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Anti-Atom-Bewegung zeigte ihre Strahlkraft

Hunderttausende demonstrierten / Kernschmelze für CDU in Baden-Württemberg / Japan: Alarmierende Nachrichten *

Mit Massendemonstrationen setzte die Anti-Kernkraft-Bewegung in Deutschland am Wochenende ein eindrucksvolles Zeichen ihrer Stärke. Bei der Landtagswahl in Baden-Württemberg bekam die CDU die Quittung für ihren Schmusekurs mit den Atomkonzernen. Derweil werden die Meldungen aus Japan immer alarmierender.

Beim bisher größten Protest gegen Atomkraft in Deutschland haben Hunderttausende Menschen in den vier deutschen Millionenstädten für die sofortige Abschaltung aller Atommeiler demonstriert. Auf Kundgebungen in Berlin, Hamburg, München und Köln werteten Redner die Atomkatastrophe in Japan als Beleg für die Unbeherrschbarkeit der Atomkraft. Aufgerufen zu den Aktionen hatte ein breites Bündnis von Anti-Atom-Initiativen, Umweltverbänden, globalisierungskritischen und friedenspolitischen Initiativen.

Unterdessen hat die radioaktive Verseuchung um das japanische Katastrophen-Atomkraftwerk Fukushima teils extreme Werte erreicht. Am Sonntag erschreckte der Betreiber Tepco zunächst mit der Veröffentlichung eines zehnmillionenfach überhöhten Strahlungswertes. Später stellte das Unternehmen die eigenen Angaben teilweise infrage, sorgte aber nicht für Aufklärung. Arbeiter, die seit mehr als zwei Wochen verzweifelt versuchen, die Krisenmeiler zu kühlen, mussten erneut ihre Arbeit unterbrechen. Das Meer vor Fukushima wird derweil zunehmend radioaktiv mit dem Isotop Jod-131 verseucht. Am Sonntag übertraf die Strahlung den zulässigen Grenzwert um das 1850-fache. Tepco räumte ein, dass wahrscheinlich radioaktives Wasser aus dem Atomwrack ins Meer geflossen sei. Doch soll sich die Konzentration der radioaktiven Substanzen im Meer schnell verdünnen, so dass derzeit keine größere Gefahr für Mensch und Umwelt bestehe.

Allerdings könnte eine teilweise Schmelze in den Reaktoren längst begonnen haben. So sagte ein Experte des französischen Instituts für Atomsicherheit, der stark erhöhte Grad an Radioaktivität sei ein »direkter Beweis« dafür, dass es bereits zu einer Kernschmelze gekommen sei. Seitens der Internationalen Atomenergiebehörde hieß es, die japanischen Behörden seien noch immer nicht sicher, ob die Reaktorkerne und die abgebrannten Brennelemente mit ausreichend Kühlwasser bedeckt seien. In Tokio und Nagoya demonstrierten mehrere hundert Japaner gegen Kernkraft.

* Aus: Neues Deutschland, 28. März 2011


Mappus abgeschaltet

Von Reimar Paul und Josef Oberländer **

Mit der zahlenmäßig größten Mobilisierung in der Geschichte der deutschen Antiatombewegung leiteten rund eine viertel Million Menschen am Samstag das Ende der Landesregierung von Stefan Mappus (CDU) bei den Landtagswahlen am Sonntag ein. Bei den gleichzeitigen Wahlen in Rheinland-Pfalz zeichnete sich eine Koalition aus SPD und Grünen ab (siehe Prognosen). Mit chaotischen Informationen über das Ausmaß der ausgetretenen Radioaktivität leistete die Betreiberfirma des japanischen Atomkraftwerks Fukushima wahrscheinlich einen nicht unwichtigen Beitrag zur Wählerentscheidung.

Bei vier Demonstrationen war am Sonnabend (26. März) in Berlin (120000 Menschen), Hamburg (50000), Köln und München (jeweils 40000) das Abschalten von Atomkraftwerken gefordert worden. Zu den Protesten hatte ein Bündnis aus Umweltverbänden, Anti-AKW-Initiativen, ATTAC, Campact und dem Netzwerk Friedenskooperative aufgerufen. In einer gemeinsamen Erklärung der Organisationen hieß es, die anhaltende Katastrophe in Fukushima zeige deutlich, daß die Atomkraft unbeherrschbar sei. Die Regierung werde sich täuschen, wenn sie hoffe, mit einem Moratorium und Kommissionen die Bevölkerung beruhigen zu können. »Wir werden nicht tatenlos zusehen, sollten die jetzt abgeschalteten AKW wieder ans Netz gehen«, rief bei der Berliner Kundgebung Luise Neumann-Cosel von »X-tausendmal quer«. Tausende würden die Meiler blockieren und ihre Stillegung erzwingen, kündigte sie unter großem Jubel an. Auch DGB-Chef Michael Sommer verlangte bei der Kundgebung einen sofortigen Ausstieg; die Gewerkschaften wollten tatkräftig an der fälligen Energiewende mitwirken. Parteienvertreter kamen bei der Kundgebung in der Hauptstadt nicht zu Wort, Spitzenleute von SPD, Grünen und Linken liefen jedoch in dem kilometerlangen Zug mit.

