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Ein diskussionswürdiges Phänomen: Ramadan

Der Verzicht als Ritual – am Montag beginnt der Fastenmonat

Von Emel Zeynelabidin *

Das Fasten im Monat Ramadan, das eine der fünf Pflichten des Islam ist und von Muslimen seit 14 Jahrhunderten alljährlich praktiziert wird, ist einzigartig und eine fast unvorstellbare Leistung. Es ist ein Phänomen von altem, religiösem Ritual, das sich bis heute gehalten hat, und das, auf den ersten Blick, in keine logischen Erklärungen von Wissenschaft hineinpasst. Diesem Phänomen wird meiner Meinung nach weder von Muslimen noch von Nichtmuslimen das ihm gebührende Interesse geschenkt.

Wenn ich heute als Muslimin, die erziehungsbedingt mit diesem Fasten sehr vertraut ist, in meinem nichtmuslimischen Bekanntenkreis von den Besonderheiten des Ramadan erzähle und zum Beispiel die vom Fasten befreite Personengruppe aufzähle, dann erlebe ich absolute Unkenntnis. Was ist in den Jahrzehnten eigentlich an Zusammenwachsen zwischen Muslimen und Nichtmuslimen in unserer Gesellschaft wirklich passiert? Eine praktische Auseinandersetzung mit den verschiedenen Lebensrealitäten würde ein vermehrtes gegenseitiges Verständnis füreinander entwickeln und das nötige Vertrauen schaffen, um gesellschaftliche Annäherungsprozesse zwischen Muslimen und dem Rest der Welt gemeinsam zu entwickeln. Gesten der Achtung vor dem Ramadan mittels medialer Auftritte deutscher Politiker haben leider bisher nicht zu diesem Ziel geführt.

Das Fasten der Muslime beinhaltet den Verzicht auf jegliche feste und flüssige Nahrungsaufnahme und auf Geschlechtsverkehr. Heute gehört auch das Rauchen dazu. Es beginnt mit der Morgendämmerung und endet beim Eintritt des Sonnenuntergangs. Der Fastenmonat Ramadan ist ein Monat im Mondkalender. Deshalb wandert er im gregorianischen Kalender jedes Jahr um circa zehn Tage zurück. Im Sommer, wenn die Sonne später untergeht, sind diese Fastentage also sehr viel länger als im Winter.

Befreit von dieser alljährlichen Pflicht sind Kinder, Schwangere, Stillende, Menstruierende, Reisende, aber auch Kranke. Aufgeschoben ist allerdings nicht aufgehoben: die versäumten Tage werden bei den Erwachsenen nachgeholt. Der Ramadan bietet eine Möglichkeit, sich darauf zu besinnen, was es bedeutet, Hunger und Durst auszuhalten und seinen sexuellen Trieb zu kontrollieren. Das Fasten als kollektives Gruppengeschehen spendet vielen die nötige Kraft dazu.

Als praktizierende Muslimin war ich aus Gewohnheit und Erziehung in meinen Ritualen zuhause. Ich hatte keinen Anlass, interessiert zu hinterfragen was ich überhaupt dabei genau tat. Und wenn es in diesen Zusammenhängen zu Belastungen und Konflikten kam, dann gehörte das alles als »irdische Prüfung« einfach dazu. Heute sehe ich diese Dinge aus einer anderen Perspektive und wundere mich sehr, warum sich die für Diskussionen offene und forschende nichtmuslimische Mehrheitsgesellschaft als »Ausgeschlossene« nicht fragt, was sie als Nichtmuslime dabei vielleicht versäumt. Hier müsste jetzt die Neugierde geweckt sein, um sich gegenseitig Fragen zu stellen; Fragen, die angstfrei sind und aus Interesse rühren.

Welches Gottesbild bestimmt das Ritualverhalten? Muslime glauben an einen Zusammenhang von Handlungen im Diesseits und deren Konsequenzen im Diesseits, aber auch in einem jenseitigen Leben. In einer Ausgabe der monatlich erscheinenden deutschsprachigen »Islamischen Zeitung« erfährt der Leser, dass »der Ramadan jedes Jahr eine Schuld sei, die man bei Gott habe und erfüllen müsse, also eine Verpflichtung Ihm gegenüber«.

