Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Weg zur Freiheit und Demokratie - Der Aufbruch des Islam

Von Hans Jörg Sandkühler *

Ansage (Ralf Caspary, Redaktion der Sendung):
Der seit 2012 andauernde Kampf der arabischen Völker um Freiheit macht uns Westeuropäern auch Angst, denn wir befürchten, dass der Islam die Oberhand gewinnen könnte, dass Religion und Politik eine gefährliche Allianz eingehen könnten, dass es keinen Fortschritt gibt, sondern einen Rückschritt ins Mittelalter. Schließlich haben ja in Ägypten bei den Wahlen die Muslimbrüder gewonnen, immerhin eine islamische Partei. Doch diese europäische Angst geht an der arabischen Realität vorbei, das sagt Professor Hans Jörg Sandkühler, der lange Zeit als Philosoph an der Uni Bremen lehrte. Als Mitglied des Internationalen Beirats des Instituts für Demokratie und Menschenrechte an der National University in Südkorea gilt sein besonderes Interesse den Menschenrechten und der Demokratie.
In der SWR2 Aula zeigt Sandkühler, warum man nicht von dem Islam sprechen kann und was die arabischen Intellektuellen genau unter Demokratie und Modernität verstehen.


Hans Jörg Sandkühler:

Der Arabische Frühling hat in Tunesien begonnen. In Tunesien spricht man von der Revolution des 14. Januar, der Flucht des Diktators Ben Ali und seines Familienclans, der sich der Institutionen des Landes und nahezu der gesamten Ökonomie bemächtigt hatte. Revolution des 14. Januar – in dieser Redeweise spiegelt sich eine geradezu illusionäre Hoffnung auf schnellen Wandel, nicht aber, dass Revolutionen historische Prozesse sind, die an einem Tag weder beginnen noch enden. Inzwischen wird schmerzlich bewusst, dass sich die Probleme, die die Revolution ausgelöst haben, nicht kurzfristig in Luft auflösen konnten: weder die Macht des Polizeistaats noch die politischen Institutionen und Kader des alten Regimes, weder soziale Ungerechtigkeit und Ungleichheit noch die Arbeitslosigkeit vor allem der Jugend.

Die öffentliche Meinung „im Westen“ hat die revolutionären Prozesse in Nordafrika als Kampf um Menschenwürde und Menschenrechte begrüßt. Inzwischen zeigt sie sich aufgrund der Wahlen in Tunesien und in Ägypten desillusioniert. Warum, so wird hilflos gefragt, sind islamistische Parteien die Sieger? Diese Frage lässt erkennen, welcher Mangel an Wissen die Öffentlichkeit im Westen belasten. Worin besteht dieser Defekt? Zunächst einmal in der verbreiteten Meinung, Demokratie und Islam passten nicht zusammen, gerade so, als wären die Muslime nicht einfach Menschen mit Sehnsucht nach Achtung ihrer Würde, ihrer Rechte und Freiheiten, nach sozialer Sicherheit und deshalb nach Demokratie. Der zweite Grund zeigt sich in realitätsfernen Begriffen: in der Rede von der arabischen Welt, dem Islam und der Shari'a. Der dritte Grund ist der 11. September, ist die voreilige Identifizierung von Islam, Islamismus und Terrorismus. Aufklärung ist notwendig – über die islamisch-arabischen religiösen und politischen Kulturen und über Menschenrechtsverständnisse, die in sie eingebettet sind.

Den Islam hat es nie gegeben; es gibt Sunniten – die Mehrheit – und unter ihnen verschieden Glaubensrichtungen; es gibt Schiiten, Sufis und Salafiten. Ihre Glaubensprinzipien und Rechtsvorstellungen sind nicht homogen. Die arabische Welt hat es nie gegeben; von Syrien bis Marokko leben Menschen in Gesellschaften mit höchst unterschiedlichen religiösen Traditionen und politischen Verfassungen. Die Shari„a hat es so wenig gegeben wie das islamische Recht, das oft fälschlich mit der nie verschriftlichten und für verschiedenste Interpretationen offenen Shari„a gleichgesetzt wird. Die Shari„a ist die Gesamtheit der islamischen religiösen, moralischen und rechtlichen Normen. Sie darf nicht mit dem unmenschlichen Strafrecht z.B. in Saudi-Arabien oder im Iran gleichgesetzt werden. Auch wenn sich arabisch-islamische Staaten in ihrer Verfassungen auf die Shari'a berufen, steht nicht fest, welche Bedeutung sie ihr zuschreiben und ob sie damit überhaupt strafrechtliche Vorschriften verbinden.

