Das Jahrhundert der Schia
Von Katajun Amirpur*
Die Situation nach den Wahlen im Irak
stellt eine besondere Ironie der Geschichte
dar: Faktisch haben die USA
dem schiitischen Klerus, von dem sie
durch die Revolution im Iran am schwersten
gedemütigt wurden, einen politischen
Handlungsspielraum eröffnet,
den dieser niemals zuvor hatte. Denn da
die Schiiten bei den Wahlen einen eindeutigen
Sieg errungen haben – was angesichts
ihres Bevölkerungsanteils von
60 Prozent auch nicht weiter überraschen
konnte –, werden sie zukünftig im
Irak unweigerlich tonangebend sein.
Seit der Islamischen Revolution im
Iran dürfte die Frage der politischen
Entwicklung des schiitischen Islam und
der Rolle der Geistlichkeit im politischen
Machtgefüge international nicht
mehr von so großem Interesse gewesen
sein wie heute.
Zwei der entscheidenden Fragen lauten:
Wird die schiitische Mehrheit im
Irak ein Staatsmodell nach dem Vorbild
Irans favorisieren, oder werden sich die
Schiiten auf ein demokratisches Modell
einlassen? Und welche Rolle wird der
Islam in der künftigen Verfassung des
Irak spielen?
Religiöser Staat erwünscht
Im Gegensatz zu den Annahmen Ahmed
Chalabis, Leiter des Irakischen
Nationalkongresses, und anderer Befürworter
einer Irak-Invasion, wie der
Islamwissenschaftler Bernard Lewis
und Michael Rubin vom American Enterprise
Institute, steht mindestens ein
Drittel aller Iraker dem von Khomeini in
Iran etabliertem Staatsmodell aufgeschlossen
gegenüber.
Umfragen zufolge befürworten sogar
70 Prozent aller Iraker einen religiösen
Staat, und ein noch größerer Anteil
wünscht sich, dass die Geistlichkeit eine
zentrale Rolle in Staat und Regierung
spielt.[1]
Die politische Lage im Irak ist somit
einerseits Beleg dafür, dass die gegenwärtige
Bedeutung des schiitischen
Islam kaum zu überschätzen ist. Andererseits
ist das Aufkommen eines starken
politischen Bewusstseins innerhalb
der irakischen Schia und die zentrale
politische Rolle, die die Schiiten im Irak
in Zukunft spielen werden, auch für
die anderen Staaten der Region höchst
bedeutsam.
In der Tat dürfte der schiitisch-sunnitische
Wettstreit um die Vorherrschaft
nicht nur zum wichtigsten Faktor hinsichtlich
Frieden und Stabilität im neuen
Irak werden. Dieser Konflikt wird
sich vielmehr auch auf andere Regionen
der islamischen Welt auswirken
und die bisherige Machtverteilung zwischen
Schiiten und Sunniten grundsätzlich
in Frage stellen.
Gegenwärtig sind die Schiiten – außer
im Iran – in ihren Heimatländern ausnahmslos
politisch unterrepräsentiert,
obschon sie beispielsweise in Bahrein
und im Libanon sogar die Mehrheit stellen.
Zum Teil sind sie – wie in Saudi-Arabien
– sogar schwerer Verfolgung ausgesetzt.
Angesichts der im Irak initiierten
Umverteilung der Macht prognostizieren
manche Autoren bereits, dass das
21. Jahrhundert als das Jahrhundert der
Schia in die Geschichte eingehen wird.
So vertritt der Leiter des Middle East
Studies Institute der Brown University,
William O. Beeman, die These, dass ein
„schiitischer transnationaler Block“ der
Schiiten aus Iran, Irak, Libanon, Bahrain,
Kuwait, Saudi-Arabien, Afghanistan,
Indien und Pakistan im Entstehen
begriffen sei. Und der Nahostexperte
Juan Cole spricht bereits von einer
„schiitischen Achse“, die die Politik des
Nahen Ostens dominieren wird.[2]
Iranisches Gegenmodell
Überaus bedeutend sind die Entwicklungen
im Irak vor allem für die Islamische
Republik Iran. Die ranghöchste
schiitische Autorität des Irak, Ajatollah
Ali al-Sistani, hinterfragt direkt die Legitimität
des iranischen Regierungssystems
– mit höchst gefährlichen Konsequenzen
für das Regime in Teheran.
