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"Islamfeindlichkeit ähnelt einigen antisemitischen Mustern"

Gespräch mit Sabine Schiffer. Über Kampagnen gegen Muslime, die Beteiligung der Medien daran und vermeintliche Israelfreunde

Dr. Sabine Schiffer leitet das Institut für Medienverantwortung (IMV) mit Sitz in Erlangen www.medienverantwortung.de


Am 24. März 2010 wurde Sabine Schiffer vom Amtsgericht Erlangen vom Vorwurf der »üblen Nachrede« freigesprochen. Die zuständige Staatsanwaltschaft hatte der Medien- und Islamwissenschaftlerin Ende 2009 einen Strafbefehl über 6000 Euro oder wahlweise zwei Monate Haft zugestellt. Schiffer hatte Konsequenzen aus der Ermordung der Ägypterin Marwa El-Sherbini am 1.Juli 2009 in einem Dresdner Gerichtssaal gefordert.

Die Mordtat eines Neonazis und der Schuß eines Polizeibeamten auf den ihr zur Hilfe eilenden Ehemann hatten im vergangenen Jahr vor allem in arabischen Ländern zu Massenprotesten gegen den zunehmenden Antiislamismus in Deutschland geführt.

Auch Schiffer hatte Kritik an Polizei und Justiz geübt und die Frage aufgeworfen, ob der Schuß auf den Ehemann El-Sherbinis mit antiislamischen Vorurteilen in Verbindung stehen könnte.

Zudem warf sie der Dresdner Justiz mangelnde Sicherheitsvorkehrungen vor. Entgegen der Staatsanwaltschaft sah das Gericht die Äußerungen durch das Recht auf freie Meinungsäußerung gedeckt. Anfang April kündigte die Staatsanwaltschaft Nürnberg Revision gegen das Urteil an.


Frage: Seit geraumer Zeit kommt es in der Bundesrepublik zu kampagnenartigen Ausfällen vieler Medien gegenüber Muslimen. Fällt die Berichterstattung, in der Muslime oftmals pauschal als Gewalttäter und Unterdrücker diffamiert werden, bei der Bevölkerung auf fruchtbaren Boden?

Wiederholen ist überzeugen, lautet eine Grundregel von Propaganda. Werden die immer gleichen Botschaften oft genug wiederholt, dann steigt die Wahrscheinlichkeit, daß sie Wirkung erzielen.

Da die Reproduktion von Stereotypen über den Islam und Muslime schon seit Jahrzehnten anhält, sehe ich gerade in den aktuellen Kampagnen ein Indiz für diese Wirkung. Da werden Verbrechen, die überall vorkommen und von der Mehrheit aller Menschen verurteilt werden, pauschal »dem Islam« zugeschrieben.

Daß die eiligen Medienkonsumenten, die vom Schulunterricht bis zur Tagesschau mit kaum widersprüchlichen Informationen versehen werden, diesem Mißverständnis erliegen, kann man ihnen einerseits nicht übelnehmen.

Andererseits wäre es dringend an der Zeit, eine systematische Medienbildung zu vermitteln, die uns insgesamt - nicht nur bei diesem Thema - ermöglicht, mehr Distanz zum Medienkonstrukt aufzubauen. Denn auch mit Fakten kann man lügen, wenn die Auswahl nur eingeschränkt genug ist.

Wie erklären Sie sich, daß das Gros der selbsternannten Leitmedien in diesem Ausmaß die Stimmungsmache gegen den Islam organisiert?

Medien sind ein Teil des öffentlichen Diskurses und wiederspiegeln zunächst einmal die Themen und Sichtweisen eines Teils der Öffentlichkeit. Und die Medienmacher wurden in dieser Gesellschaft sozialisiert, wo stereotype Bilder über den Islam und Muslime, wie auch anderer markierter Gruppen schon lange kursieren.

Mich erstaunt schon, daß pauschale Zuschreibungen aus einer Außensicht heraus oft nicht als eigene Zuschreibungen erkannt, sondern für ein Merkmal des zu Beschreibenden gehalten werden. Da wird bei einem Mißbrauchsfall schnell von einem »Problem des Islams« gesprochen, während ein solcher in der christlichen Kirche nicht die Frage nach »Pädophilie im Christentum« aufwirft.

Die Wahrscheinlichkeit, in einmal etablierten Wahrnehmungsrahmen zu verbleiben und damit einmal geformte Stereotype zu reproduzieren ist sehr hoch. Wir alle sehen eher das, was wir erwarten und suchen unbewußt nach Bestätigung für unser Vorurteil. Die anderen Dinge zu sehen, ist da nicht immer einfach - zumal in einem kleinen Bildausschnitt oder kurzen Zitat.

