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Völkerrechtswidriger Umgang Deutschlands mit ehemaligen Kindersoldaten

Kindernothilfe und terre des hommes stellen "Schattenbericht Kindersoldaten" vor

Pressemitteilung aus Anlass des Tags der Menschenrechte

Berlin, 07.12.2007 - Die Kindernothilfe und terre des hommes kritisieren Menschenrechtsverletzungen und Verstöße Deutschlands gegen die UN-Kinderrechtskonvention. Dies ist das Ergebnis des »Schattenberichtes Kindersoldaten«, den die beiden Organisationen in Berlin vorstellten. Er deckt erhebliche Defizite der Bundesregierung im Umgang mit ehemaligen Kindersoldaten in Deutschland auf. Kindernothilfe und terre des hommes kritisieren außerdem die Rekrutierung von unter 18-jährigen Freiwilligen durch die Bundeswehr.

Mindestens 500 ehemalige Kindersoldaten leben Schätzungen zufolge derzeit in Deutschland. Sie müssen komplizierte und belastende Asylverfahren durchlaufen. Kinderspezifische Fluchtgründe wie Zwangsrekrutierung, Missbrauch oder die Ermordung der Eltern spielen dabei asylrechtlich keine Rolle. »Der Umgang mit ehemaligen Kindersoldaten in Deutschland ist unmenschlich und völkerrechtswidrig. Obwohl sie schlimmste körperliche und seelische Verletzungen erlitten haben, werden sie bis auf wenige Ausnahmen nicht als politische Flüchtlinge anerkannt und leben in Deutschland nur mit einer Duldung – einer ausgesetzten Abschiebung«, erklärte Ralf Willinger, Kinderrechtsexperte bei terre des hommes. Die Angst vor der Abschiebung traumatisiere sie zusätzlich. Abschiebungen von Minderjährigen aus Konfliktgebieten wie Afghanistan oder dem Irak finden statt, darunter könnten auch ehemalige Kindersoldaten sein. »Das Ausländerrecht hat in Deutschland derzeit Vorrang vor dem Kinderrecht: Zuerst ist man Ausländer, dann Kind. Das muss dringend geändert werden: das Wohl der Kinder muss Priorität haben, wie es die UN-Kinderrechtskonvention vorschreibt«, so Ralf Willinger. Diese Kritik teilt auch die EU-Kommission in einem kürzlich veröffentlichten Bericht.

Zweite zentrale Forderung von Kindernothilfe und terre des hommes ist die rechtliche Festschreibung von 18 Jahren als Mindestalter für die Aufnahme in die Bundeswehr. Die Bundeswehr beschäftigt nach eigenen Angaben in diesem Jahr 304 Soldatinnen und Soldaten unter 18 Jahren in den Streitkräften. Andererseits kritisiert die Bundesregierung den Einsatz von Kindersoldaten in Asien, Afrika und Lateinamerika. »Der Protest wäre glaubwürdiger, wenn sich die Bundesregierung für einen klaren Standard, also keine Aufnahme von unter 18-Jährigen in die Bundeswehr (»straight 18«) entscheiden würde«, erläuterte Barbara Dünnweller von der Kindernothilfe. »Wir fordern daher von der Bundesregierung eine Änderung der Rechtslage.«

Der heute vorgestellte »Schattenbericht Kindersoldaten« wurde vom Rechtswissenschaftler Dr. jur. Hendrik Cremer im Auftrag von Kindernothilfe und terre des hommes verfasst. Beide Organisationen gehören der Deutschen Koordination Kindersoldaten an, einem Bündnis von zehn Nichtregierungsorganisationen, die Mitherausgeber des Schattenberichts ist. Der »Schattenbericht« kommentiert den offiziellen deutschen Bericht an die Vereinten Nationen, in dem die Bundesregierung darlegt, auf welche Weise sie den Bestimmungen der UN-Kinderrechtskonvention nachkommt, die Kinder vor dem Missbrauch als Soldaten zu schützen. Er ist Bestandteil des Staatenberichtsverfahrens an die Vereinten Nationen, des bislang einzigen Kontrollinstruments zur Einhaltung der Kinderrechtskonvention.

terre des hommes und Kindernothilfe engagieren sich mit Projekten vor Ort und mit Lobbyarbeit gegen den Einsatz von Minderjährigen in bewaffneten Konflikten. Weltweit leben schätzungsweise 250.000 bis 300.000 Mädchen und Jungen als Kindersoldaten, allein 120.000 von ihnen in Afrika. Sie müssen kämpfen, Boten- und Kochdienste verrichten, schwere Lasten tragen und werden sexuell missbraucht, gefoltert und ermordet.


"Schattenbericht" Kindersoldaten

Pressekonferenz am 7. Dezember 2007

Statement Ralf Willinger, Referent für Kinderrechte, Schwerpunkt Kinder in gewaltsamen Konflikten, terre des hommes Deutschland e.V.

