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Ruf nach Atomausstieg wird lauter

Bundestag diskutiert erneut am Freitag / Japan erwartet »langen Kampf« gegen Radioaktivität *

Der Bundestag wird in dieser Woche Anträge der Grünen und der Linksfraktion zum Atomausstieg beraten. In Fukushima gibt es neue Rückschläge: Die Abdichtung eines Lecks, aus dem radioaktiv verseuchtes Wasser ins Meer strömt, ist gescheitert.

Der Druck auf die Bundesregierung, es nicht bei einem Moratorium für die ältesten AKW zu belassen, nimmt weiter zu. Dafür sorgten neue Proteste der Anti-Atombewegung, die am Wochenende u. a. in Gorleben, Essen, Bremen und Regensburg stattfanden. Dieser Druck führt inzwischen auch innerhalb der schwarz-gelben Koalition zu bislang ungeahnten Äußerungen. Bayerns Umweltminister Markus Söder (CSU) kündigte einen »Wettbewerb« mit dem künftig grün-rot regierten Baden-Württemberg an, wer als erstes den Atomausstieg schaffe. In den beiden Südländern stehen drei der vom Moratorium betroffenen und fünf der weiter im Betrieb befindlichen von insgesamt 17 Reaktoren in Deutschland.

CSU-Chef Seehofer warnte seine eigene Partei gar, von der »Wende in der Atompolitik« wieder abzurücken. Solange Bundeskanzlerin Angela Merkel jedoch weiter nur von einem »breiten Dialog« spricht, bleibt Skepsis angesagt. Auch lassen die Energiekonzerne ihrerseits nicht davon ab, Gegendruck für eine fortdauernde Nutzung der Atomenergie zu entfalten. So kündigte RWE Widerstand gegen »unerfüllbare Sicherheitstests« an. Vor diesem Hintergrund wird der Bundestag am kommenden Freitag erneut über Anträge der Grünen und der Linkspartei nach einem beschleunigten bzw. schnellstmöglichen Atomausstieg und einer tatsächlichen Energiewende debattieren. Die SPD bleibt derweil zögerlicher: Brandenburgs Ministerpräsident Matthias Platzeck sprach sich für einen Ausstieg bis 2020 aus, was nur geringfügig vom vormaligen rot-grünen »Atomkompromiss« abweicht.

Rätselraten löste am Wochenende eine Atompanne im 1988 stillgelegten nordrhein-westfälischen Forschungsreaktor in Jülich aus. Nach Auskunft der Landesregierung wurden Teile der dortigen Brennelemente vermutlich im Bergwerk Asse eingelagert. Dies ist jedoch nur für schwach- bis mittelradioaktiven Atommüll ausgewiesen, nicht für abgebrannte Kernelemente. Die Grünen, auf deren Anfrage hin dies bekannt wurde, vermuten, dass die Brennelemente »illegal und falsch deklariert in der Asse entsorgt worden« seien.

Die strahlende Atomruine Fukushima wird derweil zum Dauerproblem. Der japanische Regierungssprecher Yukio Edano kündigte am Sonntag an, Japan könne einen »langen Kampf« gegen die Atomkrise nicht vermeiden. Es werde möglicherweise mehrere Monate dauern, bis die Lecks an den zerstörten Reaktoren gestopft seien. Versuche, ein Leck in einem Kabelschacht des Turbinengebäudes von Reaktor 2 mit Kunststoffen abzudichten, sind ebenso fehlgeschlagen wie vorhergehende Anstrengungen, den 20-Zentimeter-Riss mit Beton zu stopfen. Die Betreiberfirma Tepco hatte bestätigt, dass aus dem Leck Wasser mit einer Strahlung von mehr als 1000 Millisievert pro Stunde ins Meer laufe. Das entspricht dem Vierfachen der Schwellendosis für akute Strahlenschäden.

Auf dem AKW-Gelände von Fukushima wurden am Wochenende die Leichen zweier junger Arbeiter gefunden, die am Block 4 gearbeitet hatten und bereits beim Tsunami vor mehr als drei Wochen ums Leben kamen. Nach Angaben von Sonntagvormittag (Ortszeit) starben in Folge des Erdbebens und des Tsunamis insgesamt 12 009 Menschen, 15 472 werden noch vermisst.

* Aus: Neues Deutschland, 4. April 2011


Die banale Gefahr des Komplexen

Atomunfälle: In Fukushima war es eine Naturkatastrophe – davor jedoch Bedienungs-, Materialfehler und menschliches Versagen

Von Felix Werdermann **


Die Bundesregierung lässt untersuchen, ob die deutschen Reaktoren gegen Flugzeugabstürze oder Erdbeben geschützt sind. Andere Risiken werden dabei außer Acht gelassen. Dabei zeigen die schweren Katastrophen der Vergangenheit, dass gerade die unerwarteten Fehler im Kleinen gefährlich werden können – oder auch menschliches Versagen.