Druck auf die Regierung kam am Wochenende auch von anderer Seite. Die Merkel-Kritiker in der Union wollen in der kommenden Sitzungswoche des Bundestags ein eigenes Beratungsgremium zur Zukunft der Kernenergie aufstellen. »In der Atomfrage wurde überhitzt eine Entscheidung getroffen, die unsere Glaubwürdigkeit in Frage stellt«, zitierte der Spiegel den CDU-Energiepolitiker Thomas Bareiß. »Unsere bisherige Argumentation in der Kernenergie ist in sich zusammengefallen.«

Für Verwirrung um die Strahlenbelastung im schwer beschädigten japanischen Atomkraftwerk Fukushima sorgte am Sonntag (27. März) die Betreiberfirma Tepco. Sie meldete am Morgen deutscher Zeit zunächst um zehn Millionen Mal erhöhte Werte, zog die Angaben aber acht Stunden später wieder zurück. Zwischenzeitlich wurde die gesamte Anlage fluchtartig geräumt, die Rettungsarbeiten zur Kühlung der Reaktoren wurden eingestellt. Das Wasser im Reaktor sei zwar radioaktiv verseucht, der zuvor gemessene Extremwert von millionenfach erhöhter Strahlung sei aber ein Fehler gewesen, erklärte Tepco schließlich. »Diese Zahl ist nicht glaubhaft«, behauptete Sprecher Takashi Kuratia. »Das tut uns sehr leid.«

Tepco räumte allerdings ein, daß sich in allen vier Reaktoren kontaminiertes Wasser befindet. Wo es herstamme, sei unklar. Regierungssprecher Yukio Edano erklärte, daß das radioaktiv verseuchte Wasser mit »an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit« aus einem beschädigten Reaktorkern sickere. Die genaue Ursache sei nicht bekannt. Befürchtet wurde ein Riß oder Bruch in einer der Schutzhüllen um einen Reaktorkern.

Fest steht, daß die Hinhaltetaktik des japanischen Ministerpräsidenten Naoto Kan versagt hat: Das Ausmaß der Atomkatastrophe in Fukuschima läßt sich nicht mehr vertuschen. Schon jetzt wurde mehr spaltbares Material frei als beim Atomunfall von Three Mile Island (Harrisburg) 1979, und ein Ende ist nicht absehbar. In Tokio forderten am Sonntag rund 1200 Menschen vor der Firmenzentrale der Betreibergesellschaft Tokyo Electric (Tepco) die Abschaltung aller AKW – für japanische Verhältnisse eine Massendemonstration.

Vor gut zwei Wochen fielen nach einem verheerenden Erdbeben mit nachfolgender Flutwelle die Kühlsysteme der sechs Meiler von Fukushima Dai-ichi aus. Die verzweifelten Versuche, die Schrottreaktoren zu kühlen, werden für die dort eingesetzten Arbeiter, Feuerwehrleute und Soldaten immer riskanter. Neue Ideen gibt es keine. Im Meer rund um die Anlage werden unterdessen steigende Mengen radioaktiver Isotope gemessen. Auch außerhalb der 30-Kilometer-Zone, deren Bewohner zum Verlassen ihrer Häuser aufgefordert wurden, steigt die Strahlenbelastung.

Wie inzwischen bekannt wurde, hätte den drei in Block 3 beim Kabelverlegen verstrahlten Arbeitern ihr Schicksal erspart bleiben können. Tepco hatte sie nicht über die im Wasser drohende Gefahr informiert, obwohl seit Tagen für Block 1 entsprechende Meßergebnisse vorlagen. Zwei von ihnen lief verseuchtes Wasser in die zu flachen Stiefel. Die vor Ort verwendete Schutzkleidung schützt lediglich vor radioaktiven Partikeln, aber nicht vor Strahlung. Bislang waren 17 der in Fukushima eingesetzten Arbeiter mehr als 100 Millisievert ausgesetzt, dem für ein ganzes Jahr zulässigen Grenzwert.

