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Fakten und Fakes

Jürgen Todenhöfer über das Feindbild Islam

Von Uli Gellermann *

Wer ist Jürgen Todenhöfer? Einer, der 17 Jahre für die CDU im Bundestag saß. Und ein Autor, den Josef Joffe von der »Zeit« als »Vulgärpazifisten« diffamiert. Was kann Todenhöfer? Lesen und rechnen. Anders als andere hat er den Koran und die Bibel gelesen. Und wenn er die Toten im »Anti-Terror-Kampf« zählt, fällt ihm auf, dass die Verluste bei den Muslimen um vieles höher sind als bei den Interventen. Was macht To-denhöfer? Er liest und rechnet nicht nur, sondern schreibt zehn Thesen gegen den Hass auf.

In seiner ersten These - »Der Westen ist gewalttätig« - erinnert Todenhöfer an die Millionen arabischer Zivilisten, die der Westen in den letzten 200 Jahren auf dem Gewissen hat. An die Algerier, die von der französischen Kolonialarmee hingeschlachtet wurden. An die über hunderttausend Libyer, die von italienischen Truppen zum Sterben in die Wüste getrieben worden sind. Und an die Million Iraker, die bereits in Folge westlicher Sanktionen gegen das Regime unter Saddam Hussein starben, darunter 500 000 Kinder. Madeleine Albright kommentierte: »We think the price is worth it.« (Wir glauben, dieser Preis war es wert.).

Anti-Terror fördert Terror. Denn: »Ein junger Muslim, der regelmäßig Fernsehnachrichten verfolgt, sieht Tag für Tag, Jahr für Jahr, wie in Irak, in Afghanistan, in Pakistan, in Palästina und anderswo muslimische Frauen, Kinder und Männer durch westliche Waffen, westliche Verbündete und westliche Soldaten sterben.« To-denhöfer rechtfertigt islamistischen Terror nicht, versucht aber zu verstehen. Terror ist kein muslimisches Phänomen, lautet die dritte These. 2010 wurden in der Europäischen Union 249 Terror-Anschläge gezählt, nur drei wurden von »islamistischen« Attentätern verübt. Terror gehört vor Gericht. Doch wer ist bisher für den völkerrechtswidrigen Terror-Angriff auf Irak vor ein internationales Strafgericht gekommen, fragt Todenhöfer und zitiert Peter Ustinov, der die westlichen Angriffskriege als »Terrorismus der Reichen« bezeichnet hat. Christen erfanden den »heiligen Krieg«, die Kreuzzüge. Christen haben im Zuge der Kolonialisierung Afrikas und Asiens 50 Millionen Menschen umgebracht. Und 70 Millionen im Ersten und Zweiten Weltkrieg.

Fakten und Fakes: Die täglichen Hasstiraden gegen Iran vermelden nicht, dass es dort 100 Synagogen gibt, jüdische Schulen, ein jüdisches Krankenhaus und ein den Juden garantierter Parlamentssitz. »Wir können nicht immer wieder in der muslimischen Welt intervenieren. Was wir tun können, ist, sie in Grund und Boden zu bomben«, darf Bill O'Reilly, TV-Idol der amerikanischen Rechten, unbehelligt predigen. Thilo Sarrazin behauptet eine angeborene Behinderung unter türkischen und kurdischen Migranten, und niemand bringt ihn wegen Volksverhetzung vor Gericht. To-denhöfer bittet den Leser, sich vorzustellen, gleiches würde über Christen oder Juden gesagt. Da hätte Justizia wohl eingegriffen.

In seiner neunten These fordert der Autor die Muslime auf, den islamistischen Terroristen die religiöse Maske vom Gesicht zu reißen. »Wer einem Juden oder Christen unrecht tut, dem werde ich am Tag des jüngsten Gerichts entgegentreten«, zitiert er den Propheten Mohammed. Und den Westen fordert er - gerade auch in Bezug auf Iran - auf, Kriegsrhetorik durch Dialog zu ersetzen.

Ein kleines Büchlein, das es in sich hat und allen Meinungsmachern, Politikern und Journalisten, zu empfehlen ist.

Jürgen Todenhöfer: Feindbild Islam - Zehn Thesen gegen den Hass. C. Bertelsmann, München 2011. 64 S., br., 4,99 €.

* Aus: neues deutschland, 29. Dezember 2011


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