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Ausstieg mit "Kaltreserve"

Kanzlerin und Länderchefs einig: Für jeden Atommeiler eigenes Abschaltdatum

Von Ina Beyer *

Nach dem Treffen der Ministerpräsidenten der Länder mit Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) am Freitag (3. Juni) in Berlin sehen die Energiewendepläne der Bundesregierung nun leicht verändert aus: Statt Abschaltdatum 2021/2022 wird es einen stufenweisen Atomausstieg mit konkreten Jahreszahlen geben. Ein Altmeiler soll dagegen als »Kaltreserve« für eventuelle künftige Stromengpässe beibehalten werden – die Länderchefs hatten sich bei dem Treffen dagegen ausgesprochen.

Die 17 Atomkraftwerke (AKW) in Deutschland werden stufenweise bis 2022 abgeschaltet. Jedem AKW soll dabei ein Ausstiegsdatum zugeordnet werden, damit es keinerlei Ausweichmöglichkeiten mehr geben kann. Das kündigte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) nach dem Gespräch mit den Ministerpräsidenten in Berlin an. Die derzeit abgeschalteten sieben ältesten Meiler und der Pannenreaktor Krümmel gehen demnach ohnehin nicht mehr ans Netz. In den Jahren 2015, 2017 und 2019 solle dann jeweils eines der neun verbleibenden AKW vom Netz gehen, nannte die Kanzlerin konkrete Daten. 2021 und 2022 werden jeweils drei AKW – die neuesten zum Schluss – abgeschaltet. Ein genauer Stufenplan für die Abschaltung der einzelnen AKW solle am Montag (6. Juni) vorgestellt werden. »Wir sind noch in den letzten Rechnungen«, sagte die Kanzlerin.

Mit dieser Planänderung kam Merkel den Vorstellungen der Ministerpräsidenten entgegen, die einen entsprechenden Stufenplan gefordert hatten. Die schwarz-gelbe Koalition hatte sich ursprünglich auf das Zieldatum 2022 für die Stilllegung der letzten Meiler verständigt, aber noch keinen Beschluss über den zeitlichen Verlauf der einzelnen Abschaltungen aufgestellt. »Wir wollen die Stufung so sichtbar wie möglich machen, weil das sicherlich auch das Vertrauen in den Ausstieg deutlich macht«, so Merkel zum gefundenen Kompromiss.

Nordrhein-Westfalens Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) sagte: »Nach dem Gespräch heute mit der Bundesregierung sage ich, dass die Möglichkeit besteht zu einem breiten parteipolitischen Konsens für das, was Rot-Grün schon einmal vereinbart hatte.« Die SPD-Länder seien zu einem echten Energiekonsens bereit.

Dagegen befürchten Umweltverbände, dass mit den bisherigen Gesetzesplänen der Regierung die verbleibenden neun AKW doch erst Ende 2021/2022 abgeschaltet werden. Beim evangelischen Kirchentag in Dresden haben zudem rund 1000 Gläubige am Freitag eine Resolution unterzeichnet, in der sie ein Ende der Kernkraft bis 2017 fordern.

Weniger Entgegenkommen signalisierte die Kanzlerin den Länderchefs indes in der umstrittenen Frage der »Kaltreserve«. Die Ministerpräsidenten hatten sich gegen die Pläne der Bundesregierung ausgesprochen, einen der Altmeiler für eventuelle Stromengpässe vorzuhalten. Stattdessen hatten sie gefordert, die Versorgung mit Energie aus Gas und Braunkohle auszubauen.

Die Kaltreserve soll nun aber bleiben. Allerdings sagte Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU), Merkel habe ausdrücklich erklärt, wenn es technisch möglich sei, solle diese Kaltreserve konventionell über Kohle oder Gas sichergestellt werden.

Einig waren sich Bund und Länder am Freitag bei der künftigen Förderung von Windstrom. Demnach soll es die von der Regierung geplante Kürzung für Windkraft an Land nicht geben. Die Länder hatten eine zu starke Konzentration auf Windparks in Nord- und Ostsee kritisiert. Hier soll die Förderung wie gehabt um zwei auf mindestens 15 Cent pro Kilowattstunde Strom steigen.

