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Der Karikaturenprotest und die Zustände in der arabischen Welt

Von Heinz-Dieter Winter*

Als der Herausgeber der dänischen Zeitung „Jyllands-Posten" Karikaturen über den Propheten Mohammed veröffentlichte, die ihn auch als Terroristen mit einer Bombe darstellten, hat wissen müssen, dass das von Millionen von Muslimen als schändliche Blasphemie empfunden würde. Angesichts des seit dem Irak-Krieg angestauten antiwestlichen Zorns hätte ihn auch der Proteststurm, der sich von Afghanistan bis Marokko in der ganzen islamischen Welt erhob, nicht überraschen dürfen. Wenn nun doch solche Karikaturen in der Zeitung erschienen, so muß man sich wie der türkische Ministerpräsident Erdogan wohl fragen, ob es sich um eine „offene Provokation" handelt, die dazu dienen soll „der Welt Bilder der Gewalt aus der muslimischen Welt vorzuführen". Die amerikanische Aussenministerin Condoleeza Rice machte Iran und Syrien als „Einpeitscherin" gewaltsamer Proteste aus. Und schon erklärten syrische Oppositionelle im Exil, daß diese amerikanische Haltung der erste Schritt zum „regime change" in Damaskus sei. Gleichzeitig wird der Iran mit Militärschlägen wegen seiner Urananreicherunsvorhaben bedroht. Gerade solche Reaktionen werden von vielen Muslimen als einen durch den Westen auferlegten Belagerungszustand empfunden und nähren Befürchtungen, daß der Westen im Hinblick auf seine strategische und Rohstoffinteressen zukünftige weitere militärische Interventionen im Nahen und Mittleren Osten beabsichtigt, um dort eine ihm genehme „Ordnung" zu schaffen. Die gegenwärtige Situation führt zu einem weiteren Anwachsen antiwestlicher Stimmungen in der islamischen Welt. Im Protest gegen diese Mohammed-Karikaturen entluden sich angestauter Frust, Demütigung, tiefste Unzufriedenheit und Ohnmacht angesichts der von vielen, vor allem jungen Menschen, in großen Teilen der islamischen Welt als hoffnungslos empfundenen politischen und sozialen Lage und einer Politik des Westens, die wegen des „Krieges gegen den Terrorismus", der Aggression gegen den Irak und der nachfolgenden Entwicklung als Fortsetzung kolonialen Vorherrschaftsstrebens und gegen den Islam gerichtet empfunden wird. In den gegenwärtigen Ereignissen haben wir es nicht nur mit dem spontanen Protest von Muslimen, sondern auch mit dem Agieren von Kräften zu tun, die diesen Protest für ihre politischen Ziele instrumentalisieren wollen. Radikale Islamisten nutzen sie, um ihren antiwestlichen Jihad („Heiliger Krieg")gegen den Westen zu propagieren, arabische Regimes dulden oder fördern sie sogar, um von den eigenen Defiziten, fehlender Demokratie, sozialen Missstände und Menschenrechtsverletzungen abzulenken. Aber es gibt auch verantwortungsvolle Stimmen in der islamischen Welt und in islamischen Gemeinschaften Europas, so die Islamische Konferenzorganisation, die die Karikaturen verurteilen, aber gleichzeitig zur Besonnenheit und Mäßigung aufrufen. Auch der Hamas-Führer Khaled Mechaal erklärte, dass Hamas dafür eintritt, die Situation zwischen der islamischen Welt und den westlichen Ländern zu entspannen. Droht der der „Kampf der Kulturen" von dem der Harvard-Professor Samuel Huntington vor mehr als zehn Jahren schrieb? Wie die anwachsenden islamistischen Bestrebungen in der islamischen Welt aber auch fundamentalistische Tendenzen in Israel und den USA zeigen, wird Religion im wachsenden Maße für politische Zwecke instrumentalisiert, aber im Grunde handelt es sich um politische, wirtschaftliche und soziale Gründe, die einem möglichen Konfliktszenarium Westen versus islamische Welt zugrunde liegen. Wie sich die Lage in der Europa benachbarten Region der Nahen und Mittleren Ostens entwickelt und wie die Politik Europas, des Westens insgesamt, sich gegenüber dieser Region verhält, wie Europa zur Stabilisierung der Lage, insbesondere zur Beilegung der Konflikte, beiträgt ist von Belang für Frieden und Sicherheit beiderseits des Mittelmeeres.

