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Umkehrbarer Atomausstieg

Bundestag stimmt für das schwarz-gelbe Konzept / Keine Verankerung im Grundgesetz

Von Aert van Riel *

Abgeordnete von Union, FDP, SPD und Grünen haben dem schwarz-gelben Konzept zum schrittweisen Ausstieg aus der Kernenergie zugestimmt. Acht Parlamentarier enthielten sich, 79 lehnten es ab – vor allem aus der Linksfraktion. Umweltverbände und AKW-Gegner kritisieren das Gesetz.

Die Bundesregierung hat wie erwartet ihr Atomgesetz durch den Bundestag gebracht. Zustimmung kam auch aus der Opposition. In der Debatte, die der Abstimmung voranging, hatten SPD und Grüne erneut betont, sie würden zustimmen, weil Schwarz-Gelb nach dem GAU von Fukushima zum rot-grünen Atomkonsens aus dem Jahr 2001 zurückkehre. Ein Unterschied ist aber, dass es nun feste Abschaltdaten für die Meiler gibt. Die sieben ältesten Kernkraftwerke und die Anlage in Krümmel bleiben abgeschaltet. Jedoch soll die Bundesnetzagentur bis September entscheiden, ob eines der stillgelegten AKW für den Fall von Stromengpässen bis 2013 in Bereitschaft bleibt. Drei der neun übrigen Kernkraftwerke werden schrittweise von 2015 bis 2019 vom Netz gehen. Die Stilllegung der letzten sechs Meiler soll 2021/2022 erfolgen.

In diesem Zeitraum kann viel passieren. Auch deswegen hatte die LINKE, die bis 2014 aus der Atomenergie aussteigen will, mit Nein gestimmt. »Es ist ein Atomausstieg mit Rückfahrkarte«, monierte Fraktionschef Gregor Gysi. Der Antrag der LINKEN, den Ausstieg im Grundgesetz festzuschreiben, wurde abgelehnt. Gysi befürchtet, dass Union und FDP bis zur Bundestagswahl 2017 ihre Haltung ändern und sich erneut für die Rückkehr zur Atomenergie aussprechen werden. Um den Ausstieg sozialverträglich zu gestalten, forderte er, Energieversorgung in die Hände der Kommunen zu legen.

Insgesamt beschloss der Bundestag ein 700 Seiten starkes Gesetzespaket, das am 8. Juli auch im Bundesrat beraten wird. Darin werden der Ausbau von erneuerbaren Energien und Stromnetzen, der Bau von Kohle- und Gaskraftwerken sowie zusätzliche Mittel für die energetische Gebäudesanierung festgelegt. Die atomkritische Ärzteorganisation IPPNW kritisierte, dass die Gesetze große Energiekonzerne begünstigen. »Zugunsten der großen Energieversorger werden neue konventionelle Großkraftwerke genehmigt, überflüssige Verbundstromtrassen durchgesetzt und trotz der hohen Gewinne der Konzerne erneut die Strompreise erhöht«, sagte IPPNW-Atomexperte Henrik Paulitz.

Während der Bundestag debattierte, hatten sich vor dem Gebäude etwa 150 AKW-Gegner versammelt. Campact, der BUND und die Naturfreunde Deutschlands betonten, dass der Anti-AKW-Protest trotz des Gesetzes weitergehen werde. Greenpeace bezeichnete den schrittweisen Ausstieg aus der Kernenergie als »Schritt in die richtige Richtung«. Die längeren Laufzeiten der AKW bedeuteten aber 2200 Tonnen zusätzlichen Atommüll. »Ein Ausstieg 2015 ist möglich«, erklärte Geschäftsführerin Brigitte Behrens. Jochen Stay, Sprecher der Anti-AKW-Organisation »ausgestrahlt«, warnte: »Innerhalb des vereinbarten Zeitraums kann es jeden Tag zum Super-GAU kommen.«

* Aus: Neues Deutschland, 1. Juli 2011

"Einmalig"

"Union- und FDP haben damit ihren Jahrzehntelangen Kampf für diese Risikotechnologie aufgegeben. Damit hat sich weltweit einmalig ein Parlament parteiübergreifend für den Atomausstieg entschieden. Das ist ein großer Erfolg für die außerparlamentarische Anti-Atom-Bewegung und für die Grünen."
Hans-Josef Fell, Sprecher für Energie der Bundestagsfraktion Bündnis 90/ Die Grünen, Infobrief 17/11.



