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Wissenschaftler für den Atomausstieg

Professoren und Dozenten übergaben Memorandum an Politik und Ethikkommission

Von Katja Herzberg *

1205 Wissenschaftler aus ganz Deutschland fordern den schnellstmöglichen Ausstieg aus der Atomenergie. Gestern überreichten sie den politisch Verantwortlichen ihre Unterschriften.

Seit Jahrzehnten fordern Wissenschaftler das Ende der Atomenergie. Doch erst jetzt, nach dem zweiten GAU in Japan, finden kritische Wissenschaftler Gehör in der breiten Öffentlichkeit. Um noch mehr Aufmerksamkeit für ihre Expertise und Erfahrung zu bekommen und den Atomausstieg voranzutreiben, überreichten die Autoren des Memorandums »Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beziehen Stellung zur Kernenergie« gestern ihre Unterschriftensammlung beim Kanzleramt und versendeten sie an die Bundesminister und die Bundestagsabgeordneten. Darin warnen sie, dass die Menschen die Atomtechnologie nicht vollständig beherrschen können. Deshalb müsse Deutschland »schnellstmöglich« aus der Atomenergie aussteigen. Davon würde auch die deutsche Wirtschaft als Vorreiter für Erneuerbaren Energien profitieren.

Wolf Schluchter, Professor für sozialwissenschaftliche Umweltfragen an der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus (BTU), ist einer der 15 Erstunterzeichner des Memorandums. Zwei Wochen lang waren Wissenschaftler aller Disziplinen in Deutschland aufgerufen, den Appell im Internet zu unterzeichnen. »Es war ein Selbstläufer«, sagte Schluchter am Mittwoch bei einer Pressekonferenz in Berlin. Denn insgesamt unterstützen 1205 Wissenschaftler die Forderung nach einem baldigen Atomausstieg. Davon sind 872 Professoren. »Wir können diese Frage nicht mehr nur den Energiekonzernen und der Regierung überlassen«, erklärte Schluchter seine Motivation.

Der Energieexperte Lutz Mez vom Otto-Suhr-Institut an der Freien Universität Berlin kritisierte die Laufzeitverlängerung für die Atomkraftwerke aus dem vergangenen Herbst. »Es ist besonders ärgerlich, dass in der Politik offenbar mehr auf betriebswirtschaftliche Forderungen gehört wird als auf volkswirtschaftliche Erkenntnisse«, argumentierte Mez. Denn bei Einbeziehung insbesondere der staatlichen Subventionen sei die Atomkraft mit Abstand der teuerste Energieträger, wie jüngst eine Studie des Forums Ökologisch-Soziale Marktwirtschaft ergab. Auch der anwesende Wirtschaftskriminologe Hans See äußerte seine Bedenken gegenüber der Atomtechnologie: »Das ist im Grunde unbezahlbar.« Er kritisierte auch die zunehmende Abhängigkeit der Wissenschaft von der Politik und der Wirtschaft.

Für Eike Albrecht, Umweltrechtler an der BTU Cottbus, stellte den politischen Charakter der Frage nach dem Atomausstieg ins Zentrum. Für ihn sei nicht nachvollziehbar, warum die Bundesregierung vom Atomkompromiss wieder abgerückt ist. »Es ist kein Zustand, dass wir den nachfolgenden Generationen einen Berg an ungelösten Problemen hinterlassen«, äußerte Albrecht seine Bedenken.

Mit ihrem Memorandum wollen die Wissenschaftler vor allem gehört werden. »Wir sind die Wächter des Gemeinwohls«, sagte Mez. Im Gegensatz zu ihren Kollegen in der Ethikkommission seien sie nicht berufen. Dennoch wollen sich die Professoren beteiligen und Einfluss auf die kommenden Entscheidungen der Bundesregierung nehmen – eben nicht in einer »Alibi-Kommission«, so Schluchter. »Im Zweifelsfall«, ergänzte er, »werden wir wieder ein Memorandum verfassen«.

* Aus: Neues Deutschland, 21. April 2011

Das Memorandum im Wortlaut

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beziehen Stellung zur Kernenergie. Unterstützen Sie diese Erklärung von PrivatdozentInnen und ProfessorInnen:

Unser Mitgefühl gilt den Opfern der Katastrophe in Japan, den Hinterbliebenen, den Verletzten, den Verstrahlten, den Vertriebenen, den Heimatlosen. Über sie sind gleich zwei Katastrophen hereingebrochen: eine natürliche, der Tsunami und das Erdbeben, und eine kulturelle, der atomare Unfall.

