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Als Zeitbomben stigmatisiert

Das Bundesinnenministerium bleibt jeden Beweis für eine massenhafte Radikalisierung junger Muslime schuldig, die es mit der Plakatkampagne "Vermißt" suggeriert

Von Ulla Jelpke *

Mit der Plakatkampagne »Vermißt« präsentiert das Bundesinnenministerium auf fiktiven Steckbriefen junge Männer zumeist migrantischer Herkunft im Stile flüchtiger Verbrecher. Ein Text unter dem Bild eines freundlich schauenden Jugendlichen lautet: »Das ist unser Sohn Ahmad. Wir vermissen ihn, denn wir erkennen ihn nicht mehr. Er zieht sich immer mehr zurück und wird mit jeden Tag radikaler. Wir haben Angst, ihn ganz zu verlieren – an religiöse Fanatiker und Terrorgruppen.« Offiziell soll die Kampagne für die »Beratungsstelle Radikalisierung« beim Bundesamt für Flüchtlinge und Migration werben. Dort sollen sich Angehörige oder Freunde melden, wenn jemand aus ihrem Umfeld in den islamischem Fundamentalismus abgleitet. Bei muslimischen Dachverbänden stößt diese 300000 Euro teure Werbekampagne in Deutsch, Türkisch und Arabisch auf massive Kritik. Der Zentralrat der Muslime, der mit der türkischen Regierung verbundene Moscheenverband DITIB, der Verband der Islamischen Kulturzentren (VKIZ) und die Islamische Gemeinschaft der Bosniaken haben aufgrund dieser »Fahndungsaktion« ihre Sicherheitspartnerschaft mit dem Bundesinnenministerium auf Eis gelegt. Die Kampagne schüre Vorurteile gegen muslimisch aussehende Jugendliche und beschwöre eine gesellschaftliche Paranoia herauf, fürchten die Verbände. In einem Brief an die Vereinten Nationen und die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) äußert die Türkische Gemeinde ihre Sorge, »daß durch diese Plakataktion Muslime in der Mehrheitsbevölkerung stigmatisiert werden«.

Tatsächlich suggerieren die Plakate eine massenhafte Radikalisierung junger Muslime in Deutschland. Es entsteht der Eindruck, hinter harmlosen und freundlichen Gesichtern lauerten gefährliche Schläfer und tickende Zeitbomben, die nur darauf warten, sich »religiösen Fanatikern und Terrorgruppen« anzuschließen. Während der Bundesinnenminister dafür jeden Beweis schuldig bleibt, bewirkt die öffentliche Stigmatisierung von Muslimen letztlich eine weitere Ausgrenzung, die am Ende tatsächlich einige in die Arme radikaler Kräfte treiben kann.

Vor allem aber werden durch die Kampagne die von rassistischen Kleinparteien wie ProNRW und Websites wie Politically Incorrect geschürten antimuslimische Ressentiments in der Bevölkerung gestärkt, wonach der Islam eine zu Fanatismus und Gewalt neigende Religion ist. Der Erfolg des seit seinem Erscheinen im Jahr 2010 über 1,5 Millionen mal verkauften Buches »Deutschland schafft sich ab« des ehemaligen Bundesbankers Thilo Sarrazin, der muslimischen Zuwanderern pauschal eine geringere Intelligenz unterstellte und Integrationsverweigerung vorwarf, zeigt, welche Zustimmung derartige Ressentiments gerade in der sogenannten Mitte der Gesellschaft, unter Besserverdienenden und Akademikern, haben. Dies zeigt auch die 10-Jahres-Studie »Deutsche Zustände« des Forscherteams um den Bielefelder Sozialwissenschaftler Wilhelm Heitmeyer, nach der sich fast 30 Prozent der Befragten für einen Zuwanderungsstopp für Muslime aussprechen und fast 40 Prozent sich durch Muslime zu Fremden im eigenen Land gemacht sehen. Nach einer 2011 veröffentlichten Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung meinen gar 58,4 Prozent der Bevölkerung, »für Muslime in Deutschland sollte die Religionsausübung erheblich eingeschränkt werden«. Weitgehend unbeachtet findet diese Islamophobie ihren Wiederhall in zahlreichen Anschlägen und Schändungen von Moscheen. Eine Studie von 2011 listet 122 Anschläge und rund 50 Schändungen gegen 92 islamische Gotteshäuser während der letzten 30 Jahre auf, die Mehrzahl davon innerhalb der letzten zehn Jahre. Zu einem deutlichen Anstieg kam es folglich nach den New Yorker Anschlägen vom 11. September 2001 – in einem von Medien und politisch Verantwortlichen geschürten Klima des Generalverdachts gegen Muslime. Diese Stimmungen bedient die Vermißt-Kampagne des Bundesinnenministeriums nun weiter.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 05. September 2012


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