Die Auswirkungen der Atomkatastrophe auf die japanische Wirtschaft sind unabsehbar. Immer weniger Reedereien sind noch bereit, die Häfen von Tokio und Yokohama anzulaufen, in denen bislang fast die Hälfte der japanischen Seefracht umgeschlagen wurde. Japanische Schiffe und ihre Ladung werden im Ausland aufwendig auf radioaktive Belastungen untersucht.

** Aus: junge Welt, 28. März 2011


Eingestürzte Brücken

Demonstranten in Berlin fordern sofortigen Atomausstieg

Von Lotte Schwarz ***


Das Meer der Anti-Atom-Flaggen war gewaltig. In Berlin forderten mehr als 100 000 Demonstranten „Fukushima mahnt – alle AKWs abschalten!“. Schüler, Rentner und Familien, Demonstranten jeglichen Alters säumten in Berlin den Weg vom Potsdamer Platz zur Straße des 17. Juni. Einige kämpfen schon seit Jahrzehnten gegen die Atomindustrie, andere treibt die Sorge nach dem Reaktorkatastrophe in Fukushima auf die Straße. „Die Kinder fragen, was denn in Japan passiert ist", sagt ein junger Vater. „Sie haben Angst. Aber das Schlimmste ist, ich kann sie noch nicht mal beruhigen und sagen, das kann in Deutschland nicht passieren". Deshalb sei er heute zur Demonstration gekommen. Dabei braucht es gar keine Naturkatastrophe wie in Japan, mischt sich eine Aktivistin ein. „Da müssen wir nur an Forsmark denken".

Durch das AKW Forsmark I des schwedischen Atomkonzerns Vattenfall war Schweden im Juli 2006 nach einer Schnellabschaltung nur knapp einer Kernschmelze entgangen. In der anschließenden Sicherheitsdebatte wurde auch dort wieder verstärkt der Ausstieg aus der Atomenergie gefordert. „Das zeigt, der Atomausstieg ist Handarbeit. Den müssen wir schon auf der Straße entscheiden", sagt die junge Frau und bläst entschlossen in ihre Trillerpfeife.

Und tatsächlich, zwar wurden die größten Fahnen von den Oppositionsparteien gestellt, das Bild beherrschten aber die rote Anti-Atom-Sonne und selbst gestaltete Schilder. Auch wenn die Landtagswahlen in den Gesprächen immer wieder eine Rolle spielen. Besonders lautstark ist der Protest denn auch vor der Berliner CDU-Zentrale. „Abschalten, abschalten" schallt es über die Polizeikette an die Glasfassade. Sicher ist, an diesem Tag sind damit nicht nur die AKW gemeint. Doch auch andere Parteien stehen in der Kritik. Vor dem Stand der Grünen hat sich ein kleines Grüppchen gebildet, das lautstark aufruft, die Chance zu nutzen, sich „bei den Grünen über ihren schäbigen Atom-Ausstieg zu beschweren". Dass die rot-grüne Regierung die Chance verpasst hat, endgültig aus der Atompolitik aussteigen ist hier nicht vergessen. Ebenso wenig die Abkehr von der Anti-Atom-Bewegung, als Jürgen Trittin als Umweltminister 2001 gefordert hatte: „Gegen diese Transporte sollten Grüne in keiner Form – sitzend, stehend, singend, tanzend – demonstrieren."

Die Redner stellen an diesem Tag die Umweltschutzorganisationen, Gewerkschaften und Anti-Atom-Initiativen. „Die Atomkraft ist jetzt endgültig am Ende", ruft Luise Neumann-Cosel von X-tausendmal quer. „Dafür werden wir sorgen." Der Vorsitzende des Bundes für Umwelt und Naturschutz (BUND), Hubert Weiger, erklärt, die Nutzung der Kernenergie sei „unverantwortlich, weil sie gegen das Grundrecht auf Leben verstößt". Und der DGB-Vorsitzende Michael Sommer unterstreicht, der Atomunfall in Japan habe gezeigt, „die Atomenergie ist keine Brückentechnologie. Diese Brücke ist in Fukushima endgültig eingestürzt".

Nachdem bereits die letzten Castortransporte nach Gorleben und Lubmin und Menschenketten gegen Atomkraft wie im März diesen Jahres vom Risikoreaktor Neckarwestheim nach Stuttgart, ein Wiedererstarken der Anti-Atom-Bewegung in Deutschland gezeigt haben, soll es auch nach den Großdemonstrationen weitergehen. „Wir werden nicht tatenlos zusehen, dass nach Ende des Moratoriums jetzt abgeschaltete AKW wieder ans Netz gehen", erklärten die Veranstalter. Jochen Stay, Sprecher der Initiative „ausgestrahlt" kündigte an, wenn im Juni wieder AKW wieder ans Netz gehen sollten, „werden wir sie massenhaft blockieren".