Ferner wird im Westen weithin verkannt, dass die Menschenrechtsverletzungen durch autoritäre arabische Regime bereits vor der Revolution auf zivilgesellschaftlichen, immer wieder unterdrückten Widerstand gestoßen sind. Die vier Menschenrechtserklärungen, die zwischen 1981 und 2004 von islamischen und arabischen Staaten verabschiedet wurden, sind kein Ausdruck des Islam als Religion. In ihnen spiegelt sich ein politisierter Islam, der die Religion missbraucht. Und schließlich drängt sich eine Frage auf, vor der viele zurückscheuen: Sollten wir im so genannten Kampf gegen den Terrorismus die zahllosen Toten vergessen, die Opfer der Kriege, die im Irak oder in Afghanistan im Namen von Menschenrechten und Demokratie geführt werden?

Aufklärung ist in vielfacher Hinsicht nötig. Nach Jahren intensiver Zusammenarbeit mit Philosophen, Juristen, Theologen und Islamwissenschaftlern – vor allem in Tunis, aber auch in Algier und Rabat – liegt mir daran, arabisch-islamische Stimmen zu Wort kommen zu lassen, die ihr Bild von Religion, Revolution und Demokratie zeichnen; Stimmen, die erklären, dass und warum sich die Verteidigung von Demokratie und Menschenrechten nicht gegen den Islam richten muss, sondern gegen Islamismus als politische Ideologie. Weder die von Salafiten in Ägypten geforderte Rückkehr zum autokratischen Kalifat noch der iranische Gottesstaat folgen zwingend aus dem Koran, der – nicht anders als die Bibel – jahrhundertelang verschieden interpretiert worden ist. Der Koran muss als Dokument seiner Zeit gelesen werden – der Zeit vor 1400 Jahren. Dies gilt auch für die sunna und für die hadith, die Überlieferungen der im Koran nicht enthaltenen Verbote und religiös-moralischen Warnungen des Propheten. In einem hadith heißt es: „Gott sendet dieser Gemeinschaft [des Islam] zu jeder Jahrhundertwende einen Menschen mit dem Auftrag, die Religion zu erneuern.“

Warum setzen Menschen in den ersten freien Wahlen ihre Hoffnung auf den Islam, warum auf religiös orientierte Parteien? Sie richten ihre vom Staat enttäuschten Hoffnungen auf die Erneuerung eines authentischen Islam, auf eine Alltagsreligion, die Gerechtigkeit und Frieden will, Pluralismus nicht verhindert und mit Demokratie vereinbar ist. Sie bekennen sich zum Vers 256 der zweiten Sure des Koran, der lautet: „Es soll kein Zwang sein im Glauben.“

Der Islam spielt nicht erst jetzt eine Rolle im arabischen politischen Leben. Anders als im laizistischen Tunesien, einem Land mit uneingeschränkten Frauenrechten und bis zur Revolution ohne Islamismus, hat er in anderen Ländern schon lange eine politische und vor allem eine soziale Rolle übernehmen müssen. In Ägypten haben die Muslimbrüder und in Algerien haben radikale Islam-Anhänger das völlige Versagen des Rechts- und Sozialstaats kompensiert: Die Moschee war für die Armen der Ort sozialer Hilfe, und das im Staat nicht mehr zu erwartende Recht konnten die Geistlichen sprechen.

