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Der Hass kommt aus der Mitte der Gesellschaft

Der Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung Wolfgang Benz warnt vor einer wachsenden Islamfeindschaft


ND: Auf ein islamisches Kulturzentrum wurde am Donnerstag in Berlin erneut ein Brandanschlag verübt. Zuvor wurde bereits an der Sehitlik- und an der Al Nur Moschee gezündelt. Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen den Taten und der Debatte über Muslime?

Ja, natürlich sehe ich einen solchen Zusammenhang. Denn wenn in der Öffentlichkeit eine Debatte hochgekocht wird, in der sich Wortführer hasserfüllt gegenüber Muslimen äußern und mit schlichten Parolen Überfremdungsängste stimulieren, dann muss man nur noch abwarten, bis es soweit ist und bis der erste Brandsatz gegen eine islamische Einrichtung fliegt.

Können wir von einer wachsenden Islamfeindschaft in der Mitte der Gesellschaft sprechen oder ist das ein Randproblem?

Das ist bestimmt kein Randproblem. Das sieht man ja an den Verkaufszahlen und an der Akzeptanz des Buches des ehemaligen Finanzsenators Thilo Sarrazin. Da ist ein Bedürfnis in der Mitte der Gesellschaft getroffen worden, das mit billigen Parolen bedient wird. Da wird Hass gesät und das sind die unmittelbaren Früchte.

Sie haben in der Vergangenheit Islamophobie und Antisemitismus verglichen und wurden dafür stark kritisiert.

Es gab von vielen seriösen Wissenschaftlern Zustimmung. Von unseriösen Menschen wurde ich hingegen mit einer Hass- und Schmutzkampagne überzogen. Kritik ist etwas anderes, Kritik meint Dialog, meint Diskussion.

Ich bleibe aber bei diesem Vergleich. In beiden Fällen geht es darum, dass sich aus der Mehrheitsgesellschaft Hass gegen eine bestimmte Minderheit entwickelt. Im 19. Jahrhundert und auch im 20. Jahrhundert waren die Juden als Kollektiv das Objekt des Hasses. Die sogenannten Islamkritiker wollen jetzt ein Bild entwerfen, nachdem die Muslime weil sie Muslime sind, Bösewichte, unsere Feinde sind, die uns bedrohen. Es geht nicht um die Handlungen, um Charaktereigenschaften der Minderheit oder der Vertreter der Minderheit.

Im späten 18. Jahrhundert begann die Talmud-Hetze. Das heißt, man hat Juden wegen des Talmud diffamiert. Derzeit steht Koran-Hetze von selbsternannten Experten in vollster Blüte.

Sind das Nachwehen des 11. Septembers?

Selbstverständlich.

Andere machen die Wirtschaftskrise für das Feindbild Islam verantwortlich.

Die Krise fördert Existenz- und Überfremdungsängste. Es braucht also einen Nährboden, das ist die ökonomische, die soziale Situation. Und man braucht einen Anlass, mit dem man die Gefährlichkeit der Minderheit darstellen kann, und das war der 11. September.

Vor Kurzem wurde eine Studie veröffentlicht, die belegt dass Ressentiments gegenüber Muslimen in Deutschland im europäischen Vergleich weit oben rangieren. Haben Sie dafür eine Erklärung?

Ich fürchte, Ressentiments sind hier tief verwurzelt. Das ist wirklich eine außerordentlich erstaunliche Tatsache, dass die sogenannte Islam-Kritik in diesem Lande so besonders rabiat und radikal tobt, als säße uns das Messer an der Kehle. In Frankreich und den Niederlanden ist man gelassener als bei uns. Das halte ich für ein sehr gefährliches Zeichen. Es ist auch ein Beleg dafür, dass wir uns, 20 Jahre nach der Wiedervereinigung, immer noch in einer Identitätskrise befinden. Denn immer, wenn es eine Identitätskrise gibt, schließt sich die Mehrheit zusammen und denunziert Minderheiten und macht die zu Sündenböcken.

Gerade in Berlin gibt es viele Projekte, die Toleranz in der Gesellschaft stärken sollen. Was kann man noch tun?

Man muss beharrlich weiterarbeiten, man muss Aufklärungsarbeit betreiben, die politische Bildung ist gefordert, die Schulen sind gefordert. Das Bündnis für Demokratie und Toleranz und die Integrationsbeauftragten sind gefragt.

Wir können nicht auf der einen Seite sagen, wir brauchen Ausländer bzw. Migranten, weil wir zu wenig Facharbeiter haben. Das ist ja im Augenblick wieder Gegenstand der Debatte. Und auf der anderen Seite werfen wir Migranten vor, ihr seid gefährlich, ihr seid alle Terroristen.

Gegen diese Verallgemeinerung müssen wir kämpfen. Da spielen selbstverständlich auch die Medien eine große Rolle. Denn sie geben den Menschen, die von einer Islamisierung Europas reden, immer wieder eine Plattform.

Fragen: Nissrine Messaoudi

* Aus: Neues Deutschland, 11. Dezember 2010


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