Seit der Revolution von 1978/79 ist die
„Herrschaft des Obersten Rechtsgelehrten“
die Staatsdoktrin Irans. Sie
besagt, dass der 12. Imam, der im
9. Jahrhundert entschwand und dessen
Rückkehr die Schiiten erwarten, in seiner
herrschaftlichen Funktion durch
einen Rechtsgelehrten vertreten wird.
Diese Regierungsweise wird von den
iranischen Staatsklerikern als gottgewollt
postuliert.
Der in Nadschaf ansässige al-Sistani
vertritt allerdings die gegenteilige Ansicht.
Er argumentiert, dass Gott dem
gesamten Volk die Souveränität übertragen
habe und nicht einem einzelnen
Rechtsgelehrten. Er ist bereits der populärste
Geistliche im Irak, in Bahrain
und im Libanon – und er weitet seine
Aktivitäten in den Iran beständig aus.
Vor allem wegen der großen Wirkung
al-Sistanis ist den konservativen Klerikern
Irans wenig daran gelegen, dass
die irakische Theologenstadt Nadschaf
wieder zum geistigen Mittelpunkt der
schiitischen Welt aufsteigt. Über zweieinhalb
Jahrzehnte haben sie der eigenen
Bevölkerung das iranische System
als gottgegeben präsentiert. Jetzt aber
erklärt mit al-Sistani eine der wichtigsten
Autoritäten des schiitischen Islam,
diese Staatsform sei nicht gottgegeben
und nicht schiitisch – und eine andere
sei ihr gegenüber eindeutig vorzuziehen,
nämlich die Demokratie.
Tatsächlich stellt das iranische System,
also die Vertretung des 12. Imam
durch einen Rechtsgelehrten, eine revolutionäre
Neuerung innerhalb des schiitischen
Staatsdenkens dar. Denn der
schiitische Mainstream ging über Jahrhunderte
hinweg davon aus, dass nur
die Herrschaft des 12. Imam rechtmäßig
ist. Deshalb sei es in der Zeit seiner Abwesenheit
unwichtig, wer herrsche. Diese
Auffassung führte zur Trennung von
Staat und Religion; und aus der politikfernen,
quietistischen Haltung der schiitischen
Gelehrten resultierte deren
grundsätzliche Zustimmung zur Monarchie.
Natürlich ist der Quietismus aber
ebenso gut mit der parlamentarischen
Regierungsform vereinbar.
Für den Obersten Rechtsgelehrten
Irans, Ali Chamenei, besteht daher
Handlungsbedarf. Er sieht sich zunehmend
mit Gegnern der „Herrschaft des
Obersten Rechtsgelehrten“ im eigenen
Lande konfrontiert. Hinzu kommt, dass
Nadschaf wieder zu seiner historischen
Bedeutung zurückfindet. Dieses geistige
Zentrum ist nach wie vor das prestigeträchtigste
schiitische Lehrinstitut
weltweit, wenn es auch unter Saddam
Hussein nur wenig Wirkung entfalten
konnte. Nadschaf könnte sich jetzt zu
einem Sammelbecken der iranischen
Opposition entwickeln.