Dies ist die eine Seite der Medaille. Doch man kann die Augen nicht vor Tendenzen verschließen, die zumindest mittelbar mit dem Islam verbunden sind: vor der im Namen der umma, der islamischen Gemeinschaft, erzwungenen Re-Islamisierung des Rechts, vor der Missachtung der Rechte der Frauen, vor Todesurteilen bei Abfall vom Glauben und vor der Zunahme von Bewegungen, die zu Gewalt greifen, sobald sie göttliches Recht verletzt glauben. Aber nicht weniger irreführend wäre die Behauptung, dies alles sei eben der Islam. Innerhalb der heutigen islamischen Kultur gibt es unüberhörbar Selbstkritik. „Krise des Islam“ ist ein bei Intellektuellen gängiges Stichwort. Der tunesische Psychoanalytiker Fethi Benslama fragt – so wörtlich – „nach der Verletzung, die im Feld des Islam einen derart verzweifelten Willen zu Zerstörung und Selbstzerstörung freigesetzt hat“. Er antwortet: Was die Muslime erreichen müssten, sei eine Befreiung ohne Zugeständnisse an den Ursprung, der diese Verwüstung hervorgebracht habe. Sie seien zu Ungehorsam verpflichtet, im Inneren ihres Selbst und gegenüber den Formen der Knechtschaft, die zu dieser Depression geführt hätten.[1]

Um welchen Islam geht es, zu dessen Erneuerung aufgerufen wird? „Religion“ bedeutet im Islam gelebte Gewohnheit und das Verlangen nach Wahrheit und solidarischem gerechten Verhalten. Der Ruf nach Erneuerung erinnert uns Europäer zugleich an die große Zeit der islamischen Kultur zwischen dem 8. und 13. Jahrhundert, eine Zeit der Aufklärung und der Blüte von Philosophie, Wissenschaft, Medizin und Dichtung. Zwischen Bagdad und dem arabischen Spanien gab es eine hochentwickelte Kultur. Für sie stehen Gelehrte wie al-Farabi, Ibn Sinna oder Ibn Rushd. Nach dem Ende der arabischen Besetzung Siziliens im Jahre 1085 flossen viele von Arabern übersetzte und kommentierte Werke der griechischen Antike in die europäische Kultur ein.

In der Debatte über eine erneuerte muslimische Identität wird freilich auch ein Widerspruch nicht verschwiegen. Fathi Triki, der Inhaber des für den ganzen arabischen Bereich zuständigen UNESCO-Lehrstuhls für Philosophie in Tunis, schreibt in seinem jetzt auf Deutsch erschienenen Buch Demokratische Ethik und Politik im Islam:

„So paradox dies auch erscheinen mag, wird der gewöhnliche Islam [...], der Islam des Gewissens, zu Recht immer als Anregung zu Frieden und Brüderlichkeit wahrgenommen, als religiöse Einstellung der Unterwerfung unter Gott, aber auch als Unterwerfung unter die politische Autorität des Landes. Der gewöhnliche [...] Islam stellt sich als soziale, durch gegenseitige Hilfe, Hospitalität, Toleranz, Großzügigkeit, Mäßigung und Frömmigkeit gekennzeichnete Ethik dar.“[2]

Triki betont, dass Islamität in ihrem Kern kein Hindernis für ein demokratisches Zusammenleben darstellt. Die islamischen Länder seien zu einem wirklich demokratischen Leben fähig, und der ‚gewöhnliche‟ Islam könne den Laizismus als politische Gestaltungskraft der Gesellschaft akzeptieren.[3]

Dies hat Folgen für die Identität der Muslime. Triki schreibt: „Muslim sein kann [...] nichts anderes besagen, als die bewusste Zugehörigkeit zum islamischen Glauben. Jenseits dieser Wahl ist man ganz einfach Bürger eines Landes in einer Gesellschaft, in der verschiedene Existenzweisen koexistieren. Ich spreche vom Bürger, vom citoyen in seinem Verhältnis zu seiner Gemeinschaft, in der er nicht verpflichtet ist, über [...] seine religiösen Überzeugungen Auskunft zu geben. Was auch immer unsere Überzeugungen sein mögen, ob wir Laizisten, Atheisten oder Konfessionslose sind – wir werden immer als Muslime identifiziert. Der erste Akt der religiösen Freiheit besteht darin, diese Identifizierung zu dekonstruieren, die Notwendigkeit, dass das Individuum zum Vorschein kommt, die Notwendigkeit, das Leben vernünftiger zu gestalten und die Gesellschaft zu säkularisieren“.[4]

