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Willkommen bei Orwell

Frankreich nach den Anschlägen von Paris

Von Pierre Lévy *

Wir sind im Krieg. Das hat der Premierminister gedröhnt. Und Expräsident Nicolas Sarkozy hat es nachgeplappert. In einem fort leiert die politisch-mediale Kaste Frankreichs und auch des restlichen Europas diese Phrase seit den blutigen Attentaten von Paris herunter. Nur, das erste Opfer des Krieges ist immer die Wahrheit und in diesem Fall auch die Informations- und Meinungsfreiheit.

Die Bestätigung dieser geradezu klassischen Situation ließ nicht lange auf sich warten. Zuerst, indem die großen Medien sich gleichgeschaltet haben. Vier Tage lang – so der Tenor – hat sich außer den mörderischen Überfällen und der Verfolgung der Täter weder in der Welt noch in Frankreich etwas ereignet. Dutzende durch eine Bombe getötete Opfer an diesem 7. Januar in Jemen? Keine Spur. Tausende niedergemetzelte Männer, Frauen und Kinder im nigerianischen Baga? Nicht der Zeitpunkt dafür. Die ägyptischen Autoritäten entscheiden das Niederwalzen der 75.000-Einwohner-Stadt Rafah; räumen schonungslos die Bevölkerung aus ihren Häusern und sprengen ganze Wohnviertel. Kein einziges Wort.

Auf anderem Gebiet: Der Erdölpreis stürzt, der Euro sackt ab? Unwichtig. Die Schlachthöfe GAD im nordfranzösischen Departement Manche sind vom Konkurs bedroht – 400 zu erwartende Arbeitslose? Verschwunden. Niemand stört sich daran, dass die tragischen Ereignisse vom 7. Januar in Paris und die durch sie ausgelösten Emotionen einen breiten Platz in Funk und Fernsehen einnehmen. Aber dass diese alle anderen Informationen verdrängen, ist weder akzeptabel noch beruhigend.

Eine andere Ebene der Auswirkungen ist institutionell: Das zweite »Antiterror«-Gesetz der vergangenen fünf Jahre – übrigens das 15. seit 1986 – ist noch nicht einmal in Anwendung, da wird bereits schon für einen »Patriot-Act« à la français plädiert, der ganz offen neue Freiheitsbeschränkungen der Staatsbürger bedeuten würde. Und wenn Premierminister Manuel Valls vorsorglich betont hat, dass er keine »Ausnahmemaßnahmen« wünsche, so hat er doch die EU ermahnt, die Bestimmungen der PNR, der »Fluggastdatensatz« genannten Maßnahmen, ohne zu zögern einzuführen. Deren Ziel ist die detaillierte Registrierung und der Austausch der Daten eines jeden Passagiers. Damit würden nicht weniger als 60 – darunter sehr persönliche – Informationen aller Flugreisenden aufgezeichnet. Einige Politiker setzen sich übrigens für ein »FBI« der EU ein – und warum auch nicht eine NSA? Andere wünschen die Verstärkung der noch in ihren Anfängen steckenden Justizbehörde Eurojust.

Es gibt eine dritte Kategorie an Konsequenzen, die man »Polizei des Denkens« nennen könnte. Symbolisch dafür ist der Fall des Komikers Dieudonné M’bala M’bala. Man kann von ihm halten, was man will – so wie man von Charlie Hebdo halten kann, was man will. Seine Festnahme und anschließende Untersuchungshaft wegen seines Ausspruchs: »Je suis Charlie Coulibaly«, eine Anspielung auf den Geiselnehmer in einem koscheren Lebensmittelladen, lässt einen schaudern.

Wegen der »Apologie des Terrorismus«, ein erst kürzlich eingeführter Straftatbestand, der auch private Gespräche miteinbezieht, wurden bereits rund 50 Prozesse eingeleitet. Erste Verurteilungen zu mehrjährigen Gefängnisstrafen ohne Bewährung wurden ausgesprochen. Psychologische Behandlungen wurden Minderjährigen auferlegt, die sich geweigert hatten, an einer Schweigeminute für die Opfer der Pariser Anschläge teilzunehmen. Kommunalangestellte wurden, wie in Lille, bestraft, weil sie nicht an dieser kollektiven Schweigeminute teilgenommen und das auch begründet hatten.

Aber was ist eine per Dekret festgelegte Besinnung wert? Wird morgen die einfache Tatsache verdächtig und auch strafbar, die Gründe des Dramas verstehen zu wollen? Genau das hat zweifellos der belgische Europaabgeordnete Guy Verhofstadt begrüßt, als er jubelte: »Zum ersten Mal wurde ein Europa der Werte geboren!« Doch der Siegerkranz gebührt gewiss Nathalie Saint-Cricq, Chefin der politischen Abteilung von France2. Am 13. Januar rief sie hingerissen aus, indem sie mit den Fingern auf diejenigen zeigte, die »nicht Charlie sind«: »Sie sind es, die wir ausfindig machen und behandeln müssen.« Gewissermaßen im Namen der Meinungsfreiheit. Orwell ist nicht mehr weit.

An diesem Tage sind Charb, Cabu, Wolinski und die anderen Karikaturisten ermordet worden – zum zweiten Mal.

Übersetzung: Alexandra Liebig

Pierre Lévy ist Chefredakteur der französischen Monatszeitschrift Bastille République Nations. Der abgedruckte Kommentar erschien in der aktuellen Ausgabe von Bastille République Nations vom 26.1.2015.

* Aus: junge Welt, Freitag, 6. Januar 2015


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