Aber auch die Selbstkritischen entkommen den Schablonen der subjektiven Zeichen Sprache und Bilder nicht, derer sie sich bedienen müssen.

Muslime sind auch bei der Mehrheit der etablierten Politik in Deutschland nicht wohlgelitten. Haben wir es mittlerweile mit einer Art staatlich verordneten Antiislamismus zu tun?

»Staatlich verordnet« würde ich das nicht nennen, aber staatlich hingenommen und teilweise sogar befördert. Auf jeden Fall ist man auf die Markierung der Muslime hereingefallen.

Über die Jahre hinweg sind früher beliebte Kategorien der Ausgrenzung wie Nationalität, Ethnie, Phänotyp, Geschlecht, dem der religiösen Zuordnung gewichen - wobei es Zufall ist, daß es nun eine religiös definierte Gruppe trifft.

Es handelt sich nicht um einen Religionskonflikt, sondern eben um Mechanismen der Ausgrenzung, die an einer Gruppendefinition festgemacht werden. Das entlarvt sich teilweise selbst, indem man die Behauptungen mit den Fakten abgleicht: Die Integrationsdebatte verschleiert die Ausschlußmechanismen, die von »urdeutschen« Entscheidungsträgern aufrecht erhalten werden.

Sie ist eine Antwort auf eine gelingende Integration, die Gleichberechtigung auch in Berufsfragen etc. beansprucht. Die Frauenfrage lenkt von Rückschritten in der hiesigen Politik ab - Stichwort neues Scheidungsrecht, Unterhaltsrecht etc. - und kann zudem noch ganz subtil emotional zur Rechtfertigung von Kriegseinsätzen in muslimischen Ländern ausgeschlachtet werden.

Hierin sehe ich eine Instrumentalisierung durch unsere politischen »Eliten« und auch einen Grund, warum man nicht wirklich effektiv Islamfeindschaft bekämpft, wie man es bei anderen Rassismen zumindest ansatzweise tut.

Ihr Institut hat den islamischen Verbänden kürzlich den Austritt aus der von der Bundesregierung organisierten Deutschen Islamkonferenz (DIK) empfohlen...

Nicht den Verbänden, sondern den Muslimen, wenn man so will. Dies hat mit meinen Erfahrungen in der DIK I zu tun. Ich weiß bis heute nicht, ob die Ergebnisse unserer Arbeitsgruppe darum versandet sind, weil das in einem Verwaltungsapparat wie dem Bundesinnenministerium eben untergeht oder ob es diese Ergebnisse so gar nicht geben sollte.

Jedenfalls ist das Ministerium in einer komfortablen Situation: Ein Scheitern - sprich: Ergebnislosigkeit - der Konferenz würde automatisch auf die Muslime zurückfallen, weil sie die markierte Gruppe sind, die kritisch beäugt werden. Dazu gibt es auch schon brauchbare Frames:

Demokratiedefizite und dergleichen mehr, wobei man der Zusammensetzung der Konferenz nun wirklich keine demokratische Legitimation vorwerfen kann.

Übrigens, der Islamrat wurde meiner Einschätzung nach nicht wegen der vorgeblich genannten Gründe ausgeladen - dann könnten einige Parteifunktionäre ja auch nicht teilnehmen - sondern weil dessen Teilnehmer nicht bereit waren, über Nacht modifizierte Texte dennoch zu unterschreiben.

Dies könnte mit in die Reihe der Fälle gehören, wo ja gerade die überdurchschnittlich gebildeten, gut integrierten und fortschrittlichen Islamvertreter inkriminiert werden, wofür es ja aktuell einige Beispiele von Verfassungsschutzbeobachtung gibt.

Wenn ich richtig informiert bin, ist zudem der leitende Staatssekretär der DIK II Herr Schröder, der sich nicht davon distanziert hat, daß seine Frau, als sie noch Kristina Köhler hieß und noch nicht Bundesministerin war, den antiislamischen Hetzblog »Politically Incorrect« auf ihrer Website verlinkt hatte.

Wie hätte ein Dialog organisiert werden müssen, um gewinnbringender für alle Beteiligten zu verlaufen?

Ich bin eigentlich der Meinung, daß wir einen solchen Dialog nicht brauchen. Der wird bei keiner anderen Religionsgemeinschaft inszeniert.