Dies ist der Horizont, an dem sich klar abzeichnet, warum nicht der Islamismus, sondern der gewöhnliche Islam den tunesischen Frühling geprägt hat. Triki schreibt hierzu: „Die revoltierende Bevölkerung hat an nichts anderes als an Freiheit und Würde gedacht. [...] Der Rückzug in eine falsche Identität, zu dem seitens des nationalistischen Dogmatismus und des religiösen Fundamentalismus ermutigt wurde, hat in dieser Revolution nicht stattgefunden; sie wurde nicht von ihrem vorrangigen Ziel, nicht von der Sehnsucht nach Freiheit abgelenkt.“[5]

Ägypten und Libyen haben diese Erfahrung nicht geteilt. In Ägypten müssen sich die Muslimbrüder die Macht mit den radikalen Salafisten teilen, die einen Gottes-Staat wie im Iran anstreben. Im libyschen Stämmekrieg spielen von Saudi-Arabien unterstützte Al-Kaida-Aktivisten eine nicht unerhebliche Rolle. Dies kann erklären, warum es in Algerien nach der Erfahrung eines verheerenden Bürgerkrieges mit über 150.000 Toten und aus der Befürchtung, die Islamisten könnten sich durchsetzen, zu einem Stillhalteabkommen zwischen der Opposition und der Staatsmacht gekommen ist. So erklärt sich auch, warum der marokkanische König Mohammed VI. angesichts einer explosiven sozialen und politischen Lage nach Massenprotesten die Flucht in Verfassungsreformen angetreten hat.

Die politische und soziale Lage in den arabischen Ländern begründet die Forderung nach Demokratie. Der tunesische Verfassungsrechtler und Präsident der nationalen Kommission für politische Reformen Yahd Ben Achour zieht folgende Bilanz: „Jetzt ist die Demokratie als Ausdruck zwischenmenschlicher Gerechtigkeit vom ganzen Volk verinnerlicht, und der politische Islamismus, gleich welcher Tendenz, muss sich auf die massenhafte Verbreitung der Idee der Demokratie einstellen. Er wird auf den ‚Geist des Islam‟ setzen müssen, und zwar gegen dessen Buchstaben.“[6]

Was bedeutet es dann, dass bei den Wahlen in Tunesien zur Verfassunggebenden Versammlung die aus dem Londoner Exil zurückgekehrte konservativ-islamische Partei Ennadha die Mehrheit der Sitze erringen konnte? Wir sollten uns daran erinnern, dass die CDU nach vierzig Jahren Staatssozialismus die letzten Volkskammerwahlen in der DDR mit 40,8 Prozent gewonnen hat. Eine realistische Einschätzung wird auch berücksichtigen, dass Ennadha bei 7,5 Millionen Stimmberechtigten nur etwa 1,5 Millionen Stimmen erhalten hat, also nicht mehr als 20 Prozent, und eine Koalition mit laizistischen Mitte-Links-Parteien eingehen musste.

Anders stellt sich die Lage nach dem Wahlsieg der Muslimbrüder und islamistischer Parteien in Ägypten dar, die jetzt um die Macht rivalisieren. Die „Revolution des 25. Januar“ wurde nicht ausschließlich von säkularen Kräften getragen. Adonis, einer der bedeutendsten arabischen Dichter der Gegenwart, befürchtet eine Machtübernahme radikaler Islamisten in seiner Heimat Syrien und kommt zu dem bitteren Urteil, ein Kalifat sei gar nicht nötig. Die religiöse Tendenz genüge. [...] Die Revolution in der arabischen Welt [...] habe keine Chance, wenn sie nicht laizistisch sei. Würden Religion und Staat nicht getrennt, würde nicht den Frauen volle Gleichberechtigung gegeben und befreiten sich die Muslime von den Scharia-Gesetzen, dann würde nur eine Despotie durch eine andere ersetzt. Die Militärdiktatur kontrolliere das Denken. Aber die religiöse Diktatur kontrolliere das Denken und auch den Körper, die Sprache und den Alltag. Das sei die totale Diktatur.[7]

Der Arabische Frühling konfrontiert deshalb mit der Frage „Welche Demokratie?“. Kulturrelativisten behaupten, Demokratie sei eine Erfindung des Westens und auf andere Kulturen nicht übertragbar. Dem widerspricht Ben Achour: Das tunesische Volk habe gezeigt, dass die Idee der Demokratie weder eine Idee des Orients noch des Okzidents, sondern für die ganze Menschheit konstitutiv sei. Die Kultur, vor allem die moderne Rechtskultur, habe nur den Deckmantel lüften müssen, unter dem dies verhüllt gewesen sei – den Mantel der Entfremdung, der Tradition, des Konformismus, der Orthodoxie der Macht und der Massen, der Gewissheit und der Überheblichkeit.