Sommermode

Von Thomas Blum **

Für Kapitalismusunkundige könnte es auf den ersten Blick verwirrend sein, dass gestern der Atomausstieg bis zum Jahr 2022 beschlossen wurde: Die CDU und die FDP tun so, als hätten sie den Umweltschutz erfunden. Und die Grünen, ganz ökokapitalistische Vorzeigepartei, sind das Zustimmen schon so gewöhnt, dass sie jetzt auch Gesetze mitbeschließen, für deren Verabschiedung ihre Stimmen gar nicht gebraucht werden. Schon der Sänger Andreas Dorau wusste: »Das ist Demokratie / Langweilig wird sie nie.«

Mit dem ersten »Atomkonsens« waren die Konzerne nur einverstanden, weil ihre Angestellten, die Politiker, es vermieden hatten, den Atomausstieg endgültig festzuschreiben. Den Plänen von Rot-Grün konnte man entspannt zustimmen, weil man wusste, dass eine künftige schwarz-gelbe Regierung den Öko-Quatsch wieder rückgängig machen würde.

Wenn der neue »Atomkonsens« allerdings dieselbe Haltbarkeit aufweist wie die Überzeugungen der Grünen, kann man wohl davon ausgehen, dass in zehn Jahren der Spaß von vorne beginnt und die Atomkraftwerke von einem Tag zum anderen wieder die sichersten der Welt werden. Man kennt das.

Natürlich werden die Preise für Öl, Kohle und Gas steigen, aber das tun sie ja ohnehin, ob nun gerade der Ausstieg oder Einstieg Konjunktur hat. Das ist in Deutschland ja wie mit der Frühjahrs- und der Herbstmode: Die wechselt auch, aber Profit muss immer gemacht werden.

** Aus: Neues Deutschland, 1. Juli 2011 (Kommentar)


Zu kurz gesprungen

Bundestag beschließt Atomausstieg

Von Rainer Balcerowiak ***


Als Einig-Atomaussteigerland präsentierte sich Deutschland am Mittwoch. Abgesehen von der Linksfraktion, denen die Abschaltung der Meiler nicht schnell genug geht, votierten Regierungs- und Oppositionsparlamentarier fast geschlossen für die schwarz-gelben Ausstiegsgesetze, die Bundesumweltminister Norbert Röttgen (CDU) denn auch als »nationales Gemeinschaftswerk« pries.

Den bekannten Argumenten gegen die Nutzung der Atomenergie hatten sich CDU, CSU und FDP jahrelang verweigert, bis sie durch die Reaktorkatastrophe in Japan zur Umkehr gezwungen wurden, da sie andernfalls bei kommenden Wahlen hinweggefegt worden wären. Der Schulterschluß mit den Atomprofiteuren der großen Energiekonzerne war plötzlich nicht mehr zeitgemäß, deren prozeßhanselnde Manager wirken nun wie Relikte aus vergangenen Zeiten.

Doch zur Euphorie besteht auf seiten der AKW-Gegner trotz eines unbestreitbaren Etappensieges kein Anlaß. Ungeklärt bleibt die Frage der Endlagerung sowie die Zukunft der bereits bestehenden Lagerstandorte Gorleben, Asse und Schacht Konrad. Neun Meiler bleiben noch bis zu elf Jahre am Netz, die Gefahr von schweren Atomunfällen in Deutschland ist also noch lange nicht gebannt. Das Bekenntnis zum forcierten Ausbau der Nutzung erneuerbarer Energien ist auf der Entscheiderebene noch nicht über das Stadium der Fensterreden hinausgekommen. Die Fokussierung auf Mega-Anlagen zur Offshore-Windnutzung zementiert die Macht der Stromoligopole und verzögert die Energiewende. Längst wird der Atomausstieg genutzt, um einer anderen zerstörerischen Technologie, der Stromgewinnung aus Kohle, zu neuen Weihen zu verhelfen.

Verschärfen wird sich ferner die Konkurrenz zwischen Nahrungsmittel- und Energierohstoffproduktion. Und nach belastbaren Konzepten für dezentrale Versorgungssysteme und die Realisierung der enormen Einsparpotentiale beim Energieverbrauch sucht man in den Ausstiegsgesetzen ebenfalls vergeblich. Statt dessen sollen Einspruchsrechte der Bürger gegen Bauvorhaben für neue Hochleistungstrassen zum Stromtransport beschnitten werden.

Das Großkapital und seine Politiker haben zwar keine wirkliche Einsicht, aber ein hohes Maß an Flexibilität bewiesen. Schnell ist man zu der Erkenntnis gekommen, daß sich auch mit regenerativen Energien Milliardenprofite erzielen lassen – wenn die Rahmenbedingungen stimmen. Das heißt in erster Linie, daß die – teils realen, teils fiktiven – Kosten der Energiewende der Bürgern aufgedrückt werden sollen. Und dies mehrfach: Mieter sollen den Löwenanteil für Maßnahmen zur energetischen Gebäudesanierung bezahlen und sich auf kräftig steigende Strompreise einstellen.

Energieversorgung ist auch eine soziale Frage. Die Überführung der Konzerne in öffentliches Eigentum wäre ein Schritt zu deren Lösung. Doch in der mittlerweile ganz großen Koalition der Atomaussteiger wird man kaum Stimmen finden, die sich für derartige Forderungen stark machen.

** Aus: junge Welt, 1. Juli 2011


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