Entwicklungsblockade und Möglichkeiten ihrer Überwindung

In den letzten Jahren haben arabische Wissenschaftler drei aufwühlende Berichte über den Zustand der arabischen Welt im Auftrag der UNO-Spezialorganisation UNDP (United Nations Development Programme) veröffentlicht, die Berichte über den Stand der menschlichen Entwicklung AHDR (Arab Human Development Report). Der letzte erschien im April vorigen Jahres mit einiger Verspätung, weil die USA die Veröffentlichung wegen der Kritik am Irak-Krieg und der israelischen Besetzung palästinensischer Gebiete zu verhindern suchten. Sie zeugen von einem deplorablen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Zustand der arabischen Welt, der sich kurz mit Stagnation und Entwicklungsblockade bezeichnen lässt. Von allen Weltregionen steht nur Afrika südlich der Sahara schlechter da. 1999 betrug das Bruttoinlandprojekt aller arabischen Staaten zusammen weniger als das Spaniens. Es gibt gravierende Defizite bei Ausbildung, Lehre und Forschung. Seit 1985 sinken die Zahlen der Studierenden. Von den fast 300 Millionen Menschen sind ca.70 Millionen Analphabeten, besonders hoch ist der Anteil bei den Frauen. Das sind natürlich Durchschnittswerte, von Land zu Land sind die Zahlen extrem unterschiedlich. Arbeitslosigkeit und soziales Elend nehmen zu. Zwei Drittel Menschen sind unter dreissig Jahre alt. Es besteht angesichts der heutigen Situation kaum Aussicht, in den nächsten fünfzehn Jahren etwa 100 Millionen neue Arbeitsplätze zu schaffen, um dem größten Teil der Jugendlichen eine berufliche Perspektive und einen gesicherten Lebensunterhalt zu gewährleisten. Die Folgen sind Radikalisierung, vor allem auf islamistischer Basis, und das Bestreben, dorthin zu emigrieren, wo sie mit Verbesserung ihrer Lage rechnen können. Hauptursachen sehen die Autoren in der Politik der herrschenden arabischen Regime, der fehlenden Demokratie, der Missachtung von politischen Freiheiten und Menschenrechten sowie der externen Gewalt, wie sie wie durch den Irak-Krieg auf die Region ausgeübt wird. Wenn dieser status quo andauert, sei mittelfristig eine explosive Verschärfung sozialer Auseinandersetzungen mit unberechenbaren Folgen zu erwarten. Um Stagnation, wirtschaftliche Rückständigkeit und soziale Missstände in der arabischen Welt zu überwinden, sind aus den Berichten drei Schlussfolgerungen zu ziehen. Erstens, die arabische Welt bedarf dringend der Demokratie, nicht vom Westen von außen aufgezwungen, wie es der amerikanische Präsident Bush betreibt, sondern als eigenständiger Entwicklungsprozeß. Zweitens, der Westen muß seine interventionistische Politik beenden und mit der islamischen Welt eine Politik des gleichberechtigten Dialoges, friedlicher Koexistenz und gemeinsamer Sicherheit verfolgen. Drittens, das Nahostproblem muß friedlich auf der Grundlage der UNO-Resolutionen, vor allem durch die Bildung eines unabhängigen und lebensfähigen palästinensischen Staates gelöst werden. Letzteres allein würde sicher nicht ausreichen um Demokratie und wirtschaftlichen Aufschwung sowie eine besseres Verhältnis des Westens zur er islamischen Welt zu fördern, würde aber eines der größten Hindernisse beseitigen.