Doch welche Demokratie? Ja, es geht um eine rechtsstaatliche Demokratie. Im Vordergrund aber steht die Forderung nach sozialer Demokratie, um vor allem das Problem der Jugendarbeitslosigkeit und des Verlusts der Zukunftsperspektiven zu lösen. Welche Demokratie? Ben Aschour antwortet, die Tunesier hätten begriffen, dass die aus dem Westen importierte Legende der Demokratie tot sei. Sie sei nichts gewesen als eine im Interesse der Diktatur kolportierte Lüge, die auch von deren westlichen Freunden verbreitet worden sei, um den Muslimen einzureden, die Demokratie sei das Vorrecht der vornehmen Nationen, während für sie die Diktatur besser sei, gäbe sie ihnen doch das tägliche Brot. Das Land aber habe letztlich weder ein Recht auf Brot noch auf Freiheit gehabt. Das Volk habe sich solchen Lehren verweigert, und die Idee der Demokratie habe so durch das tunesische Volk ihre Ehre und soziale Würde erhalten.[8] Genau dies ist der Kontext, in dem sich in Tunesien binnen kürzester Zeit über 3.000 zivilgesellschaftliche Vereinigungen gegründet haben – Zeichen jener aktiven Demokratie, zu der Fathi Triki betont:

„Die aktive Demokratie schreibt das Gesamt der Grundrechte in die Verfassung ein [...]. Darüber hinaus kann sie aufgrund dieser Fundierung ein System sozialer Solidarität etablieren, um Jedermann die sozialen Voraussetzungen einzuräumen, die er braucht, um [...] in aller Unabhängigkeit die Grundfreiheiten zu genießen. [...] Im realen Leben ist derjenige, der nicht über das Minimum an Mitteln zum Leben verfügt, weder unabhängig noch frei. Soziale Solidarität ist eine der unabdingbaren Voraussetzungen demokratischen Zusammenlebens.“[9]

Hieraus leitet Triki seine Kritik am Westen ab, der Menschenrechte und die Demokratie den Kalkülen ökonomischer Macht opfere. Nicht weniger nachdrücklich ist seine Kritik am Islamismus und an den vier islamischen und arabischen Menschenrechtserklärungen, die alle Rechte unter den Vorbehalt der Shari'a stellen.

Ihrem Anspruch nach stützen sich diese Erklärungen auf das islamische Recht. Tatsächlich aber greifen sie nur auf das zwischen dem 8. und 12. Jahrhundert entwickelte klassische sunnitische Recht zurück. Von neueren Reformdiskursen zeigen sie sich unbeeindruckt. Sie widersprechen offen der Universalität der Menschenrechte. Kritik an ihnen ist notwendig, doch es sind einige Aspekte zu berücksichtigen, soll sich die Kritik nicht pauschal gegen den Islam richten:

Die vier Erklärungen gründen in konservativen Interpretationen des Islam und der Shari‟a und dienen den Interessen autoritärer Staaten. Es handelt sich nicht um Erklärungen von Rechten, sondern von Pflichten gemäß Gottesrecht. Verbreitete Behauptungen, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 sei eine säkulare Interpretation der jüdisch-christlichen Tradition und für Muslime nicht maßgeblich, verdrängen die Tatsache, dass an ihrer Aushandlung in den Vereinten Nationen islamische Staaten überproportional beteiligt waren, nämlich 10 von 56 Staaten. Zu berücksichtigen ist schließlich aber auch, was Kofi Annan in Erinnerung gerufen hat: Die meisten Muslime seien sich der Tatsache bewusst, dass ihre Religion und Zivilisation einst große Teile Europas, Afrikas und Asiens dominiert habe. Sie wüssten, dass dieses Reich nach und nach verloren gegangen und fast jedes muslimische Land unter direkte oder indirekte westliche Kontrolle geraten sei. Heute sei der Kolonialismus vorüber, aber viele Muslime lehnten sich gegen ihre offensichtliche Ungleichheit gegenüber dem Westen im Bereich der Machtpolitik auf.