Dafür gibt es ein historisches Vorbild:
Gerade weil er sich im Exil befand und
dem Zugriff der iranischen Behörden
entzogen war, konnte Ayatollah Khomeini
in den 60er und 70er Jahren wirksam
gegen Schah Mohammad Reza
Pahlavi agieren und agitieren. Jetzt
emigrieren iranische Geistliche, die
aufgrund ihrer abweichenden politischen
Haltung im Iran starken Repressionen
ausgesetzt sind, wieder in den
Irak. Unter ihnen befand sich eine Zeit
lang auch der Enkel Khomeinis, Hassan
Khomeini. Von geschichtsträchtigem
Orte aus wetterte er gegen das iranische System, welches nichts mit dem
gemein habe, das seinem Großvater
einst vorschwebte. Für eine wirkungsmächtige
iranische geistliche Opposition
zur iranischen Theokratie kann es
jedenfalls keinen besseren Zufluchtsort
Ort als Nadschaf geben.
Khamenei muss folglich auf die Ereignisse
in Nadschaf Einfluss nehmen,
was ihm die Wortführer der amerikanischen
Neokonservativen und irakische
Politiker auch unterstellen. Gerade vor
dem Hintergrund der sich ständig verschlechternden
Verhältnisse im Iran gewinnt
ein anderes politisches System im
Irak natürlich mehr und mehr an Attraktivität
für die iranische Bevölkerung:
Dem iranischen System ist die
Gesellschaft abhanden gekommen; die
Mehrheit der Bevölkerung ist unzufrieden
und wendet sich vom Staatsmodell
Khomeinis ab. Falls der Irak mit Unterstützung
der USA tatsächlich eine freiheitliche
Ordnung entwickeln sollte,
wäre dieses Beispiel dem iranischen
Regime schwerlich willkommen.
Mossadegh-Komplex
Im Moment allerdings spielt der USPräsident
dem Regime eher in die Hände.
Denn in der Atomfrage ist sich die
Bevölkerung relativ einig mit den Herrschenden.
Dass Washington den Iranern
die friedliche Nutzung von Atomenergie
mit dem Argument vorenthalten
will, das Land verfüge über reiche
Ölvorkommen, halten die meisten für
pure Arroganz. Sogar hinsichtlich der
Atombombe ist sich die Bevölkerung
einigermaßen einig. „Auch wir wollen
Mitglied im Club sein“, heißt es überall.
Die Bombe ist inzwischen zu einer Frage
des nationalen Stolzes geworden.
Das Argument der Amerikaner, Bomben
dürften nur „vernünftig agierende
Regierungen“ haben, halten viele für
regelrecht lachhaft.
In der Tat ist dies eine Frage der Perspektive:
Vielen Menschen in der islamischen
Welt gelten die Regierungen
der USA und Israels kaum als „vernünftig“
oder „verlässlich“. Zudem sehen
sich die Iraner umgeben von Atomstaaten
– Indien, China, Pakistan, Israel –,
und in der Vergangenheit haben sie
nicht gerade die Erfahrung gemacht,
dass die Weltgemeinschaft ihrem Land
zur Hilfe eilt, wenn es angegriffen wird.
Auch akzeptiert Teheran nicht, dass Israel
der Besitz der Bombe gestattet ist,
dem Iran jedoch nicht.[3] Wenn überhaupt,
würde sich der Iran auf eine Abrüstung
im gesamten Nahen Osten einlassen.
Und natürlich hat auch das Regime
in Teheran angesichts der unterschiedlichen
Behandlung Iraks und
Nord-Koreas gelernt, dass man angegriffen
wird, wenn man die Bombe
nicht hat – nicht aber, wenn man sie hat.
Was die kritische Haltung der Bevölkerung
gegenüber den USA anbelangt,
kommt ein wichtiges, geschichtlich begründetes
Phänomen hinzu: der so genannte
Mossadegh-Komplex. Mohammed
Mossadegh, der damalige Ministerpräsident
des Iran wurde von der
CIA weggeputscht, weil er das iranische
Erdöl verstaatlicht hatte. Er war
der einzig demokratisch gewählte Regierungschef,
den der Iran jemals hatte,
und das Volk stand hinter seiner Politik;
was Mossadegh tat, fand seine unbedingte
Zustimmung. Nicht jedoch die
der Amerikaner und Briten. Sie beseitigten
Mossadegh und setzen an seiner
statt den verhassten Schah Mohammad
Reza Pahlavi wieder ein, der vor dem
Volk und Mossadegh ins Ausland geflohen
war. In den folgenden Jahrzehnten
war Pahlavi die Marionette der Amerikaner,
„unser Gendarm am Golf,“ wie
Jimmy Carter ihn noch im Sommer 1978
– kurz bevor er ihn dann fallen ließ –
nannte. Und die Amerikaner selbst gebärdeten
sich wie Besatzer im Iran.