Deutschland verletzt die Menschenrechte - der Umgang mit ehemaligen Kindersoldaten in Deutschland ist unmenschlich und völkerrechtswidrig

In Deutschland leben mindestens 500 ehemalige Kindersoldaten, die noch als Minderjährige nach Deutschland geflüchtet sind. Nach dem Zusatzprotokoll zur UN-Kinderrechtskonvention, das Deutschland 2004 ratifiziert hat, verpflichten sich die Staaten, ehemaligen Kindersoldaten »jede geeignete Unterstützung zu ihrer physischen und psychischen Genesung und ihrer sozialen Wiedereingliederung« zu gewähren (Artikel 6). Der UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes, der die Einhaltung der Verpflichtungen in diesem Protokoll überprüft, hat mehrfach ausdrücklich darauf hingewiesen, dass dies auch den Schutz und die Aufnahme von Flüchtlingen beinhalte.

Realität ist: Der Umgang der deutschen Behörden mit geflüchteten Kindersoldaten ist beschämend. Dies gilt selbst dann, wenn die Kinder schlimmste körperliche und seelische Verletzungen erlitten haben, bei der Rückkehr in ihr Land verfolgt würden und unter Lebensgefahr stünden. Sie werden in Deutschland bis auf wenige Ausnahmen nicht als Flüchtlinge anerkannt, sondern erhalten eine Duldung, also eine ausgesetzte Abschiebung. Es ist der schwächste Aufenthaltsstatus, eine geduldete Person wird nur deshalb nicht abgeschoben, weil dies aus legalen oder faktischen Gründen nicht möglich ist. Sie bleibt ausreisepflichtig, sie muss das Land verlassen, sobald dies möglich ist. Lediglich die zwangsweise Durchsetzung dieser Ausreisepflicht - die Abschiebung - hat zu unterbleiben. Diese Duldung muss nach wenigen Wochen oder Monaten verlängert werden.

Für ehemalige Kindersoldaten ist dieser Status besonders fatal: Sie leben mit der ständigen Angst, abgeschoben zu werden. Eine Rückkehr in ihre Heimat wäre für die meisten von ihnen lebensgefährlich: Als Deserteure oder ehemalige Angehörige von Rebellenarmeen würden sie in ihrem Heimatland verfolgt, übliche Strafen sind Folter und Todesstrafe.

Kinder und Jugendliche, die oft jahrelang mit diesem Status leben, werden durch diese permanente Angst retraumatisiert: Sie kommen nicht zur Ruhe, können ihre schlimmen Kriegserlebnisse nicht verarbeiten und abschließen. Zudem erhalten sie nur in wenigen Fällen eine psychotherapeutische Behandlung. Sie haben weder das Recht auf Ausbildung noch dürfen sie bezahlte Arbeit annehmen, ihre medizinische Versorgung ist ebenso eingeschränkt wie ihre Bewegungsfreiheit, denn sie dürfen den Bezirk in dem sie gemeldet sind nicht verlassen. terre des hommes hat gemeinsam mit dem Bundesfachverband Unbegleitete Minderjährige in der Studie »Ehemalige Kindersoldaten in Deutschland« mehrere solcher Fälle dokumentiert. Aus unserer Praxis wissen wir: Eine physische und psychische Genesung der Kinder ist unter den beschriebenen Umständen nicht möglich, erst recht keine soziale Integration. Zudem werden in Deutschland immer wieder auch Kinder und Jugendliche in Abschiebehaft genommen und abgeschoben, auch Minderjährige aus Bürgerkriegsländern wie dem Irak oder Afghanistan. Die Wahrscheinlichkeit, dass darunter ehemalige Kindersoldaten sind, ist hoch. Offizielle Statistiken werden dazu nicht geführt, viele Abschiebungen finden heimlich statt, ohne dass Jugendämter oder soziale Organisationen davon erfahren – auch dies eine eklatante Verletzung der Kinder- und Menschenrechte.