Es ist ein lauter, aufdringlicher Ton. Durchgehend, immer in der gleichen Höhe. Alarm im Atomkraftwerk Brokdorf. Der Schichtleiter Peter Rückert steht auf, vor einem Pult mit hunderten Knöpfen versammelt sich seine Mannschaft. Rückert fasst sich an sein Kinn, es herrscht Ratlosigkeit. Dann wird auf dem Schaltplan aus Papier nach einem Fehler gesucht. Irgendwann hört der Ton auf, niemand weiß wieso. Später geht das Geheule wieder los.

Zufällig ist während des Störfalls ein Fernsehteam vom NDR im Atomkraftwerk nahe Hamburg. Bis zum Ende der Dreharbeiten wurde die Ursache nicht geklärt. Kraftwerksbetreiber E on wollte die Ausstrahlung verhindern, doch der NDR brachte die Szene. Mittlerweile wurde sie im Internetportal Youtube über 40 000 Mal angesehen.

Die Situation in der Schaltzentrale zeigt: Der Betrieb eines Atomkraftwerks ist hochkomplex, zahlreiche Elemente sind aufeinander abgestimmt, jedes kann eine Fehlerquelle sein – von den Kühlpumpen über die Stromtransformatoren bis hin zu den Anzeigelämpchen in der Zentrale. Alleine im Atomkraftwerk Brokdorf gab es nach Angaben des Bundesamts für Strahlenschutzes über 200 so genannte »meldepflichtige Ereignisse«, also kleinere Unfälle.

Auch die großen Atomkatastrophen vor Fukushima wurden nicht durch Erdbeben, Tsunamis oder Flugzeugangriffe verursacht, sondern durch eine unglückliche Verkettung kleinerer Fehler – häufig gepaart mit menschlichem Versagen. In der Regel sind solche Ereignisabläufe vorher unvorstellbar gewesen, deswegen lassen sie sich auch für die Zukunft nicht ausschließen.

Beispiel Harrisburg: Im März 1979 ereignete sich in dem US-amerikanischen Kraftwerk Three Miles Island die bis dahin größte Atomkatastrophe. Dabei fielen zunächst die Pumpen des so genannten Sekundärkreislaufes aus. Dieser Wasserkreislauf sorgt dafür, dass Wärme aus dem Innern des Reaktors nach außen getragen wird und der Reaktor nicht überhitzt. Hilfsspeisepumpen sind eingesprungen, konnten aber auch kein Wasser befördern, weil mehrere Ventile geschlossen waren. Als kurze Zeit vorher das Notkühlsystem getestet wurde, hatte man versäumt, die Ventile wieder zu öffnen.

Weil der Kühlkreislauf ausfiel, wurde das Wasser im Primärkreislauf immer wärmer und der Druck erhöhte sich. Der Primärkreislauf dient vor allem dazu, die Turbinen anzutreiben, die den Strom erzeugen. Bei hohem Druck öffnet sich ein Sicherheitsventil für eine kurze Zeit, damit der Druck wieder abnimmt. Im März 1979 klemmte aber das Ventil und blieb dauerhaft offen. Der radioaktive Wasserdampf konnte so entweichen. Letztlich sammelte sich das Wasser an der tiefsten Stelle des Sicherheitsbehälters, wurde aber durch einen Schaltfehler in einen Sammeltank im Nebengebäude gepumpt und gelangte darüber gasförmig in die Umwelt. Weil zu wenig Wasser im Primärkreislauf war, kam es schließlich zur partiellen Kernschmelze.

Beispiel Tschernobyl: Die bislang größte Atomkatastrophe ereignete sich während eines Versuchs. Ein totaler Stromausfall sollte simuliert werden, deswegen waren Sicherheitssysteme abgeschaltet, die ansonsten eine Wiederholung des Versuchs verhindert hätten. Problematisch waren vor allem die so genannten Moderatoren aus Graphit, die eigentlich die Kernspaltung verlangsamen sollen, beim Einfahren zwischen die Brennstäbe aber das Gegenteil bewirkten. Das Personal hielt sich nicht immer an die Betriebsvorschriften. Inwieweit Fehlentscheidungen zur Katastrophe beigetragen haben, ist bis heute umstritten.

Beispiel Forsmark: Der Vorfall im schwedischen Atomkraftwerk sorgte im Juli 2006 für Aufmerksamkeit. Nach Expertenmeinungen ist der Reaktor nur wenige Minuten an einem Super-GAU vorbeigeschrammt. Während Reparaturarbeiten in der Netzschaltanlage, in die das Kraftwerk seinen Strom liefert, kam es zu einem Kurzschluss. Eigentlich hätte die Verbindung zum AKW innerhalb einer Zehntelsekunde getrennt werden sollen, es hat aber dreimal so lange gedauert. Der elektrische Impuls hat letztlich die Stromversorgung im Atomkraftwerk lahmgelegt. Erst nach 22 Minuten konnte die Betriebsmannschaft zwei ausgefallene Notstromanlagen wieder anschalten. Bis dahin hat sie aber auch ein zweites Abschaltsystem des Reaktors nicht aktiviert. Heute schreibt Betreiber Vattenfall auf seiner Internetseite, der Störfall »wies auf technische Versäumnisse sowie Mängel der Sicherheitskultur hin.«

** Aus: Neues Deutschland, 4. April 2011


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