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Als Heinemann den Dienst quittierte

Staatsschutz in Westdeutschland – Im Visier: Studenten, Kommunisten und Antifaschisten

Von Markus Mohr *

Dieses Buch liest sich stellenweise wie ein zeitgeschichtlicher Kommentar zur Ausspähung der Bundesrepublik durch US-amerikanische Geheimdienste und zum Versagen der Sicherheitsbehörden im Fall des NSU-Mördertrios. Was Dominik Rigoll in umfangreichen Archivrecherchen über den Staatsschutz in Westdeutschland seit 1945 zusammengetragen hat, wirft auch auf aktuelle Fragen der »inneren Sicherheit« ein neues Licht.

Mitte Februar 1974 kam es auf Drängen der CDU-Fraktion anlässlich des 25. Jahrestages des Grundgesetzes zu einer Verfassungsdebatte im Bundestag. Als Hauptredner eröffnete der hessische CDU-Landesvorsitzende Alfred Dregger die Aussprache, die wesentlich um »Extremistenbekämpfung« kreiste. Dregger zitierte aus einem Flugblatt des NS-Studentenbundes über die Befreiung der »ausgebeuteten Volksschichten« von der »Hochfinanz« und stellte dieses in einen direkten Bezug zu Ansichten, die es auch im linken Flügel der SPD gäbe. Darüber hinaus würden mittlerweile Professoren, deren Gesinnung den »Linksradikalen« nicht passe, »aus den Hörsälen geprügelt werden«. Für den CDU-Mann »unverkennbare« Parallelen zu 1933.

Hier intervenierte die Sozialdemokratin Annemarie Renger, die 1934 aufgrund der Freundschaft ihrer Eltern mit dem preußischen Innenminister Carl Severing ihre Schulausbildung hatte abbrechen müssen, und die jetzt als Bundestagspräsidentin die Sitzung leitete. Immer wieder unterbrochen von heftigen Zwischenrufen aus den Reihen der Unionsfraktion erklärte sie: »Ich glaube nicht, dass das hierher gehört. Sie sollten bitte zur Sache zurückkehren ... ich halte es nicht für richtig, solche Vergleiche mit NS-Zitaten hier herzustellen.«

Es kam zu einer einstündigen Unterbrechung der Bundestagssitzung, weil die CDU/CSU darüber befinden wollte, ob die Intervention von Frau Renger »für den Beginn einer Zensur« stehe. Kurz danach entschuldigte sich die Bundestagspräsidentin für eine in der »Erregung« gewählte »missverständliche Ausdrucksweise«; von ihr sei kein »Eingriff in die Redefreiheit« des CDU-Abgeordneten beabsichtigt gewesen. Dass sich eine Sozialdemokratin bei einem Christdemokraten entschuldigt, wird Dregger gut gefallen haben. Der zynische Hintersinn dieser Szene: Ein ehemaliges Opfer der Nazis entschuldigte sich bei einem NS-Täter. Der 1940 der NSDAP beigetretene Dregger hatte sich »Führer«-treu bis zum Kriegsende als Bataillonskommandeur der Wehrmacht dem Vormarsch der sowjetischen Armee entgegengestemmt. Seine Mitgliedschaft in Hitlers Partei war den Parlamentariern 1974 nicht bekannt, weil er »vergessen« hatte, sie im Entnazifizierungsverfahren anzugeben. Erst durch eine 2011 erstellte Studie der Linkspartei in Hessen ist Dreggers braune Vergangenheit allgemein publik.

Diese Episode findet sich der Dissertation des Historikers Rigoll über die Geschichte des Staatsschutzes in Westdeutschland bis zum Ende der 1970er Jahre. Ausgehend von der Doktrin »Antitotalitarismus versus Antifaschismus«, verfolgt Rigoll in vier Kapiteln die Entwicklung des Staatsschutzes von der Wiederbewaffnung zu dessen Neujustierung in den 1960er Jahren, die er als »Liberalisierung ohne Lernprozess« charakterisiert. Die folgende Dekade habe in Ausführung des Radikalenerlasses vom Januar 1972 quasi unter dem Motto »Mehr Demokratie fürchten« gestanden. Dies habe bei prominenten ausländischen Kritikern wie dem französischen Politikwissenschaftler und Friedenspreisträger des deutschen Buchhandels Alfred Grosser zu Sorgen über eine Abkehr der Bundesrepublik von westlichen Werten geführt.

Rigoll weist überzeugend nach, wie umstritten in der politischen Klasse der Bundesrepublik selbst die konkrete Ausgestaltung des Staatsschutzterrains gewesen ist. Es sei nicht zuletzt die begründete Furcht vor einer Militarisierung und Renazifizierung gewesen, die den ersten Innenminister Adenauers, Gustav Heinemann, 1950 zum Rücktritt und den ersten Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Otto John, 1954 zur Flucht in die DDR bewogen haben. Bemerkenswert ist die gegenüber allen anderen hohen Gerichten dissidente Staatsschutzrechtsprechung des vor allem von konservativen Emigranten besetzten Bundesverfassungsgerichtes.

Drei Jahrzehnte stand der Staatsschutz in der Bundesrepublik im Zeichen einer vielgestaltigen Konfrontation zwischen einerseits zu »demokratischen Sicherheitspolitikern« gemauserten ehemaligen Nazis und andererseits Kommunisten sowie anderen Antifaschisten. Wer wissen will, wie letztere im Visier des Staatsschutzes standen, der tut mit der Lektüre dieser Arbeit von Rigoll einen guten Griff.

Dominik Rigoll: Staatsschutz in Westdeutschland. Von der Entnazifizierung zur Extremistenabwehr. Wallstein Verlag, Göttingen. 524 S., geb., 39,90 €.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 4. Juli 2013


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