Es gibt weitere ernstzunehmende Verletzungen der Rechte ehemaliger Kindersoldaten:
  • Wie beim Umgang mit minderjährigen Flüchtlingen generell sind auch gegenüber ehemaligen Kindersoldaten willkürliche Altersfeststellungen durch die sogenannte „Inaugenscheinnahme“ bei den Behörden ein großes Problem. Meist werden die Kinder so älter gemacht, als sie selbst es angeben. Es sind Fälle dokumentiert, bei denen nach der Altersfeststellung durch die Behörden Papiere auftauchten, denen zufolge die Kinder nachweislich jünger waren. Auch das zwangsweise Röntgen der Minderjährigen zur Altersfeststellung kritisieren wir: Zum einen ist es ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit der Kinder, zum anderen wird die Zuverlässigkeit dieser Methode von den meisten Wissenschaftlern angezweifelt. Sinnvoll wäre unserer Meinung nach die Altersfeststellung durch speziell geschulte, neutrale, nicht dem Staat unterstellte Fachleute. Ein wesentliches Kriterium sollte dabei die Reife der jeweiligen Person sein – dies empfiehlt auch der UNHCR in seinen Leitlinien zum Umgang mit unbegleiteten Flüchtlingskindern.
  • Über-15-jährige werden nach dem Asylverfahrensgesetz in vielen Bundesländern weiter wie Erwachsene behandelt. Sie sind damit von den Leistungen Kinder- und Jugendhilfe, die ihnen zustehen, ausgeschlossen, müssen sich im Asylverfahren alleine, ohne Vormund, verantworten und werden in Erwachsenenunterkünften untergebracht. Dort ist ihre Sicherheit nicht garantiert, besonders Mädchen waren in der Vergangenheit mehrfach sexuellen Übergriffen ausgesetzt. Wir fordern, dass diese Gleichsetzung von Minderjährigen mit Erwachsenen aufhört und dass allen Minderjährigen - gerade auch im Asylverfahren - die vollen Kinderrechte zugestanden werden, wie sie in der Kinderrechtskonvention der UN verankert sind. Ehemalige Kindersoldaten sollten in jedem Fall und ohne aufwendiges, langwieriges Verfahren als politisch verfolgte Flüchtlinge anerkannt werden. Sie müssen die Möglichkeit bekommen, ohne lange Wartezeiten in psychotherapeutische Behandlung zu gehen.
  • Damit in Zusammenhang steht unsere Forderung nach Rücknahme des deutschen Vorbehalts zur Kinderrechtskonvention, der die Grundlage für viele Kinderrechtsverletzungen ist: Dieser Vorbehalt hat zur Folge, dass Flüchtlingskinder in Deutschland schlechter gestellt sind als Kinder mit deutschem Pass. Das Ausländerrecht hat in Deutschland derzeit Vorrang vor dem Kinderrecht: Zuerst ist man Ausländer, dann Kind – das muss geändert werden.
Fazit:

Deutschland kommt seinen völkerrechtlichen Verpflichtungen gegenüber geflüchteten ehemaligen Kindersoldaten also nicht nach und verzichtet wohl aus diesem Grund im Regierungsbericht zum Zusatzprotokoll auf jegliche Bemerkungen zu den Schutzverpflichtungen gemäß Artikel 6 des erwähnten Zusatzprotokolls. Auf die daraus resultierende schriftliche Nachfrage des UN-Ausschusses für die Rechte des Kindes, wie Deutschland ehemaligen Kindersoldaten Schutz gewähre, antwortete die Bundesregierung vor wenigen Tagen nur mit der Behauptung, diese Pflicht sei nicht im Zusatzprotokoll verankert, sie würde nur für Länder gelten, in denen es Kindersoldaten gäbe – eine Ansicht, die von Völkerrechtlern und dem UNAusschuss (der ja das offizielle UN-Mandat zur Kontrolle der Umsetzung des Zusatzprotokolls hat), eindeutig nicht geteilt wird. Es verwundert nicht, dass Deutschland auch international mehrfach für seine Flüchtlingspolitik und speziell für den Umgang mit Minderjährigen kritisiert worden ist, so erst kürzlich von der EU-Kommission. Dabei wurde deutlich, dass die deutsche Flüchtlingspolitik nicht nur das Völkerrecht verletzt, sondern auch die geltende EU-Richtlinie zur Aufnahme von Asylsuchenden. Unter anderem wurde der ungenügende Schutz für Kinder und Gewaltopfer hervorgehoben – eine Kritik, die die Aussagen in diesem Schattenbericht voll bestätigt.

Die Bundesregierung ist in der Pflicht, sich für den Schutz und das Wohl ehemaliger Kindersoldaten einzusetzen. Dies könnte zugleich ein erster Schritt hin zu einer liberaleren und menschlicheren Politik gegenüber minderjährigen Flüchtlingen generell sein.

Neben den zentralen Themen «Umgang mit nach Deutschland geflüchteten ehemaligen Kindersoldaten« und »Freiwillige Minderjährige in der Bundeswehr« kritisiert der Schattenbericht auch weitere Bereiche, in denen das Zusatzprotokoll zur Kinderrechtskonvention von Deutschland nur unzureichend umgesetzt wird. Dies sind die Bereiche »Strategien und Verhalten der Bundeswehr gegenüber Kindersoldaten bei Auslandseinsätzen«, deutsches Völkerstrafgesetzbuch (Strafverfolgung von Verantwortlichen, die Kinder rekrutiert haben), Internationale Zusammenarbeit (von Deutschland geförderte Projekte zum Thema Kindersoldaten) sowie Beziehungen (politische und wirtschaftliche) zu Staaten, die für die Rekrutierung von Minderjährigen verantwortlich sind. Auch zu diesen Bereichen stehen wir Ihnen gerne für Fragen zur Verfügung.

Hier geht es zum Bericht:
www.tdh.de (externer Link)



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