*** Aus: Neues Deutschland, 28. März 2011


Breites Bündnis gegen AKWs

40.000 Teilnehmer bei Protestkundgebung in München

Von Rudolf Stumberger ****


Getragen von einem breiten Bündnis aus Parteien, Kirchen, Gewerkschaft und Organisationen protestierten 40.000 Menschen in München an vergangenen Samstag gegen die Nutzung der Atomkraft. Mit Plakaten und Parolen wie „Für die Zukunft unserer Kinder" und „Keine Deals mit der Atom-Lobby" skandierten sie immer wieder „Abschalten" und forderten das Aus für die Atomkraftwerke. Zuvor wurde in einer Schweigeminute den Opfern der Umwelt- und Atomkatastrophe in Japan gedacht. „Diese Regierung muss zum Ausstieg getrieben werden, auch in Bayern", forderte IG Metall-Bezirksleiter Jürgen Wechsler auf der Kundgebung, Japan habe gezeigt, dass die Atomkraft entgegen aller Beteuerungen nicht beherrschbar sei.

Gegen 14 Uhr begann auf dem Münchner Odeonsplatz eine der größten bayerischen Anti-Atom-Kundgebungen der vergangenen Jahre. Trotz der unzähligen „Atomkraft-Nein-Danke-Sonnen" wurde der Auftakt von einem Regenschauer begleitet, der aber die sehr kämpferische Stimmung der Kundgebung nicht trüben konnte. Deren Merkmal war unter dem Leitspruch „Fukushima mahnt" die breite Beteiligung vieler gesellschaftlicher Gruppen. So waren außer den beiden bayerischen Regierungsparteien CSU und FDP von den Freien Wählern über die Grünen, SPD , ÖDP und Die Linke nahezu das gesamte relevante Parteienspektrum vertreten. Zum Auftakt der Kundgebung sprachen mit dem katholischen Sozialethiker Markus Vogt und dem evangelischen Umweltbeauftragten Wolfgang Schürger zwei Vertreter der christlichen Kirchen. Vogt zitierte dabei aus dem Beschluss der bayerischen Bischofskonferenz: „Der Ausstieg aus dieser Technologie soll so schnell wie möglich vollzogen werden." Als sein evangelischer Kollege allerdings nicht einen sofortigen, sondern einen „geregelten Ausstieg" verlangte, schien das angesichts von Unmuts-Pfiffen nicht die Mehrheitsmeinung der Kundgebungsteilnehmer zu treffe.

Danach trat mit dem Kabarettisten Urban Priol wohl der bekannteste Redner auf die Veranstaltungsbühne und ließ mit seinem satirischen Attacken kein gutes Haar an der Bundesregierung unter Angela Merkel: „Die Union führt sich auf, als hätte sie damals die Ostermärsche erfunden". Von gewerkschaftlicher Seite bezeichnete der IG-Metall-Vertreter angesichts der erschütternden Ereignisse in Japan die Atomkraft entgegen allen Beteuerungen als nicht beherrschbar, nun hänge das Schicksal einer hochentwickelten Nation an einem „seidenen Faden". Für die IG Metall stehe fest, ein Atomausstieg gefährde weder die deutsche Wirtschaft noch die Stromversorgung. Dagegen sei eine umweltfreundliche Spitzentechnologie ein Standortfaktor und wer die Bedeutung neuer Energietechnologie unterschätze, werde am Ende als „Innovationsbremse" dastehen. Lauten Zuspruch erntete der Gewerkschaftsvertreter mit seiner Forderung, die alten Reaktoren abzuschalten. Atomkraft sei auch bei höchsten Sicherheitsstandards eine „Hoch-Risiko-Technologie".

Ein Ende des „Eiertanzes" um das Moratorium zu alten Atommeilern und stattdessen deren sofortige Stillelegung forderten auch die Vertreterinnen von Umweltorganisationen wie dem niederbayerischen „Bündnis für Atomausstieg", „Bund Naturschutz" und das Umweltinstitut München.

Viele der Kundgebungsteilnehmer, darunter viele Familien mit Kindern, trugen Transparente und Fahnen mit sich, hatten sich Sicherheitsanzüge oder Schutzmasken angezogen, um ihren Protest auszudrücken. Die Polizei zeigte - jedenfalls während der Kundgebung - kaum Präsenz.

**** Aus: Neues Deutschland, 28. März 2011


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