Da wird anerkannt, was auf staatlicher Ebene zu verhandeln ist und innerreligiöse Ausrichtungsfragen den Gemeinden überlassen - mit allen Problemen, die etwa jüdische Gemeinden heute haben.

Aber das ist eben deren Angelegenheit. Die DIK ist für mich ein Zeichen der dauerhaften Anerkennensverweigerung, denn die Anerkennungsfrage ist allein eine politische Entscheidung. Nach einer solchen müßten sich die Muslime einen Verwaltungsapparat geben, wie der Zentralrat der Juden einst entstanden ist.

Das war's. Alles andere ist dann sowieso auf Länderebene zu regeln und wird ja auch schon gemacht - ohne mediales Spektakel. Hier scheint mir vielmehr ein vermeintlicher Dialog zu PR-Zwecken geführt zu werden, um eben nützliche Stimmung im oben genannten Sinne zu machen - bis hin zur Flankierung rechtsstaatsfeindlicher Gesetzgebung.

Eine sinnvolle Diskussion wäre die, ob wir nicht lieber ein laizistischer Staat sein wollen - denn in Bezug auf Islam und Muslime wird oft laizistisch argumentiert, in bezug auf die anerkannten Religionsgemeinschaften aber nicht. Hier wäre dringend Ehrlichkeit und Gleichwertigkeit angeraten. Ich als Nichtreligiöse wäre froh um eine Diskussion über Laizismus versus Säkularismus.

Welche Fehler machen die muslimischen Organisationen im Umgang mit Politik und Öffentlichkeit in Deutschland?

Sie glauben, daß es um ihre Religion und deren Anerkennung geht. Die, die jetzt noch mitmachen, buhlen um Anerkennung und ignorieren die Erfahrung, daß sie in der Vergangenheit ständig gegeneinander ausgespielt wurden.

Das ist naiv, opportunistisch und kontraproduktiv. Sie akzeptieren damit die Vermischung von Innen- und Außenpolitik, etwa wenn auf die Situation in sogenannten islamischen Ländern verwiesen wird.

Wie könnte die Debatte um Integration und den Islam geführt werden, ohne daß dies Wasser auf die Mühlen der Rechten wäre?

Wer die Integrationsdebatte mit dem Islam verknüpft, hat schon das Wasser auf die entsprechenden Mühlen geschüttet. Da sind wir der Markierung der Religionszugehörigkeit auf den Leim gegangen. Etwa in Bildungsfragen haben Schüler iranischer Abstammung zumeist keine Probleme, sind sehr erfolgreich - im Gegensatz zu Schülern türkischer und italienischer Abstammung.

Wir müssen unabhängig von unserer geschärften Wahrnehmung für Muslime wieder zu sauberer soziologischer Empirie zurückkommen und auch nicht das Ergebnis eines langen Ausgrenzungsdiskurses mit den Betroffenen verwechseln, die darauf ebenfalls mit Ablehnung und Rückzug reagieren.

Das kennt man beispielweise auf der Spracherwerbsforschung: Kinder mit fremden Muttersprachen, die ein hohes Renommee genießen, lernen auch darum besser alle anderen Sprachen, weil bzw. wenn sie sich willkommen fühlen.

An welchen ethischen Grundsätzen müßte sich eine auch islamkritische Medienberichterstattung orientieren?

An den Grundsätzen von Religionskritik einerseits und denen des Berichtens über Verbrechen auf der anderen. Die Vermischung hier ist diskriminierend und rassistisch. Islamkritik, Christentumskritik, Judentumskritik, Buddhismuskritik müßte also die religiösen Lehren und Gepflogenheiten in den Blick nehmen, wobei das Selbstverständnis der Gemeinschaften nicht ignoriert werden darf.

Würden wir dem Atheismus die Verfehlungen einiger Atheisten vorwerfen, dann wäre er ebenso diskreditiert wie Religionsgemeinschaften oder andere Kollektive.

Schwieriger wird es, wenn es um die Berichterstattung von Verbrechen geht, die der Verbrecher mit einer Religions- oder anderen Gruppenzugehörigkeit begründet.

Hier ist zwischen seiner Strategie der Begründung und eben dem Selbstverständnis zu unterscheiden. Das gelingt meist aus der Innensicht besser als aus der Außensicht, d.h., wenn jemand »die Demokratie« als Argument benutzt, um z.B. einen Krieg im Irak zu rechtfertigen, durchschauen wir als Demokraten zumeist die Instrumentalisierung und verurteilen eher den Mißbrauch als die Demokratie als Wertesystem.