Die „Volksseele“ hat dies nie vergessen.
Seither reagiert man reflexartig,
wenn Einmischung oder Angriff von
außen drohen – und schart sich hinter
dem Regime zusammen. Das geschieht
selbst dann, wenn das herrschende Regime
so verhasst ist wie das gegenwärtige.
Auch dafür gibt es einen Präzedenzfall:
den Iran-Irak-Krieg. Nichts
dürfte das Leben der iranischen Theokratie
so sehr verlängert haben wie dieser
Krieg. Hauptsache, nicht von einem
Araber beherrscht werden, war damals
das Argument der tief nationalistischen
iranischen Bevölkerung. Was aber sollte
heute aus Sicht der Bevölkerung an
einer amerikanischen Besatzung besser
sein? Wie sie abläuft, haben die Iraner
gegenwärtig im Nachbarland täglich
abschreckend vor Augen.
Dabei gab es eine Zeit, da versprach
man sich sogar etwas von einer USIntervention.
Im Frühjahr 2003, nach
dem Fall der Saddam-Statue in Bagdad,
konnten viele einer amerikanischen
Intervention einiges abgewinnen. Aus
einem Grund: Die Leute im Iran sind
vor allem müde, ausgebrannt und
zutiefst frustriert. Sie haben in den vergangenen
Jahren an eine Reformierbarkeit
der Islamischen Republik geglaubt
und dabei viel Geduld aufgebracht.
Aber Irans Konservative
torpedieren bis heute jeden Reformversuch
und bringen damit das Volk immer
mehr gegen sich auf. So sehr, dass es
vor zwei Jahren ausgerechnet im Amerika
unter George W. Bush seine einzige
Rettung wähnte. Nach dem Fiasko
im Irak denken die meisten Iraner
jedoch inzwischen anders. Daran konnten
auch die irakischen Wahlen nichts
Entscheidendes ändern. Schon deshalb
ist das Szenario höchst abwegig, das
offensichtlich nach wie vor einige Hardliner
in der Bush-Administration entwerfen:
Demnach würden die Iraner
sofort zum Aufstand schreiten, wenn
Washington einzelne Nuklearanlagen
bombardierte. Tatsächlich dürfte das
fatale Gegenteil der Fall sein: Nichts
könnte dem Regime in Teheran eine
größere Zustimmung verschaffen als
ein Angriff der USA.
Fußnoten-
Juan Coles Weblog, www.juancole.com, am 9. und 19.12.2004; www.bostonreview.net/
BR28.5/cole.html.
-
William O. Beeman, Killing Ayatollah Is Start of
Iraqi Civil War, Pacific New Service, 29.8.2003,
http://news.pacificnews.org/news/article/view
_article.html; ders., The U.S.-Shi’ite Relationship
in a New Iraq: Better than the British? In:
„Strategic Insights“, 5/2004, (Internet-Version);
Juan Coles Weblog, a.a.O., 9.12.2004.
-
Vgl. Mohssen Massarrat, Das Spiel mit dem
Feuer, in: „Freitag“, 45/2004: ders., Iran: Atom-
Konflikt auf Raten, in: „Blätter“, 1/2005, S. 25 ff.
* Katajun AMIRPUR, geb. 1971 in Köln, Islamwissenschaftlerin und Publizistin; Emmy-Noether-Stipendiatin der DFG in Leiden.
Dieser Beitrag erschien in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 3/2005, S. 263-266
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