Viele verspürten ein Gefühl der Niederlage und der Benachteiligung. Ihr Groll werde durch die ungerechte Behandlung der Palästinenser noch verstärkt.[10]

Die meisten regionalen Menschenrechtserklärungen sind religiös und weltanschaulich neutral und kulturenübergreifend formuliert. Dies gilt für die islamischen und arabischen Menschenrechtserklärungen nicht. Gegen das internationale Menschenrechte-Recht erheben sie Anspruch auf einen islamischen Universalismus. Die 1981 verabschiedete Allgemeine Erklärung der Menschenrechte im Islam führt in ihren 23 Artikeln 123 Koranverse und Zitate aus der sunna an und geht aus von der – wie es in der Präambel heißt – „vorbehaltslosen Anerkennung der Tatsache, dass der menschliche Verstand unfähig ist, ohne die Führung und Offenbarung Gottes den bestgeeigneten Weg des Lebens zu beschreiten“. Bestimmte Koran-Fragmente lassen sich zu autoritären Zwecken instrumentalisieren, vor allem jene über die Unterordnung der Frauen. Im Artikel über die Rechte der Ehefrau wird Sure 4, Vers 34, zitiert:

„Die Männer stehen über den Frauen, weil Gott sie vor diesen ausgezeichnet hat und wegen der Ausgaben, die sie von ihrem Vermögen gemacht haben. Und die rechtschaffenen Frauen sind demütig ergeben [...]“.

Seit dieser Erklärung wird eine auch in den arabischen Gesellschaften umstrittene Strategie verfolgt: Es soll erklärt werden, dass die Menschenrechte integraler Bestandteil der Shari'a sind. Die 1990 in Kairo angenommene Islamische Menschenrechtsdeklaration legt in Art. 25 fest, die Shari'a sei der einzige Bezugspunkt für die Erklärung oder Erläuterung eines jeden Artikels in dieser Erklärung. Diese Deklaration und die Arabische Menschenrechtscharta von 1994 verfolgen eine anti-universalistische Tendenz. Die von der Arabischen Liga 2004 revidierte und 2008 völkerrechtlich in Kraft getretene Fassung bekräftigt zwar verbal die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, und die Rechte und Freiheiten von Frauen, Kindern und Minderheitsangehörigen sollen geschützt werden. Doch auch diese Charta beruft sich auf die Kairoer Erklärung von 1990 und stellt so eine Quadratur des Kreises dar. Die Rechte der Frauen werden erneut in Art. 3 eingeschränkt, in dem es heißt: „Männer und Frauen sind gleich in ihrer Würde, ihren Rechten und Pflichten, und zwar im Rahmen der durch die islamische Shari„a und andere göttliche Gesetze sowie Gesetzgebung und internationale Instrumente zugunsten der Frauen eingeführten positiven Diskriminierung.”

Einen arabischen Menschenrechtsgerichtshof gibt es nicht. Protokollerklärungen islamischer Staaten schränken auch die Rechte ein, die sich aus von diesen Staaten unterzeichneten Konventionen und Pakten der Vereinten Nationen ergeben; die erklärten Vorbehalte betreffen vor allem die Frauenrechte, aber auch die Rechte auf Meinungs- und Religionsfreiheit – und zwar unter Verweis auf die Shari„a. Fathi Triki kritisiert die Kairoer Erklärung so: „Anstatt ein Text eindeutiger Beförderung der Menschenrechte zu sein, ist die Kairoer Erklärung in einer relativistischen Perspektive der Selbstversicherung einer bedrohten und übel zugerichteten Identität verfasst, die um so mehr für andauernden Rassismus und die immer stärker anbrandende Welle von Islamophobie verantwortlich ist, je angreifbarer die politischen Regime der muslimischen Länder aufgrund von zwei fehlenden Voraussetzungen sind: Rechtsstaat und demokratische Legitimität.“[11]