USA-Politik im Dilemma zwischen Demokratieexport und Islamismus

Über die Notwendigkeit von mehr Demokratie gibt es seit einigen Jahren eine rege Diskussion in der arabischen Gesellschaft. Die im vorigen Jahr stattgefundenen Kommunalwahlen in Saudi-Arabien, Wahlen in Ägypten, die Parlamentswahlen in Libanon und begrenzte Liberalisierungsmaßn in einigen arabischen Ländern haben zu übertriebenen Erwartungen geführt. Ein Beobachter sprach in Anlehnung an den Titel des 1938 erschienen Buches des britischen Historikers George Antonius über den Unabhängigkeitskampf der Araber von einem neuen „Arabischen Erwachen". Aber es hat sich im Wesen autoritärer Machtausübung nichts geändert. Allerdings ist das Bestreben der USA –Administration im Gefolge des Irak-Krieges mit der sog. Greater Middle East Strategie, die auf dem G-8-Gipfel im Juni 2004 der „Partnership for Progress and a Common Future with the Region of the Broader Middle East and North Africa" zugrunde gelegt wurde, Demokratie in der Region zu fördern, nicht ohne Auswirkungen geblieben. Politische Kräfte, von Islamisten bis säkularen Nationalisten , die in Opposition zu den Regimes, Demokratie durch Druck „von unten" erreichen wollen. lehnen dieses Vorgehen als Fremdbestimmung und als Hegemoniebestreben über die Region ab. Auch die herrschenden Regime sind nicht sehr erfreut über äußeren Druck, der in deutlicher Weise von den USA z.B. gegenüber Ägypten und Saudi-Arabien ausgeübt wurde. Aber im Interesse der Machterhaltung - die USA wollen schließlich Destabilisierung von Staaten, die eng mit ihnen verbunden sind, vermeiden – werden in Ägypten, Saudi-Arabien und anderswo Reformen von oben durchgeführt, die eine gewisse Liberalisierung bedeuten, aber an der Substanz der Machterhaltung nichts ändern. Der Kronprinz von Dubai und Verteidigungsminister der Vereinigten Arabischen Emirate Rashid al Maktoum hat sehr treffend erklärt: „Arabische Regierungen müssen sich ändern, oder sie werden verändert." So wirkt diese Politik der „Demokratisierung" von aussen eher kontraproduktiv. Und schließlich geraten die USA in die Rolle eines Zauberlehrlings der die Geister, die er rief, nicht mehr los wird. Demokratische und unmanipulierten Wahlen, so wie die USA sie fordern, bringen im Nahen und Mittleren Osten gerade jene Kräfte – Islamisten - an die Macht, die vor allem nach dem 11.September 2001 im Rahmen des Antiterrorkrieges der USA in ein Feindbildvisier genommen wurden, auch wenn nur einige äußerst radikale Gruppen dieser umfassenden und weit gefächerten Bewegung zum Terrorismus greifen. In den palästinensischen Gebieten hat die Hamas, die auf der Terroristenliste der USA und der Europäischen Union steht, die Parlamentswahlen im Januar mit absoluter Mehrheit gewonnen. Im Irak mussten die USA, um der angestrebten Stabilisierung überhaupt eine Chance zu geben, mit den schiitischen Parteien und Kräften kooperieren, die dann bei den Wahlen auch die Mehrheit erreichten. Ihr Ziel ist eine islamische Republik. In Ägypten haben bei Parlamentswahlen im November vorigen Jahres Vertreter der Moslembrüder trotz zahlreicher Behinderungen ihre Abgeordnetenzahl im Parlament verfünffacht. So macht man sich in der USA-Administration und den ihr zuarbeitenden „Denkfabriken" jetzt durchaus Gedanken, wie man das Demokratiekonzept des Broader Middle East mit dem wachsenden politischen Gewicht von Islamisten in Einklang bringen kann. Doch nichts deutet darauf hin, dass die USA es riskieren wollen, dass in Ägypten, Saudi-Arabien, anderen Golf-Staaten oder Jordanien erklärte antiamerikanische Kräfte an die Macht kommen. Also bleibt ihnen der Weg, mit gelindem Druck diesen Regimes sorgfältig kontrollierte Reformen „von oben" anzuraten, damit sie nicht von unten verändert werden, wie der Kronprinz von Dubai befürchtet. Die politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen lassen, wie das Deutsche Orient-Institut Anfang dieses Jahres in einer umfangreichen Projektanalyse feststellte, demokratische Entwicklungen, die diesen Namen verdienen, im Nahen und Mittleren Osten in den nächsten fünf Jahren kaum zu.

* Dr. Heinz-Dieter Winter, Botschafter a.D., Mitglied des Nahost-Forums e.V. und des Verbandes für Internationale Politik und Völkerrecht e. V. Berlin

Zuerst veröffentlicht in: "Leipziger Neue" vom 24.02.2006

Quelle: Homepage des Verbands für Internationale Politik und Völkerrecht e.V. Berlin; www.vip-ev.de


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