Fühlt man sich der mißbrauchten »Ideologie« aber nicht zugehörig, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, die Instrumentalisierung dem System zuzuschreiben, nicht dem, der mißbraucht. Dafür sollten wir uns mehr Bewußtsein erarbeiten. Denn oftmals sind es unsere eigenen Ängste, die wir auf andere projizieren und dann unsere eigene Zuschreibung mit deren Bild verwechseln.

Selbsternannte Kritiker, die oft eher an Haßprediger erinnern, vermischen Debatten um den Islam gern mit den Auseinandersetzungen um die Politik Israels und bezichtigen Personen und Verbände, die sich gegen den zunehmenden Antiislamismus stark machen, des Antisemitismus. Ist diese Strategie erfolgversprechend?

Diese Strategie wurde ja längst durchschaut und ist in einigen Publikationen beschrieben - in dem Buch von Constantin Wagner und mir, wie dem von John Bunzl und Alexandra Senfft sowie etlichen anderen.

Wie »erfolgversprechend« sie ist, läßt sich schwer einschätzen. Wie ein aktueller Newsletter des konservativen US-Publizisten Daniel Pipes ja verrät, arbeitet man massiv daran, Juden und Muslime gegeneinander aufzubringen. Die Religionisierung des Nahostkonflikts scheint zunächst für die Politik der israelischen Regierung von Vorteil.

Aber auch dem Völkerrecht verpflichtete Stimmen melden sich zunehmend zu Wort - entgegen der Linie der Kanzlerin. Nun hat aber das Herumwedeln mit Israelfahnen im antiislamischen Kontext ein perfides Wirkungspotential dahingehend, daß dem einfachen Gemüt hier quasi Verschwörungstheorien vorgelegt werden.

Derjenige, der nach einfachen Erklärungen für die zunehmende Islamfeindlichkeit sucht, könnte meinen, sie wären in einer »jüdischen« oder zumindest »zionistischen« Verschwörung zu finden. Genau hiermit spielt man, und das ist gefährlich. Es wäre eine Aufgabe für unsere Medien, dieses perfide Spiel zu entlarven und anzuprangern. Und auf der anderen Seite müssen wir ebenso dringend erörtern, was die Überdehnung des Antisemitismusbegriffs eigentlich anrichtet.

Der Verdienst der Antisemitismusforschung, das Problem als eines der Vorurteilsträger erkannt zu haben, wird hierdurch in Frage gestellt, wenn es von vermeintlichen Israelfreunden immer mit dem Tun von Juden verknüpft wird - als würden sich die genannten Politiker anders verhalten, als andere Politiker. Ein enormer Rückschritt mit noch nicht absehbaren Folgen.

Mancherorts wird bereits von Fachleuten diskutiert, daß der Antiislamismus den Antisemitismus als bedeutendste Haßideologie abgelöst habe. Wie ist Ihre Meinung?

Nein, nicht abgelöst - Antisemitismus gibt es nach wie vor, wenn auch nicht überall dort, wo er behauptet wird. Aber gerade im Zusammenhang mit der Wirtschaftskrise werden alte antisemitische Stereotype bemüht.

Islamfeindlichkeit ähnelt einigen antisemitischen Mustern, aber nicht allen. So wird der Welterklärungsanspruch des Antisemitismus nicht erreicht, auch wenn einige Blogger inzwischen hinter jeder Ölpreiserhöhung eine islamische Verschwörung wittern.

Und der Kulminiationspunkt des Antisemitismus im Nationalsozialismus ist nun wirklich unvergleichlich. Einige Diskursmuster des Antisemitismus im frühen 20. und 19. Jahrhundert und davor, sind jedoch wiedererkennbar im antiislamischen Diskurs. Etwa, wenn der Bau von Synagogen wie Moscheen angegriffen oder die Loyalität von Juden und Muslimen zum Staat in Frage gestellt wird.

Heute haben wir verbale und physische Angriffe gegen Juden und Muslime (teilweise sogar gegenseitig), sowie Schändungen von Moscheen und Synagogen sowie die Gräberfelder von Juden und Muslimen.

Menschen, die sich gegen antiislamische Ausfälle und rassistische Stimmungsmache betätigen, werden im Internet oftmals Ziel anonymer, aber auch offener Verleumdungskampagnen. Auch Sie haben in der Vergangenheit verschiedentlich Haß- und Drohmails bekommen ...