Für die tatsächliche rechtliche Lage in den arabischen Ländern sind die genannten Menschenrechtserklärungen nicht repräsentativ. In den meisten Ländern sind koranische Gebote, arabisches Gewohnheitsrecht, römische und andere Rechtselemente sowie Elemente europäischen, während der Kolonialzeit importierten Rechts ineinander verwoben. Aus der Bindung an den Koran einerseits und an die Charta der Vereinten Nationen andererseits ergibt sich ein Normenkonflikt. Die Mehrheit der islamischen Staaten hat die UN-Charta unterzeichnet und ist zwei einander widersprechenden Normensystemen verpflichtet: dem System, das den Bürgern Freiheiten garantiert, und der Shari„a, auf deren Basis diese Rechte einschränkt werden.

Würde mein Bericht hier enden, so hätte er nur die halbe Wahrheit zur Sprache gebracht. Denn den islamischen und arabischen Menschenrechtserklärungen stehen – vor allem in den 1990er Jahren – intellektuelle Diskurse über eine Stärkung der arabischen Zivilgesellschaft und ein mutiges Menschenrechts-Engagement entgegen.

Die intellektuelle Debatte in arabischen Ländern, in der nach dem Status von Recht und Gesetz im Islam und nach der universellen Geltung der Menschenrechte gefragt wird, ist nicht weniger vielstimmig als im Westen. Der ägyptische politische Philosoph Mahmoud Bassiouni kommt zwar zu einem eher ernüchternden Ergebnis, wenn er feststellt, das einzige Ziel dieser Debatte bestehe darin zu beweisen, dass Muslime zum Menschenrechtsschutz nicht unfähig seien. Der muslimische Menschenrechtsdiskurs leiste keinen eigenständigen Beitrag zur Förderung und Erweiterung des allgemeinen Menschenrechtsverständnisses, da es ihm in erster Linie darum gehe, die an ihn gerichteten Vorwürfe zu entkräften, um das Stigma des menschenrechtlichen Problemkinds loszuwerden.[12]

Wäre mehr nicht zu sagen, dann fiele die Bilanz wenig hoffnungsvoll aus. Aber es gibt mehr. Es gab und gibt wichtige zivilgesellschaftliche Aktivitäten im arabischen Raum. Die Kritik an den konservativen Menschenrechtserklärungen spiegelt sich auch in Erklärungen von Nichtregierungsorganisationen. So bekennt sich die 1999 verabschiedete Casablanca Declaration of the Arab Human Rights Movement zur Universalität der Menschenrechte. Sie verwahrt sich gegen die anti-universalistische politische Manipulation der Bevölkerungen seitens arabischer Staaten im Namen patriotischer Gefühle und religiöser Eigenart.[13] Die Beirut Declaration von 2003 wirft die Frage auf „Welche arabische Menschenrechtscharta wollen wir?“ In der Erklärung heißt es, Zivilisationen oder religiöse Besonderheiten sollten nicht als Vorwand dazu missbraucht werden, Zweifel an der Universalität der Menschenrechte zu säen.[14] Verwiesen sei schließlich auf die 2004 im Jemen verabschiedete Declaration on Democracy, in der es heißt, Demokratie und Menschenrechte bedingten sich wechselseitig und seien untrennbar.[15]

Mit welcher Einstellung sollten wir heute den arabischen Gesellschaften begegnen? Wir sollten sie ermutigen, ihre eigenen Hoffnungen zu verwirklichen, und dies bedeutet auch: ihre Demokratie. Wir sollten nach Prinzipien eines Kosmopolitismus der Differenz handeln. Die Anerkennung des Pluralismus schließt allerdings den Widerstand gegen einen bestimmten Relativismus ein: Rechtsrelativismus ist die schlechteste Form der Anerkennung von Differenz und der Achtung der Andersheit der Anderen.

Auch für den arabischen Frühling gilt: Verhältnisse, in denen die Menschenwürde geschützt und die Menschenrechte politische und soziale Wirklichkeit sein können, haben drei Voraussetzungen: den Staat als demokratisch verfassten Rechts- und Sozialstaat, die Beherrschung nichtstaatlicher, vor allem ökonomischer Gewalt durch das Recht und jene transnationale Gerechtigkeit, die alle allen schulden.