Weiter ist die Rede von einer Vorbereitung für einen Lohn im Paradies, das als Paradiesgarten und Haus im Paradies beschrieben wird. Dann heißt es, dass »Allah einem die Dinge ja einfach mache, wenn man etwas für Ihn tun würde«. Es handelt sich also um ein festgelegtes Gottesbild, das vom Menschen Opfer abverlangt, um ihn mit einem Paradiesversprechen zu belohnen, das jedem aber noch in weiter Ferne liegt und eigentlich für uns, die wir noch leben, völlig unbekannt sein müsste. Mich irritiert die Vorstellung, für einen allmächtigen Gott etwas tun zu müssen, um sein Wohlwollen zu erlangen. Im Falle des Fastens im Ramadan stellt sich mir die einfache Frage, wie nach heutigen Erkenntnissen so etwas körperlich extrem Belastendes und im sozialen Miteinander Konflikte Auslösendes überhaupt auf eine Forderung eines allmächtigen Gottes zurückgeführt werden kann, der es mit einem doch nur gut meint. Allmacht, so stelle ich es mir vor, müsste eigentlich andere Kriterien und Maßstäbe der Wahrnehmung, der Beurteilung, der Vorgehensweise haben als wir Menschen. In dieser Widersprüchlichkeit liegt eine große Herausforderung zur Klärung, der wir uns endlich stellen müssen.

Arbeiten und Lernen machen hungrig. Die Menschen damals zur Zeit des Propheten Muhammed lebten in der Wüste und waren keineswegs den körperlichen und geistigen Herausforderungen unserer Lebensumstände ausgesetzt. In einem Land wie Deutschland, das nicht nach den islamischen Regeln lebt, stehen Berufstätige und Schüler beim Fasten unter erheblicher körperlicher und geistiger Belastung.

So wie das Rauchen per Gelehrtenbeschluss verboten wurde, so müssten neben der vom Fasten befreiten Personengruppe eigentlich auch Berufstätige und Schüler in einer nichtmuslimischen Gesellschaft per Gelehrtenbeschluss vom Fasten befreit werden. Schließlich wird heute muslimischen Profi-Fußballern aus beruflichen Gründen das Fasten per Gelehrtenmeinung auch freigestellt. Lehrer und Ärzte könnten sich zu den körperlichen Problemen ihrer Schüler und Patienten vielfach äußern.

In den geschichtlichen Überlieferungen aus der Zeit der ersten Muslime wird berichtet von Jahren des großen Mangels, in denen sich die Gläubigen im Ramadan nur mit dem Verzehr von Datteln begnügen mussten. Überhaupt galt damals schon die Ernährungsempfehlung Muhammads, seinen Magen nur zu einem Drittel mit Wasser und zu einem Drittel mit fester Nahrung zu füllen, und das letzte Drittel für das Atmen frei zu lassen. Heute ist leider ein anderes Extrem verbreitet, nämlich nach Ende eines Fastentages eine absolut ungesunde Ernährungsweise, die einer Völlerei gleichkommt.

Das konsequente Verzichten als Handlungsmaßstab für die Selbstdisziplin ist eine wichtige therapeutische Erfahrung. Es kann psychisch sehr stark machen, wesentlicher Bestandteil der Selbstkontrolle sein, die Entscheidungsfähigkeit schulen und die eigene Willensstärke bestätigen. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, ist dieser temporäre Verzicht der alltäglichen Lebens- und Genussmittel, der Verzicht, die natürlichen Bedürfnisse zu befriedigen eine durchaus wichtige Maßnahme mit großem Gewinn.

Aber braucht denn jeder gesunde Erwachsene diese Maßnahme auch gleichermaßen? Oder geht es etwa um andere Interessen, als von Gelehrten mit dem Verordnen eines religiösen Rituals als unverrückbare Pflicht eine kollektive Bewegung gemacht wurde?

Nach meiner Idealvorstellung sollten diese kostbaren Erfahrungen als Maßnahme nicht aufgrund von Gehorsam und Unterordnung einer verordneten Pflicht, sondern aus eigenem Willen und ehrlicher Überzeugung erfolgen und möglichst in einem Lernprozess der Selbsterkenntnis und vorbildlichen Gesellschaftsfähigkeit münden. Der permanente Druck von auferlegten Verpflichtungen durch das islamische Rechtswesen erschwert jedoch massiv den Freiraum für selbstbestimmtes Handeln. Dabei warnt selbst der Koran vor Selbstbetrug und Heuchelei. Auch für diesen Widerspruch muss mit Mut zur Ehrlichkeit endlich Klarheit geschaffen werden.

Nach vier Wochen des Fastenrituals wird wie alle Jahre wieder das ersehnte Ende des Ramadan kommen. Es wird drei Tage lang gefeiert, und viele dieser diskussionswürdigen Nachteile werden dann wieder vergessen. Das alljährliche Schönreden, mit dem der Ramadan empfangen wird, ist viel zu einseitig und trägt nicht dazu bei, eine Diskussionsbasis zu schaffen, die für die kommenden Generationen eine andere, nämlich bessere Qualität von Glauben schaffen würde.