Merkel betonte, dass sie beim Atomausstieg den Schulterschluss mit den Bundesländern suche. »Wir wollen nicht gegen die versammelte Meinung der Länder agieren«, sagte sie nach dem Treffen. Nach ihren Worten soll eine Arbeitsgruppe von Bund und Ländern klären, wie die Kompetenzen beim Ausbau der Stromnetze verteilt werden sollen. Hier fordern die Länder insbesondere die Kompetenz für die Planfeststellung.

Der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Fraktion, Thomas Oppermann, forderte, den Atomausstieg bis 2022 im Grundgesetz zu verankern, damit es für alle Planungssicherheit gibt und der Ausstieg nicht wieder rückgängig gemacht werden kann. »Dann würde der Energiekonsens zu einem echten Gesellschaftsvertrag, der nicht mehr einseitig gekündigt werden könnte«, sagte er der »Berliner Zeitung«. Ähnlich äußerte sich auch Thüringens Wirtschaftsminister Matthias Machnig (SPD).

Einen entsprechenden Gesetzentwurf hatte zuvor schon DIE LINKE vorgelegt. Die LINKE-Vorsitzende Gesine Lötzsch begrüßte daher am Freitag (2. Juni) das Verhalten der SPD. Sie freue sich, dass Oppermann mit seinen jüngsten Äußerungen dem Gesetzesentwurf ihrer Fraktion im Grunde zustimme und den Atomausstieg »wasserdicht« im Grundgesetz verankern will, sagte Lötzsch. »Nur so wird den Stromkonzernen der Boden für Klagen entzogen und der Ausstieg aus der Kernenergie unumkehrbar.«

* Aus: Neues Deutschland, 4. Juni 2011


Trittbrettfahrer

Von Velten Schäfer **

Wie unumkehrbar ist der Atomausstieg? Nachdem sich der Rauch der Kanzlerinnen-Erklärung vom Montag verzogen hat, nehmen nun die Zweifel wieder zu. Der schwarz-gelbe Ausstieg wird zwar zeitnah die ältesten Meiler abschalten, danach aber wird für ein Jahrzehnt erst einmal gar nichts passieren, bevor dann – 2021 und 2022 – der Rest stillgelegt werden soll. Nur: Wie verlässlich ist das in zehn Jahren? Es ist durchaus vorstellbar, dass sich eine Bundesregierung dann wieder unter Druck setzen lassen und eine neue »Debatte« eröffnen könnte.

Natürlich gibt es viele Beteuerungen, dass der »Atomkonsens«, den Angela Merkel jetzt schließen will, diesmal wirklich endgültig ist. Allerdings hatte die Union, die sich nun auch in dieser Frage als Kraft der Vernunft und Verlässlichkeit in Szene zu setzen sucht, auch dem rot-grünen Ausstieg seinerzeit zugestimmt und sein Ergebnis als Konsens, als überparteiliche Agenda beschrieben – nur um bei der buchstäblich ersten sich bietenden Gelegenheit aus der vermeintlichen Übereinkunft auszusteigen und plötzlich das Gegenteil zu behaupten.

Deswegen tun Spitzen-SPDler wie der parlamentarische Geschäftsführer Thomas Oppermann und der Thüringer Wirtschaftsminister Matthias Machnig nun gut daran, Gesine Lötzschs bereits älteren Vorschlag vom Ausschluss der Kernenergie im Grundgesetz aufzugreifen. Auch wenn sie das wie üblich ohne Erwähnung der Urheberschaft tun und man nicht lange warten müssen wird, bis aus diesen Kreisen in gewohnter Weise auf die vermeintlichen atompolitischen Trittbrettfahrer von der Linkspartei eingeprügelt werden wird.

** Aus: Neues Deutschland, 4. Juni 2011 (Kommentar)


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