Fußnoten
  1. Fethi Benslama, Déclaration d’insoumission. A l’usage des musulmans et de ceux qui ne le sont pas, Paris 2005, S. 12.
  2. Fathi Triki, Demokratische Ethik und Politik im Islam. Arabische Studien zur transkulturellen Philosophie des Zusammenlebens. Aus d. Franz. übers. v. Hans Jörg Sandkühler, Weilerswist 2011, S. 203.
  3. Ebd., S. 11 f.
  4. Ebd., S. 221.
  5. Ebd., S. 12 f.
  6. Yadh Ben Achour, Die Menschenrechte im Islam denken oder die zweite Fâthia. In: MenschenRechtsMagazin, Heft 1/2012.
  7. Adonis, „Ich unterstütze die Opposition nicht“. Von Georg Hoffmann-Ostenhof und Tessa Szyszkowitz. In: profil online. http://www.profil.at/articles/1206/560/318878/syrien-ich-opposition.
  8. Yadh Ben Achour, Die Menschenrechte im Islam denken oder die zweite Fâthia. In: MenschenRechtsMagazin, Heft 1/2012.
  9. Fathi Triki, Demokratische Ethik und Politik im Islam. Arabische Studien zur transkulturellen Philosophie des Zusammenlebens. Aus d. Franz. übers. v. Hans Jörg Sandkühler, Weilerswist 2011, S. 143-146.
  10. Kofi Annan, Der Dialog der Zivilisationen. Rede vor d. Zentrum f. Islamische Studien, Oxford, 28. Juni 1999. In: Die Vereinten Nationen im 21. Jahrhundert. Reden und Beiträge 1997-2003, hg. v. M. Fröhlich, Wiesbaden 2004.
  11. F. Triki, Demokratische Ethik und Politik im Islam. Arabische Studien zur transkulturellen Philosophie des Zusammenlebens. Aus d. Franz. übers. v. H.J. Sandkühler, Weilerswist 2011, S. 219.
  12. Mahmoud Bassiouni, Menschenrechte und die Suche nach einer islamischen Identität. In: MenschenRechts-Magazin, Heft 1/2012.
  13. The Casablanca Declaration of the Arab Human Rights Movement. Adopted by the First International Conference of the Arab Human Rights Movement Casablanca, 23-25 April, 1999.
  14. In: A. Chase/A. Hamzawy (eds.), Human Rights in the Arab World. Independent Voices, Philadelphia 2006, S. 227.
  15. In: ebd., S. 233.
*****

* Zum Autor:
Prof. em. Hans Jörg Sandkühler, geb. 1940 in Freiburg/Brsg., studierte Philosophie und Rechtswissenschaft in Innsbruck, Münster und an der Sorbonne in Paris. Er habilitierte sich 1970 an der Universität Gießen und war anschließend erst Professor für Philosophie an der Universität Gießen, von 1974 bis 2005 an der Universität Bremen. Gastprofessuren führten ihn an die Universität in Turin und Paris. Als Mitglied des Internationalen Beirats des Instituts für Demokratie und Menschenrechte an der Chponnam National University in Südkorea gilt sein besonderes Interesse, neben der Rechts- und Staatstheorie, den Menschenrechten und der Demokratie.
Bücher (Auswahl):
  • (Hrsg.) Enzyklopädie Philosophie 2. Aufl., Felix Meiner Verlag, Hamburg, 2010.
  • (Hrsg.) Recht und Moral, Felix Meiner Verlag, Hamburg, 2010.
Redaktion der Sendung im SÜDWESTRUNDFUNK: Ralf Caspary; Sendetermin: Sonntag, 1. Juli 2012, 8.30 Uhr, SWR 2
URL: http://www.swr.de/swr2/programm/sendungen/wissen/-/id=9761948/property=download/nid=660374/1h0x7jf/swr2-wissen-20120701.pdf

Mit freundlicher Genehmigung des Autors und des SWR.



Zurück zur Islam-Seite

Zur Seite "Naher Osten, arabischer Raum"

Zurück zur Homepage