Wie viele dieser Ramadan-Monate müssen wohl noch eintreten, damit einerseits Nichtmuslime Fragen an die fastenden Muslime stellen, um zu begreifen, und andererseits Muslime kritische Fragen stellen, um ihre religiöse Vorstellungswelt zu überprüfen?

* Emel Zeynelabidin, geboren 1960 in Istanbul, aufgewachsen in Niedersachsen, ist Publizistin und beschäftigt sich mit dem interreligiösen Dialog. 2005, ausgelöst durch den sogenannten Kopftuchstreit, legte sie ihre Kopfbedeckung ab. Im April 2007 wurde ihr in Speyer der Lutherpreis »Das unerschrockene Wort« für ihre Auseinandersetzung mit der heutigen Lebensrealität, mit der sie ein konsequentes Religionsverständnis entwickelt hat, verliehen. Im September und Oktober wird in einem Berliner Kino der Dokumentarfilm HÜLLEN zu sehen sein, der sich mit Emel Zeynelabidin beschäftigt. Mehr zum Film unter: www.huellenfilm.ch.

Aus: Neues Deutschland, 30. Juli 2011



Gegessen wird erst nach Sonnenuntergang

Der islamische Monat Ramadan hat gestern begonnen / Berliner Muslime üben sich in Verzicht

Von Nissrine Messaoudi **


Während sich viele Berliner in diesen zumeist trüben Tagen nach der Sonne sehnen, freuen sich rund 200 000 Muslime um so mehr über den Sonnenuntergang. Denn für sie hat der Fastenmonat Ramadan gestern wieder begonnen. Vier Wochen lang üben sich praktizierende Muslime im körperlichen Verzicht. Essen, Trinken, Rauchen und Sex sind zwischen Morgengrauen (arabisch Fjer) und Sonnenuntergang (Maghreb) untersagt. An langen Sommertagen keine leichte Aufgabe.

»Die ersten zehn Tage sind die schwierigsten. Wenn sich der Körper jedoch an die Umstellung gewöhnt, ist es halb so wild«, weiß Ender Çetin vom Landesverband der Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion (DITIB).

Da sich der islamische Kalender nach dem Mond richtet, verschiebt sich der Ramadan jährlich um zehn Tage. So fällt der »heilige Monat« 2011 in die Sommerferien. »Viele türkisch- oder arabischstämmige Berliner befinden sich noch im Urlaub. Das heißt, dieses Jahr läuft Ramadan in der Hauptstadt ruhiger ab als gewohnt«, so Çetin. Auch das späte Fastenbrechen nach 21 Uhr bringe Veränderungen mit sich. Im Monat Ramadan ist es nämlich üblich, abends mit Verwandten, Freunden oder Nachbarn im geselligen Beisammensein zu speisen. Das verlagere sich nun vermehrt aufs Wochenende.

Viele der rund 80 Moscheen in der Hauptstadt bieten an Wochenenden ein gemeinsames Abendessen an. Einige wenige sogar täglich. Die Neuköllner Sehitlik Moschee am Columbiadamm, auf die in diesem Jahr bereits vier Mal ein Anschlag verübt worden ist, setzt verstärkt auf religiöse Vielfalt. Die Gemeinde lädt nämlich Muslime und Nichtmuslime zum gemeinsamen Essen ein.

Doch weniger gegessen wird in den vier Wochen keineswegs. Insbesondere Süßigkeiten und Gebäck werden in großen Mengen verputzt. Traditionell leitet man den hedonistischen Abend mit einer Dattel ein, die den Zuckerspiegel wieder in die Höhe treibt. Dann folgt eine leichte Suppe und erst später warmes Essen. Vom Fasten ausgenommen sind Kranke, Schwangere, Reisende und Kinder.

Warum tut man sich das an? Wird sich der ein oder andere fragen. »Um den Willen zu stärken und sich auf seine spirituelle Seite zu konzentrieren«, meint Ashraf Boudri. Der 36-jährige Informatiker entzieht sich während des Ramadans »so weit es geht« dem Alltag. »Ich muss zwar zur Arbeit, aber danach lass' ich es ruhig angehen.« Ab und zu nehme er gerne eine Einladung von Freunden zum Essen an. Für ihn bedeute Ramadan allerdings mehr als auf den Sonnenuntergang zu warten. »Ich lese viel, beschäftige mich mit mir und genieße den Monat.« Dennoch, sagt Boudri, sei er froh, wenn nach vier Wochen zu jeder Tageszeit das Loch im Bauch gestopft werden darf.

** Aus: Neues Deutschland, 2. August 2011


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