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Die Atomkraft ist angeschlagen

Trend zum Ausstieg von Sardinien bis Indonesien / Frankreich und Russland als Dinosaurier

Von Elke Bunge und Wolf H. Wagner *

Nach dem GAU in Japan ist die Welt der Atomkraftlobby nicht mehr die gleiche. Während die Schweiz den Atomausstieg beschließt und Deutschland diesen vorzieht, stehen anderswo die Zeichen zumindest auf Abwarten.

Die Argumente pro Kernenergie sind durch Studien aus zahlreichen Ländern längst widerlegt. Demnach ist ein Umstieg auf alternative Energien möglich, ohne dass die Stromversorgung darunter zu leiden hätte. Auch das Kostenargument zieht nicht mehr: Für die Schweiz würde der Ausstieg aus dem Atomstrom nur eine minimale Kostenerhöhung um 0,1 Eurocent je Kilowattstunde bedeuten. Dagegen verschlingen die Überwachung und der Einbau neuer Sicherheitsanlagen in Frankreich das 3,5-Fache dessen, was der Bau der Reaktoren vor zehn Jahren gekostet hat. Und während der japanische AKW-Betreiber Tepco beim Erdbeben von 2007 einen Schaden von 20 Milliarden Dollar zu beheben hatte, belaufen sich die Kosten 2011 auf mehr als 100 Milliarden.

Und nach der Katastrophe von Fukushima ist die Atomkraft in vielen europäischen Ländern angezählt. So war das Referendum über die Zukunft der Kernenergie auf Sardinien eine neue Schlappe für Italiens Ministerpräsident Silvio Berlusconi. 97 Prozent der Befragten sprachen sich gegen den Neubau von AKW sowie gegen die Errichtung von Atommüll-Lagerstätten auf der Insel aus. Am 12. Juni sollte ein landesweites Referendum zu den Regierungsplänen folgen, wieder in die Atomkraft einzusteigen. Doch da eine deutliche Niederlage absehbar ist, legte der Premier die Pläne auf Eis. Die Wissenschaft solle alle Seiten des Projektes, vor allem die der Sicherheit, nochmals prüfen. Frühestens in zwei Jahren, so Berlusconi, solle dann erneut entschieden werden.

Ein Trend, dem sich auch andere europäische Staaten anschließen. Die deutsche Bundesregierung plant einen Ausstieg nun bis 2022. Die Schweiz beschloss in der vergangenen Woche ein Ende der Atommeiler gegen 2034. Belgien will 2015 mit dem Abschalten von Kernkraftwerken beginnen. Österreich, Luxemburg und Dänemark setzen ohnehin längst auf andere Energiequellen. Dagegen hat Polen angekündigt, ein Kernkraftwerk nahe Gdansk an der Ostseeküste errichten zu wollen. Und auch in Tschechien will die Regierung an der Atomenergiepolitik festhalten. Gegenwärtig werden sechs Kernkraftwerke betrieben, der heftig umstrittene Standort Temelin nahe der österreichischen Grenze soll zwei weitere Reaktoren erhalten. Allerdings wächst angesichts der japanischen Katastrophe auch der Widerstand an der Moldau.

In Westeuropa hält allein Frankreich – aus seinen 58 Kernkraftwerken bezieht das Land 80 Prozent seines Stroms – uneingeschränkt an der Atompolitik fest. Eine Anti-AKW-Bewegung will sich auch nach Fukushima nur langsam entwickeln. Beim G8-Treffen im französischen Deauville bestätigte Staatspräsident Nicolas Sarkozy erneut, dass seine Regierung die Gewinnung von Energie aus Kernkraft als zukunftsträchtig und sicher ansieht.

Als »unverzichtbar für den Fortschritt« bezeichneten auch die Vertreter Russlands, der Ukraine und von Belarus auf der Sicherheitskonferenz zum 25. Jahrestag des Tschernobylunglücks in Kiew die Nutzung der Atomenergie. Man habe deutliche Fortschritte bei der Sicherheit der Reaktoren gemacht – russische Anlagen würden Erdbeben von der Stärke bis 9 sowie Tsunamis bis zu einer Höhe von 14 Metern standhalten. Der Vertreter Litauens verließ die Konferenz aus Protest gegen die geplanten neuen Kraftwerke in Belarus und um Kaliningrad.

Doch die größten Problemfelder liegen außerhalb Europas – in den rasant wachsenden Industrien der großen Schwellenländer. Gegenwärtig liegen 40 Prozent aller in Bau befindlichen Kernkraftwerke in China. Allerdings ist das Reich der Mitte gleichzeitig Vorreiter bei den erneuerbaren Energien – von 2009 auf 2010 stiegen die Investitionen von 39,1 auf 54,4 Milliarden Dollar. Und der Vergleich zwischen Nuklear- und Windenergie zeigt folgendes Bild: Während im vergangenen Jahr etwa 1000 Megawatt aus Kernenergie gewonnen werden, liegt die Ausbeute aus Windanlagen um 4500 Megawatt. Bis zum Jahre 2020 soll sich das Verhältnis auf 8000 MW (Nuklear) zu 200 000 MW (Wind) entwickeln. Fukushima könnte nach Äußerungen des Direktors der Nationalen Entwicklungs- und Reformkommission, Xie Zhenhua, einen »deutlichen Einfluss auf die künftige Energiepolitik des Landes« haben.

Ein Überdenken bisheriger Pläne findet auch in Indonesien statt. Und aus Indien verlautet vom Chef des staatlichen AKW-Betreibers Nuclear Power Corp. of India, Shreyans Kunar Jain, Fukushima habe dem Atomprogramm einen »deutlichen Dämpfer« versetzt. In Japan selbst sollen 14 von 54 Reaktoren nach dem Unglück dauerhaft vom Netz bleiben. Und aus südkoreanischen Regierungskreisen verlautete, man »überdenke« den Bau von Kernkraftwerken in den Vereinigten Emiraten. Zunächst solle eine genaue Sicherheitsanalyse durchgeführt werden. 300 Kilometer westlich von Abu Dhabi wurde aber bereits der Grundstein für einen neuen Reaktor gelegt.

Auch in Brasilien ist die Welt nicht mehr so wie vor dem GAU in Japan. Zwar verkündete Energieminister Edison Lobao zunächst, Fukushima ändere »nichts an den Plänen des Landes, Kernreaktoren auszubauen«. Doch wenige Wochen danach lenkte Umweltminister Aloizo Mercandante ein: Für Brasilien gebe es »keine Eile, die Kernkraftwerke auszubauen. Die Sicherheit geht vor alle Projekte«.

* Aus: Neues Deutschland, 1. Juni 2011


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