Es erweist sich, dass Menschen nur Teil der Natur sind, nicht die Naturbeherrscher. Es zeigt sich auch, dass die Menschen hochkomplexe und vielfältige Technologien entwickeln können, sie dann aber im Zweifelsfall nicht vollständig beherrschen.
  • Die katastrophalen Vorgänge um die japanischen Kernkraftwerke Fukushima machen deutlich, dass es beim Betrieb von Kernkraftwerken so etwas wie ein akzeptables Restrisiko nicht gibt. Auch wenn in Westeuropa Erdbeben in solcher Stärke, wie sie die Havarien in Fukushima auslösten, eher unwahrscheinlich sind, können die gleichen technischen Auslegungen zu den gleichen Katastrophen führen. Denn auch in Deutschland gab es Situationen, in denen Notkühlsysteme nicht sicher funktionierten.
  • Es ist bei deutschen Kernkraftwerken nicht ausgeschlossen, dass sie einem Flugzeugabsturz oder Terrorangriffen ausgesetzt sind. Die Auswirkungen solcher Vorfälle sind nicht kalkulierbar und nicht sicher beherrschbar.
  • Technische Defekte sind bei großen Industrieanlagen umso weniger auszuschließen, je komplexer sie sind. Die Kernkraftwerke gehören zu den komplexesten Industrieanlagen überhaupt. Die japanische Industriekultur ist mindestens so hochentwickelt wie die der Bundesrepublik Deutschland. Dass die Kernenergietechnik in der Bundesrepublik besser beherrschbar sei, ist eine Schutzbehauptung, die immer wieder von interessierter Seite wiederholt, aber deshalb nicht stimmiger wird. Das gleiche gilt auch für andere Länder mit Kernkraftwerken. Die lange Serie von Beinahe-Unfällen zuletzt in Krümmel, Tricastin oder Forsmark spricht für sich.
  • Bei Unfällen in kerntechnischen Anlagen, insbesondere bei einem Super-GAU mit Kernschmelze treten überall die gleichen Effekte auf wie in Japan. Die Umgebung wird radioaktiv verseucht, eine ungewisse Zahl toter und kranker Menschen sowie ungeheure materielle Schäden sind die Folge.
  • Die kaum seriös abschätzbaren Kosten einer Kernkraftwerkshavarie können eine Volkswirtschaft schwer schädigen, insbesondere dann, wenn ein Land so dicht besiedelt ist wie Deutschland. Dabei sind nichtmonetarisierbare Kosten wie Tod, Leid, Trauer, Krankheit und – wie Tchernobyl gezeigt hat – eine Demoralisierung der Gesellschaft noch gar nicht berücksichtigt. Solche Ereignisse können Gesellschaften zerstören und machen zivilgesellschaftliche und demokratische Errungenschaften zunichte.
Als Teil der Öffentlichkeit, als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler fordern wir einen schnellen Ausstieg aus der Kernenergie und vermehrte Anstrengungen, das Problem der Entsorgung zu lösen. Nach der nun zweiten epochalen Katastrophe innerhalb eines Vierteljahrhunderts und angesichts des wachsenden Entsorgungsproblems ist die Kernenergie mit gesamtgesellschaftlich-verantwortbaren Argumenten nicht mehr zu rechtfertigen.

Ein schnelles Ende der Kernspaltungstechnologie bedeutet für die Bundesrepublik Deutschland im Vergleich zu anderen europäischen Nationen eine überschaubare Aufgabe, obwohl der allgemein geforderte Umstieg auf erneuerbare Energien nicht leicht ist. Er ist aber schneller machbar, als es von interessierter Seite immer wieder behauptet wird. So hat allein Portugal innerhalb von fünf Jahren einen erneuerbaren Anteil von 45% an der Stromproduktion erreicht.

Nirgendwo ist der Ausstieg aus der Kernenergie soweit vorbereitet wie bei uns. Es kommt uns daher zu, praktische Lösungen für eine moderne, zukunftsfähige Energieversorgung zu entwickeln. Der Wissenschafts- und Technologiestandort Deutschland würde damit wieder an der Weltspitze stehen. Als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind wir bereit, unseren Beitrag zu leisten um diese Aufgaben erfolgreich zu bewältigen.

Der Betrieb der Kernkraftwerke ist schnellstmöglich einzustellen und ordnungsgemäß und sicher zu beenden. Das Szenario hierfür muss politisch neu verhandelt werden. Das alte Szenario mit den rechtlich immer noch umstrittenen, aber als faktisch dargestellten Laufzeitverlängerungen ist nach den japanischen Ereignissen nicht mehr hinnehmbar. Wir fordern die Regierung und die Volksvertreterinnen und Volksvertreter auf, umgehend langfristig belastbare Entscheidungen für das schnelle Ende der Kernenergie zu treffen. Gegenüber partikulären, überwiegend wirtschaftlichen Interessen muss der Schutz der Bürgerinnen und Bürger absolute Priorität für staatliches Handeln haben.

Am 5. April wurde das Memorandum im Internet veröffentlicht und bis zum 19. April in wissenschaftlichen Kreisen über E-Mails und Mailinglisten verbreitet. Bis dahin konnte das Memorandum von deutschen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in einem online-Formular unterzeichnet werden. Fünfzehn Erstunterzeichner der BTU Cottbus hatten zuvor über den Entwurf beraten und eine Endfassung erstellt. Das Memorandum wurde innerhalb der Laufzeit von zwei Wochen von 1205 WissenschaftlerInnen aller Disziplinen unterzeichnet, davon 872 ProfessorInnen.

Die Liste aller Unterzeichner/innen kann hier angesehen werden:
www.wissenschaft-fuer-atomausstieg.de [externer Link]





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