung der katholischen Domschule Würzburg
15 Antrag für eine Entschließung der Synode der EKD zum Beschluss der Bundesregierung, 3900 Soldaten zum militärischen Einsatz gegen den «internationalen Terrorismus» bereitzustellen.

* Evangelischer Theologe, Weimar

Der Beitrag erschien in Heft 1/2002 der "Marxistischen Blätter"


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