Nun, diese Auswüchse wundern mich ja nicht, und so nehme ich sie auch nicht persönlich. Allerdings, daß der hiesige Kommissar vom Staatsschutz nicht die Morddrohungen gegen mich verfolgt hat und die Staatsanwaltschaft meine Verfolgung durch die Rechtsextremen noch juristisch unterstützt, hat mir dann schon zu Denken gegeben.

Es war schon immer unpopulär, die Mißstände in der eigenen Community zu benennen. Rassismus wird ja allgemein geleugnet, und wenn jemand diesen benennt, macht man sich eben nicht beliebt. Insofern haben die Rechten wie Antilinken derzeit ein leichtes Spiel, Menschen wie mich zu diskreditieren.

Dabei verfolgen sie eine leicht zu entlarvende Strategie: Statt meinen Einsatz gegen Diskriminierungen anzugreifen, behaupten sie, ich würde für die kritisch beäugte Gruppe eintreten - also für Islam, für Muslime und eine angebliche Islamisierung, die Verschwörungstheorie des 21. Jahrhunderts.

Ich staune wirklich oft nicht schlecht, wie unter der Fahne der Aufklärung, antiaufklärerische Schlüsse gezogen und dem anderen unterstellt werden - etwa, wenn man sich gegen die Diskriminierung von Frauen mit Kopftuch einsetzt, wäre man für das Tragen des Kopftuches. So ein Schwachsinn!

Sie deuteten es bereits an. Sie wurden von der Justiz behelligt, weil Sie Kritik am Vorgehen von Polizei, Politik und Justiz bei der Ermordung der Ägypterin Marwa El-Sherbini am 1. Juli 2009 in einem Dresdner Gerichtssaal geübt haben. Was genau hatten Sie am staatlichen Vorgehen auszusetzen?

Nach wie vor bin ich der Meinung, daß die fehlende offizielle Verurteilung dieser Tat ein falsches Signal ist. Meine inkriminierten Interviewäußerungen bezogen sich auf den Schuß des Polizisten, der den Ehemann Marwa El-Sherbinis für den Täter hielt.

Dieser nie namentlich genannte Polizist, der Elwy Okaz ins Bein schoß, wurde vom Kommissar des Staatsschutzes, bei dem ich die Haß- und Drohmails einer »Politically Incorrect«-Kampagne zur Anzeige brachte, quasi aufgefordert, sich beleidigt zu fühlen und mich anzuzeigen. Dessen Anwalt stellte dann den entsprechenden Strafantrag. Dabei verdeckt diese Verfehlung des letzten Gliedes in der Kette nur alle anderen Versäumnisse.

So wurden die Drohungen des späteren Mörders nicht ernst genommen und Frau El-Sherbini als Zeugin nicht geschützt. Wir können uns fragen, ob eine Frau, die von einem Muslim so offen und dann noch schriftlich bedroht wurde, ebenfalls ungeschützt geblieben wäre und ob ein solcher ohne Untersuchung seines Rucksacks in ein Gerichtsgebäude gelangt wäre. Ja, und nun verdichten sich die Hinweise darauf, daß die Tatwaffe kein Küchenmesser war und daß viel mehr Polizisten anwesend waren, als zunächst berichtet.

Was haben die alle getan und die anderen im Prozeß? Soviel ich weiß, hat jedenfalls der Pflichtverteidiger des Mörders das Leben von Elwy Okaz gerettet, indem er sein Bein fachmännisch abband. Wäre der Mann nicht angeschossen worden, hätte auch das Kind versorgt werden können.

In der Pressemitteilung der Staatsanwaltschaft Dresden vom 21. Dezember 2009 heißt es aber kurioserweise, daß der Schuß des Polizisten weiteres Unheil vereitelt hätte. Ich bin nach wie vor für eine unabhängige Untersuchung.

Sie wurden in erster Instanz vom Vorwurf der »üblen Nachrede« freigesprochen. Die Staatsanwaltschaft hat jedoch kürzlich Revision gegen das Urteil eingelegt...

Auf diese Begründung bin ich sehr gespannt. Selbst wenn ich im Indikativ eine These vorgetragen hätte, so kann man daraus keine falsche Tatsachenbehauptung basteln und sich dann schließlich noch weigern, die Tatsachen prüfen zu wollen.

Interview: Lenny Reimann

* Aus: junge Welt, 22. Mai 2010 (Wochenendbeilage)

Buchtipp:

Schiffer, Sabine/Wagner, Constantin: Antisemitismus und Islamophobie - ein Vergleich
HWK-Verlag 2009, 260 Seiten, 24,80 Euro
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